Können chinesische Protestanten zur Modernisierung ihres Landes beitragen?
Am sechsten Tag schuf Gott die Schweiz mit ihren Bergen, Wiesen und Kühen. Dann sagte Gott zum ersten Schweizer: "Was kann ich noch für dich erschaffen?" "Ich hätte gern viel Milch!" sagte der Schweizer. Gott tat, wie er geheißen, und fragte ein wenig später: "Ist die Milch gut?" "Ja, wirklich! Probier' mal!" "Sie ist wirklich gut!" Nachdem er probiert hatte, fragte Gott: "Hättest du sonst noch gern irgendetwas?" "Ja!", sagte der Schweizer, "einen Franken achtzig für das Glas Milch!"
von Katrin Fiedler
Wäre ein solcher Schöpfungsbericht auch für China denkbar? Die protestantische Wirtschaftsethik wird, ebenso wie politische Erklärungen eines Zusammenhangs von Demokratie und Christentum, häufig zum Verständnis von Modernisierungsprozessen herangezogen. Der auf Max Weber zurückgehenden Theorie zufolge war die Entwicklung des Kapitalismus eng mit der Theologie bestimmter protestantischer Denominationen verbunden, etwa dem Schweizer Calvinismus. Webers These ist nicht nur weltweit rezipiert und weiterentwickelt worden, sie hat innerhalb der Psychologie auch zur Identifizierung eines eigenen Persönlichkeitstypus beigetragen der PWE oder protestant work ethic , die weit über den westlich-protestantischen Kulturraum hinaus nachgewiesen wurde. Die PWE weist zudem starke Ähnlichkeiten mit den als "typisch modern" geltenden Persönlichkeitsdaten auf.
Wäre dies also eine Möglichkeit für Chinas Christen, ganz legitim zur Modernisierung des Landes beizutragen? Typisch für die protestantische Wirtschaftsethik sind unter anderem ein gewollt bescheidener Lebensstil bei gleichzeitiger Bejahung des Gelderwerbs, die besondere Wertschätzung harter Arbeit, und eine Ablehnung des Müßiggangs.
Eine Fallstudie unter Schanghaier Protestanten kommt zu dem Schluss, dass eine typische protestantische Wirtschaftsethik dort nur in Einzelfällen anzutreffen ist und bei den Betreffenden vermutlich eher als Ergebnis einer persönlichen Disposition denn aufgrund der Lehre der Kirche entsteht. Zwar bemüht sich die offizielle Kirche, die staatliche Politik der Wirtschaftsförderung mitzutragen, doch viele Prediger an der Basis sind einem konservativ-fundamentalistischen Denken verhaftet, das im Streben nach Wohlstand die Gefahr des "Mammonismus", also der Geldgier sieht. Dementsprechend streng fallen ihre Anforderungen an die Schäfchen in der Gemeinde aus, beispielsweise ist der in Schanghai so beliebte Aktienhandel verpönt.
Die Lehre der Kirche bewegt sich also zwischen dem Postulat, als gute Staatsbürger müssten Christen fleißig arbeiten und am Aufbau des Landes mitwirken, und der Angst, zuviel Streben nach Erfolg und Wohlstand könnte den Glauben der Gemeindemitglieder negativ beeinflussen. Auch viele der befragten Christen waren der Ansicht, Arbeit zur Ehre Gottes und Einsatz für den eigenen Glauben seien vor allem durch ein aktives Gemeindeleben zu verwirklichen. Im Hinblick auf den Gelderwerb gab es ebenfalls demotivierend wirkende Einstellungen, etwa der Wunsch, "wie die Lilien auf dem Feld" auf Gottes Fürsorge zu vertrauen.
Dennoch weisen die Befragten zum Teil Einstellungen auf, die deckungsgleich mit der protestantischen Wirtschaftsethik sind, so die Vorstellung, dass Erfolg bei der Arbeit ein Zeichen ihrer Gottgefälligkeit ist. Umgekehrt zeigt sich bei einigen Befragten ein konstruktiver Umgang mit Erfahrungen des Scheiterns, auch dies eine "typisch protestantische" Einstellung im Sinne Webers.
Andere Elemente könnten funktionale Äquivalente der klassischen protestantischen Wirtschaftsethik im chinesischen Kontext sein. So manifestiert sich bei vielen chinesischen Christen ein Spannungsverhältnis zwischen dem materiellen Verlangen nach Reichtum und dem immateriellen Bemühen um ein "Leben in Fülle". Bereits Max Weber hatte im Spannungsverhältnis zwischen Innerweltlichkeit und außerweltlichem Streben einen der wesentlichen Motoren hinter der protestantischen Wirtschaftsethik erkannt. Hier könnte ein Ansatzpunkt für eine chinesische protestantische Wirtschaftsethik liegen. Für die Modernisierungswirksamkeit von Chinas Protestanten zeichnet diese Studie also ein ambivalentes Bild. In ländlichen Regionen dürften die konservativen und außerweltlichen Spurenelemente im Denken der Protestanten noch wesentlich deutlicher sein. Nicht zuletzt die Tatsache, dass die christlichen Kirchen in der Minderheit sind, wirft die Frage auf, inwiefern von Chinas Protestanten eine bedeutende gesamtgesellschaftliche Wirkung ausgehen kann.
Doch die Diaspora der Kirchen bedeutet für ihre wirtschaftliche Dynamik auch eine Chance. Aus anderen Zusammenhängen, etwa bei religiösen Minderheiten oder von Überseechinesen ist bekannt, dass derartige Gruppen besonders tragfähige wirtschaftliche Netzwerke bilden. Auch in China ist die Solidarität unter Christen in allen Lebensbereichen spürbar. Die Tatsache, dass Christen sich unter Nicht-Christen am Arbeitsplatz häufig unwohl fühlen oder auch bei den in China für Geschäftsbeziehungen notwendigen Aktivitäten wie Rauchen, Trinken, oder dem Besuch von Karaoke- Bars nur bedingt mithalten wollen, dürfte ein zusätzlicher Anreiz für die Bevorzugung christlicher Geschäftspartner sein.
Ein weiteres Potential schlummert in dem unter chinesischen Christen häufig anzutreffenden Elitebewusstsein. Gemeint ist hiermit die Vorstellung, nicht-christlichen Chinesen moralisch und spirituell überlegen zu sein. Und wer sich für moralisch oder geistig hervorragend hält, wird unter Umständen besonders hohe Ansprüche an sich stellen. Vielleicht findet sich ja in diesem Gefühl der Auserwähltheit Max Webers Gedanke der Prädestination im modernen Gewand wieder.
aus: der überblick 03/2007, Seite 109
AUTOR(EN):
Katrin Fiedler
Katrin Fiedler ist Koordinatorin des Interdisziplinären
Zentrums für Ostasienstudien
(Schwerpunktbereich China) an der Goethe-
Universität, Frankfurt a. M.