Das Weltsozialforum und die örtlichen Konflikte um Trinkwasser in Indien
"Wasser ist ein Menschenrecht!" war eine häufig gehörte Parole auf dem vierten Weltsozialforum Mitte Januar in der indischen Metropole Mumbai. Das lag unter anderem daran, dass an vielen Orten Indiens Einwohner gegen Getränkefabriken protestieren, die knappes Trinkwasser verbrauchen oder verschmutzen. Überhaupt wird das Recht auf Trinkwasser gerade in Indien vielfach missachtet.
von Christina Kamp
Die Forderungen stimmen weitgehend überein, aber die Ansätze, ihnen auf dem Weltsozialforum (WSF) Gehör zu verschaffen, könnten kaum unterschiedlicher sein: Oben hängt ein deutsches Banner "Wasser ist ein Menschenrecht und keine Ware" der Aktion "Brot für die Welt", darunter ruft eine Musikgruppe aus dem Bundesstaat Uttar Pradesh die Firmen Coca-Cola und Pepsi-Cola in Hindi auf, sich aus Indien zurückzuziehen. Wasser und Coca-Cola stehen in Indien in einem direkten politischen Zusammenhang. "Kein Wasser? Trinkt Coke!" titelte der Online-Infodienst India Together Mitte 2002. Denn in verschiedenen Regionen des Landes gräbt der Softdrink-Riese den Menschen vor Ort im Wortsinn das Wasser ab - und verletzt damit ein fundamentales Menschenrecht.
"Wie grausam auch immer die Herrscher im alten Indien gewesen sein mögen, sie haben doch immer sichergestellt, dass die Menschen Zugang zu Wasser hatten. Das ist das erste Mal, dass wir die Erfahrung machen, dass unser Wasser privatisiert wird", berichtete Nandlal, der junge Anführer der Dorfbevölkerung aus Mehdiganj in der Nähe von Varanasi, die ihren Kampf um Wasser und gegen Coca-Cola auf dem WSF so eindrucksvoll musikalisch untermauerte. Der Betrieb einer Coca-Cola-Fabrik habe dazu geführt, dass der Grundwasserspiegel drastisch gesunken sei. Schlamm, der bei der Limonadenproduktion als Abfall anfällt, sei nicht nur in den heiligen Ganges, sondern auch auf die angrenzenden Felder geleitet worden. Dadurch sei es zu schweren Schäden in der Landwirtschaft, zu einer Moskito-Plage und bei den Bauern zu Hautausschlag gekommen.
Im Mai 2003 begannen die Bauern sich zu wehren, mit ersten Protestaktionen vor dem Fabrikgelände. Inzwischen ist ihr Kampf Teil einer landesweiten Kampagne mit dem Ziel, Coca-Cola und andere multinationale Unternehmen für den Wasserklau und die Verseuchung von Wasser und Boden zur Rechenschaft zu ziehen. Durch das Weltsozialforum hat das People's Forum Against Coca-Cola (Volksforum gegen Coca-Cola) neue Stoßkraft und eine globale Dimension erhalten. International bekannte Aktivistinnen wie Medha Patkar und Vandana Shiva haben ihren Teil dazu beigetragen, den Betroffenen öffentliche Aufmerksamkeit zu verschaffen. Ein Zeichen der erfolgreichen Vernetzung: "Bei Getränkefabriken in Kerala und West-Bengalen konnte nachgewiesen werden, dass der Schlamm Kadmium und Blei enthält", argumentieren die Aktivisten aus Mehdiganj in ihrem Flugblatt - Bauern, die sonst kaum Möglichkeiten haben, ihr Leid in chemische Formeln zu fassen.
In der Tat gleichen sich die Bilder. In Plachimada, im Bundesstaat Kerala an der Grenze zu Tamil Nadu, haben die Bauern ähnliche Erfahrungen gemacht. Durch den Betrieb der Firma Hindustan Coca-Cola Beverages Pvt. Ltd. sei in einem Umkreis von fünf Kilometern der Grundwasserspiegel bedrohlich gesunken. Das noch vorhandene Wasser werde beim Erhitzen trüb oder milchig und eigne sich nicht mehr zum Trinken, Duschen oder Wäsche waschen, klagt Veloor Swaminathan, der Führer des Coca-Cola Virudha Janakeeya Samara Samithi (Komitee des Volkskampfes gegen Coca-Cola) in Plachimada. Proben von Schlamm, den die Betreiber der Fabrik anfangs als Düngemittel an die Bauern verkauft und dann kostenlos abgegeben hatten, wurden im vergangenen Jahr in Großbritannien chemisch analysiert. Wie die BBC berichtete, wurden dabei gefährliche Mengen krebserregender Substanzen festgestellt. Wissenschaftler der Universität Exeter bezeichneten die Ergebnisse als "besorgniserregend" und warnten vor "verheerenden Konsequenzen" für die betroffene Bevölkerung. In den Schlammproben seien relativ große Mengen an Kadmium und Blei gefunden worden, beide stark gesundheitsgefährdend. Auch die Nickel-, Chrom- und Zinkwerte seien deutlich erhöht.
