Marokkos Frauen haben Zugang zu Arbeit und Bildung, sind aber rechtlich Menschen zweiter Klasse
In kaum einem anderen arabischen Land sind Frauen so stark auf dem Arbeitsmarkt und im Bildungswesen vertreten wie in Marokko. Doch das Familienrecht des Landes gehört zu den konservativsten in der islamischen Welt. Trotz des Aufschwungs der marokkanischen Frauenbewegung in den neunziger Jahren läßt die rechtliche Besserstellung der Frau weiter auf sich warten. Nun hat der Amtsantritt des Königs Mohammed VI. im August dieses Jahres neue Hoffnungen geweckt.
von Martina Sabra
An einem Seminar für Frauen in Führungspositionen in Casablanca nehmen zwei Dutzend Frauen teil, darunter die Dekanin einer rechtswissenschaftlichen Fakultät, die Vorsitzende des marokkanischen Apothekerverbandes, eine Staatssekretärin, eine international bekannte Verlegerin, die gutbetuchte Vorsitzende eines Unternehmerinnenverbandes und eine Oberärztin. All diese Frauen brauchen nach dem marokkanischen Recht die schriftliche Genehmigung ihres Ehemannes, um einen Paß zu beantragen und eine Dienstreise ins Ausland zu machen. Wollten sie heiraten, müßte ein männlicher Vormund die Eheschließung vollziehen. Wenn ihre Eltern sterben, werden sie nur halb so viel erben wie ihre Brüder.
Ein ganz anderes Beispiel: In der Medina, der Altstadt von Tanger, lebt Rukia Salim (Name geändert) mit ihren beiden acht und zehn Jahre alten Söhnen in einer winzigen Wohnung. Vor einigen Jahren hat sie sich von ihrem Mann, einem Tunesier, scheiden lassen und ist nach Marokko zurückgekehrt. Jetzt näht Rukia in einer Kleiderfabrik unten am Hafen Mäntel und Jacken für den deutschen Markt. Für 60 Stunden Arbeit die Woche erhält sie im Monat umgerechnet 350 Mark brutto. Obwohl sie zum Leben das Dreifache bräuchte, kommt Rukia irgendwie durch, wie viele Marokkanerinnen. Eins macht sie allerdings wütend: "Ich zahle zwar Steuern und Abgaben, aber meine Söhne haben kein Recht, kostenlos eine marokkanische Schule zu besuchen." Denn Rukias Söhne sind keine Marokkaner. Sie sind in Tunesien geboren, ihr Vater ist Tunesier, und nach marokkanischem Recht kann Rukia als Frau ihren Söhnen nicht ihre eigene Staatsbürgerschaft vererben.
Ob arm oder reich, alle Frauen in Marokko sind von den Auswirkungen des Personenstandsrechtes betroffen, der Mudawwana. Sie beruht auf einer extrem frauenfeindlichen Lesart der Scharia, des islamischen Rechts. Danach darf zum Beispiel der Mann gleichzeitig mit mehreren Frauen verheiratet sein und die Frau jederzeit verstoßen. Dieses Recht dient quer durch alle Schichten und Klassen als Druckmittel, um die Frau zu Gehorsam zu zwingen.
Die Mudawwana widerspricht der marokkanischen Verfassung von 1962, die die Gleichberechtigung von Mann und Frau vor dem Gesetz vorsieht. Und sie paßt schon längst nicht mehr zur tatsächlichen gesellschaftlichen Situation der Frauen in Marokko, die sich faktisch weit stärker emanzipiert haben als in vielen anderen arabisch-islamischen Ländern. Mit 30 Prozent ist der Anteil berufstätiger Frauen in Marokko sehr hoch, ebenso der Anteil weiblicher Haushaltsvorstände mit 18 Prozent. In den Städten machen Frauen ein Drittel der Erwerbstätigen aus. Vergleichsweise hoch ist auch der Anteil der weiblichen Schüler und Studenten: An den Oberschulen sind 40 Prozent der Lernenden Mädchen, an den Universitäten liegt der Anteil von Frauen bei über 30 Prozent.
Doch der Staat - im Bunde mit den extrem konservativen religiösen Rechtsgelehrten (Ulema) und in jüngerer Zeit auf Schmusekurs mit einem Teil der Islamisten - hat bislang alle Reformbestrebungen entschlossen abgeschmettert. König Hassan II. hat bis zu seinem Tod in diesem Jahr die religiöse Verankerung der politischen Herrschaft verstärkt. Der König ist "Führer der Gläubigen" und damit die höchste religiöse Autorität. Die meisten marokkanischen Gesetze sind zwar weltlich, doch das politische System und die Familien- und Personenstandsgesetze basieren auf dem islamischen Recht, der Scharia. Jedes frauenpolitische Anliegen steht damit von vornherein in einem heiligen, von Tabus gekennzeichneten Kontext.
Hassan II. hat nach seinem Machtantritt 1962 ein autokratisches, feudales Herrschaftssystem eingerichtet, welches jeden Widerspruch, auch den der Frauen, im Keim erstickt. Die Marokkaner waren und sind in erster Linie Untertanen - Gott und ihrem König zu absolutem Gehorsam verpflichtet. Individuelle Rechtsansprüche, auch geringe Änderungen der Mudawwana zugunsten der Frau, hätten das ganze System der Hassanschen Demokratie" in Frage gestellt, an dessen Spitze außer der königlichen Familie eine relativ kleine Anzahl sehr wohlhabender Familien steht. Als Führer der Gläubigen" hatte der König die Frauenfrage zu seinem ureigenen Ressort erklärt. Im Gegensatz zu anderen modernen arabischen Staatsmännern, die ebenfalls in der Frauenfrage die Entscheidung beanspruchten (Bourguiba, Nasser, Atatürk), zeigte Hassan II. jedoch keinerlei Reformeifer.
Doch während die marokkanischen Institutionen so unerschütterlich zu sein scheinen wie die Festungsmauern von Rabat, haben sich die Beziehungen zwischen den Geschlechtern und die gesellschaftliche Stellung der Frau in Marokko zumindest in den Städten radikal gewandelt. Frauen hatten früher in den ländlichen Gebieten mehr Bewegungsfreiheit und gewisse Mitspracherechte bei der Heirat und Scheidung. In den Städten hingegen verbrachten die Marokkanerinnen bis in die vierziger Jahre dieses Jahrhunderts den größten Teil ihres Lebens im Haus, eingeschlossen hinter Mauern. Das hat sich geändert, und die Wurzeln dieser Entwicklung liegen in der Bildungspolitik. Ähnlich wie in anderen arabischen Ländern hat auch in Marokko die Unabhängigkeitsbewegung die Schulbildung für Frauen forciert. Wollte Marokko sich zu einem modernen, unabhängigen Staat entwickeln, dann mußten die Frauen - als Erzieherinnen künftiger Generationen - eine zeitgemäße Ausbildung erhalten.
Die erste Schule für muslimische Mädchen öffnete ihre Tore 1931, und 1937 entstand in Fès die erste höhere Schule für die Töchter muslimischer Notabeln. Der Sultan und spätere König Mohammed V. wurde nicht müde, der Öffentlichkeit seine hochgebildete Tochter Lalla Aicha zu präsentieren, die 1945 als eine der ersten Marokkanerinnen das Abitur machte und selbst Auto fuhr. In den fünfziger Jahren schickte der Monarch begabte junge Marokkanerinnen zum Studium ins Ausland, die als Ärztinnen und Pharmazeutinnen zurückkehrten. Die marokkanischen Religionsgelehrten wetterten: Bildung für Frauen - das ist, als ob man eine ohnehin giftige Viper mit noch mehr Gift füttert." König Mohammed V. soll daraufhin erklärt haben, er sei nicht der Sohn einer Viper"; außerdem sei seiner Meinung nach die Vernunft das beste Gegenmittel gegen Schlangengift".
Die 1941 gegründete Istiqlal-Partei, die nach der Unabhängigkeit zunächst wichtigste politische Kraft neben dem König, war dagegen konservativ und strebte die Rückkehr zu den Fundamenten eines Frühislam an - oder zu ihrer Vorstellung davon. Obwohl die Frauenkomitees der Istiqlal-Partei, die Schwestern der Reinheit", die Abschaffung der Polygamie und die Heraufsetzung des Mindestheiratsalters auf 16 Jahre forderten, brachte das Familienrecht, das von 1957 bis 1959 nach und nach verabschiedet wurde, keine Neuerungen. Die Polygamie blieb bestehen, ebenso wie das einseitige Recht des Mannes auf Scheidung durch Verstoßen. Nur unter sehr eingeschränkten Bedingungen oder wenn sie sich freikaufte, konnte die Frau von sich aus die Scheidung einreichen.
Einige Marokkanerinnen hielten jedoch die Tatsache, daß das islamische Personenstandsrecht überhaupt kodifiziert und damit theoretisch einklagbar wurde, für einen Fortschritt und feierten den erzkonservativen Führer der Istiqlal, Allal El-Fassi, als Helden der marokkanischen Frauenbefreiung. Daß die konservative Mudawwana 1956 ohne große Widerstände verabschiedet wurde, erklärt die feministische Autorin Zakia Daoud nicht zuletzt mit unterschiedlichen Prioritäten der gesellschaftlichen Klassen: Wohlhabende Frauen und Angehörige der Mittelklasse fanden das Ehe- und Scheidungsrecht zunächst nicht so wichtig wie Bildung und Beruf."