Rund tausend Familien in Plachimada sind von akutem Wassermangel und von Wasserverschmutzung betroffen. Viele von ihnen gehören zu den ärmsten der indigenen Bevölkerungsgruppen Keralas. Dass der Reisanbau aufgrund der Wasserprobleme großflächig aufgegeben werden musste, trifft sie besonders hart, denn sie sind abhängig von der Lohnarbeit auf den Reisfeldern. Die Betroffenen fordern die Schließung der Coca-Cola-Fabrik, ein Strafverfahren gegen die Firma und Wiedergutmachung für alle Geschädigten. Bislang sind Versuche der Lokalverwaltung, die Fabrik schließen zu lassen, fehlgeschlagen. Nach einem vorläufigen Gerichtsbeschluss darf Coca-Cola nur noch so viel Wasser aus den Brunnen entnehmen, wie eine landwirtschaftliche Nutzung des Landes erfordern würde. Ob diese Auflage auch eingehalten wird, ist jedoch kaum überprüfbar.
So geht der Kampf der Kategorie "David gegen Goliath" weiter. Durch das Weltsozialforum in Mumbai hat er neuen Auftrieb bekommen. Direkt im Anschluss an das WSF fand in Kerala eine große internationale Wasserkonferenz statt, die zum Boykott der Produkte der Unternehmen Coca-Cola und Pepsi-Cola aufrief.
Doch so klar wie im Falle von Coca-Cola liegen die Wasserprobleme in Indien in den seltensten Fällen. Die meisten der Menschen ohne Zugang zu sauberem Trinkwasser, deren Anteil an der Weltbevölkerung die internationale Gemeinschaft bis zum Jahr 2015 halbieren will, leben nicht in unmittelbarer Nähe einer Getränkefabrik. Der oder die Schuldige an Wassermangel, Wasserverschmutzung oder eingeschränktem Zugang zu Wasser ist in der Regel nur schwer auszumachen. Selten ist es einer allein - und noch seltener ein multinationaler Konzern.
Das Programm der Vereinten Nationen (UN) zur Abschätzung der Wasservorkommen hat im vergangenen Jahr die Wasserqualität in 122 Ländern auf den Prüfstand gestellt. In seiner Rangliste, veröffentlicht im ersten Welt-Wasserentwicklungsbericht, landete Indien auf einem ganz und gar unrühmlichen 120. Platz. Nur Belgien und Marokko schnitten noch schlechter ab. Für die Rangfolge spielte auch eine Rolle, in wie weit die einzelnen Länder fähig und engagiert sind, ihre Situation zu verbessern.
Dass Indien damit Schwierigkeiten hat, zeigen nicht nur die Beispiele der Getränkefabriken. Auch in anderen Fällen, in denen wasserintensive Industrien genehmigt oder sogar gefördert werden, stellt die Regierung das Recht der Bevölkerung auf sauberes Trinkwasser hintan.
Auf dem Weltsozialforum beleuchteten "Brot für die Welt" und das "FoodFirst Informations- und Aktions-Netzwerk" (FIAN) zusammen mit kanadischen, indischen und weiteren Partnern die rechtlichen Grundlagen des Menschenrechts auf Wasser und seine praktische Relevanz. Ganz oben auf der Liste ihrer Forderungen steht die Anerkennung des Zugangs zu sauberem Wasser als Menschenrecht gemäß dem Internationalen Pakt für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte. Der Wirtschafts- und Sozialrat der Vereinten Nationen hat im November 2002 in seinem "Allgemeinen Kommentar Nr. 15" präzisiert, was darunter zu verstehen ist: "Das Menschenrecht auf Wasser schafft für jedermann den Anspruch auf ausreichendes, sicheres, akzeptables, physisch erreichbares und bezahlbares Wasser für persönliche und häusliche Zwecke." Dieser Kommentar gilt als offizielle Bestätigung des Menschenrechts auf Wasser durch die UN. Um das Menschenrecht auf Wasser völkerrechtlich bindend festzuschreiben, setzen sich die nichtstaatlichen Organisationen (NGOs) für ein Süßwasser-Übereinkommen im Rahmen der UN ein.
Auf dem Weltsozialforum wies Miloon Kothari, der Sonderberichterstatter der UN-Menschenrechtskommission zu Fragen des angemessenen Wohnraums, auf die Bedeutung des "Allgemeinen Kommentars Nr. 15" für die Durchsetzung des Menschenrechts auf Wasser hin: "Den Slogan zu verwenden ist eine Sache. Doch der Allgemeine Kommentar spezifiziert, was Regierungen tun können und tun sollen. Wir können ihn als Advocacy-Instrument nutzen."
Um diese Brücke zu schlagen, hatten FIAN International und "Brot für die Welt" kurz vor dem Weltsozialforum Recherchereisen (Fact Finding Missions) in drei verschiedene Regionen Indiens organisiert, darunter nach Plachimada (Kerala) und Tamil Nadu. Der Besuch führte auch in die Nähe von Delhi, wo die Sonia Vihar Water Treatment Plant privatisiert werden soll, und nach Orissa, wo die Trinkwasserversorgung von Dorfgemeinschaften durch den Bauxit-Abbau gefährdet ist. Die Beteiligung von Wasserfachleuten aus verschiedenen Teilen der Welt, darunter aus Sri Lanka, den Philippinen, Ghana und Deutschland, soll dazu beitragen, die Verletzungen des Menschenrechts auf Wasser in Indien international bekannt zu machen.
"Brot für die Welt" und FIAN bekämen immer wieder Briefe von lokalen Gemeinschaften, die auf schwere Menschenrechtsverletzungen hinwiesen, doch es gebe nicht genug Informationen dazu, begründete Danuta Sacher von "Brot für die Welt" die Fact Finding Missions. Die Ergebnisse der Recherchen wollen die Organisatoren mit den rechtlichen - nationalen wie internationalen - Verpflichtungen Indiens abgleichen, das Recht auf Wasser zu gewährleisten. Dadurch soll im Detail festgestellt werden, welche Rechte verletzt sind. Die Erkenntnisse sollen sowohl in die Lobbyarbeit auf UN-Ebene einfließen als auch den betroffenen Gemeinschaften zur Verfügung gestellt werden.
In zwei Wasserveranstaltungen auf dem Weltsozialforum präsentierten die beteiligten Wasserfachleute erste Eindrücke aus den besuchten Gebieten. Am Beispiel Tamil Nadu wurde deutlich, dass zuweilen verschiedene Grundrechte miteinander in Konflikt stehen können, wie das Recht auf eine angemessene Lebensgrundlage und das Recht auf sauberes Trinkwasser: In der "T-Shirt-Stadt" Tiruppur arbeiten viele Menschen in den Textilfabriken. Diese jedoch beeinträchtigen die Wasserversorgung in der Region.
Außerdem bestehen nicht nur Konflikte zwischen industrieller Wassernutzung, landwirtschaftlicher Bewässerung und dem Wasserbedarf der Haushalte, sondern auch zwischen gleichartigen Nutzergruppen am Ober- und Unterlauf von Flüssen. Da Tiruppur mit seinen vielen Textilfabriken den Wasserbedarf nicht mehr aus Grundwasser und aus dem Fluss Bhavani decken kann, soll im Rahmen einer Partnerschaft zwischen Behörden und Unternehmen (Public-Privat Partnership) Wasser aus dem 55 Kilometer entfernten Cauvery nach Tiruppur geleitet werden. Doch für die 40 Kilometer flussabwärts gelegene Stadt Erode, die ihr Wasser aus dem Cauvery bezieht, sind schädliche Auswirkungen zu befürchten.
Leider waren an den Präsentationen der Fallstudien die Betroffenen nicht beteiligt. "Stehlt den Menschen vor Ort niemals die Schau! Kein noch so eloquenter Redner kann die Menschen von der Basis ersetzen", forderte Gaim Kebreab vom norwegischen Hilfswerk Norwegian Church Aid mit Bezug auf die Sitzung der UN-Kommission für nachhaltige Entwicklung (CSD), die sich im kommenden April in New York mit dem Thema Wasser auseinandersetzen wird. Dass seine Forderung noch viel mehr für das Weltsozialforum gelten muss, wurde nicht nur in den Wasserveranstaltungen deutlich. Auch in anderen Veranstaltungen auf dem WSF stellte sich die Frage: "Wen vertreten wir eigentlich?" Das Forum findet nicht ohne Grund bisher immer in einem Land des Südens statt. Im Mumbai hätte man gerade zu den indischen Fallstudien relativ einfach die Betroffenen zu Wort kommen lassen können.
Der Kampf gegen den Wasserklau und die Wasserverseuchung in Indien wurde bislang an der Basis ausgefochten. "Unsere Regierung ist blind gegenüber den Problemen geworden", sang die Musikgruppe aus Mehdiganj auf dem Forum vor dem deutschen Banner, das ihr Anliegen unterstützen soll. Wenn es durch weiteren Druck "von unten" nicht gelingt, den Politikern die Augen zu öffnen, so werden vielleicht der globalisierte Protest und das internationale Menschenrechtsinstrumentarium dazu beitragen.
Literatur
Eine-Welt-Presse: "Tropfen auf den heißen Stein?" Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen (DGVN), Berlin 2003.
Nityanand Jayaraman: No water? Drink Coke!; India Together, Juni 2002 (http://www.indiatogether.org).
World Water Development Report 2003. Water for People - Water for Life. UNESCO, Paris 2003.
aus: der überblick 01/2004, Seite 138
AUTOR(EN):
Christina Kamp:
Christina Kamp ist freie Journalistin und Übersetzerin mit Schwerpunkt Entwicklungspolitik.