Immer mehr Frauen aus der Mittelschicht strebten in den fünfziger Jahren nach Bildung und Berufstätigkeit, was durch das kostenlose Bildungsangebot des Staates für Mädchen und die 1963 eingeführte Schulpflicht erleichtert wurde. Zur gleichen Zeit gab es in den marokkanischen Lebensmittel- und Textilfirmen bereits über 100.000 Arbeiterinnen. Dieser soziale Wandel fand auch ein politisches Echo: Seit 1961 erschien in der Zeitung L'Avant-Garde der Gewerkschaft Union Marocaine du Travail (UMT) eine Frauenseite, die ausführlich über die Situation von Arbeiterinnen berichtete - zum Beispiel in den Fischfabriken von Safi und Agadir, wo die Frauen ihre Kinder bei der Arbeit auf dem Rücken trugen und selbst so einfache Dinge wie Arbeitskittel und Gummistiefel hart erkämpfen mußten.
1962 entwickelte sich in Casablanca aus diesem Zusammenhang die gewerkschaftsnahe Union Progressiste des Femmes Marocaines (UFPM, Fortschrittliche Union marokkanischer Frauen). Sie betonte den Beitrag der Frauen zur Entwicklung des Landes und forderte deren offizielle Anerkennung ein. Weitere Ziele waren bessere Arbeitsbedigungen und die Koordination der frauenpolitischen Arbeit in Marokko. Die UFPM solidarisierte sich mit den Frauen im gerade unabhängig gewordenen Algerien, baute ein internationales Netzwerk auf und hielt insgesamt 20 Regionalkongresse in größeren marokkanischen Städten ab - ein erster Höhepunkt der marokkanischen Frauenbewegung. Nach drei Jahren wurde die UFPM aufgelöst, und die aufkeimende marokkanische Frauenbewegung fiel in eine Art Winterschlaf. Das hing mit politischen Veränderungen in Marokko zusammen. 1965, nach der Niederschlagung der Aufstände in Casablanca, verschärfte sich die staatliche Repression. In dieser Situation betrachteten die Gewerkschaften es als vorrangig, für allgemeine Demokratie zu kämpfen und stellten die Förderung der Frauen zurück. Außerdem begann mit staatlicher Unterstützung eine immer stärkere Islamisierung des öffentlichen Lebens, obwohl 70 Prozent der Marokkanerinnen sich 1967 für Monogamie und 40 Prozent für die freie Wahl des Ehepartners aussprachen. 1968 wurde das wegen seiner oppositionellen, linksorientierten Studentenschaft bekannte Institut für Soziologie in Rabat geschlossen und später islamisiert. Jeder Angriff auf die Religion wurde als Angriff auf die öffentliche Ordnung verboten und empfindlich geahndet.
Anfang der siebziger Jahre schien das politische Klima noch weniger geeignet, eine feministische Bewegung entstehen zu lassen. Zweimal entging König Hassan II. wie durch ein Wunder einem Putsch der Armee, das Land war geschüttelt von Hungeraufständen und Studentenunruhen. 1973 wurde eine unabhängige Studentengewerkschaft, der eine Reihe heute prominenter Feministinnen angehörten, verboten. 1975 nahm die Repression im Zusammenhang mit der Besetzung der Westsahara erneut zu.
Dennoch fanden die internationalen feministischen und frauenpolitischen Debatten in Marokko ein erstes Echo, vor allem im Kontext der Weltfrauenkonferenzen in Mexiko 1975 und Nairobi 1985. Einzelne Zeitschriften, deren Verlegerinnen zu den wichtigsten Vertreterinnen der Frauenbewegung zählten, boten sich als Foren an und veröffentlichten Texte zu frauenpolitischen Themen. Damit zogen sie sich den Unmut der Behörden zu.
Eine Schlüsselfigur der Frauenbewegung in Marokko ist Fatima Mernissi. Die Professorin an der Universität von Rabat hat seit Beginn der siebziger Jahre wichtige sozialwissenschaftliche Studien über die Situation marokkanischer Arbeiterinnen sowie über Frauen im Islam veröffentlicht, die eine ganze Generation zorniger junger Frauen inspiriert haben. Mernissis einfallsreiche Art, Tabus zu brechen, ohne sich angreifbar zu machen, machte vielen jungen Frauen Mut.
In den siebziger und achtziger Jahren war die Frauenbewegung in Marokko geprägt von Vermeidungsstrategien, um der direkten Konfrontation mit dem Staat zu entgehen - so die Bilanz Zakia Daouds. "Aber dahinter vollzog sich ein wichtiger Reifungsprozeß", der ab Mitte der achtziger Jahre die ersten Früchte trug. Dazu trugen unter anderem internationale Faktoren bei wie die Vorbereitung auf die Weltfrauenkonferenz in Peking 1995 und die wachsende Verfügbarkeit internationaler Hilfsgelder für Frauenprojekte. Aber auch innenpolitische und wirtschaftliche Aspekte spielten eine Rolle: Marokko ist hochverschuldet und hängt am Tropf des Internationalen Währungsfonds (IWF), der dem Königreich 1983 ein langfristiges Strukturanpassungsprogramm verordnet hat. Die damit verbundenen Kürzungen von Sozial-leistungen haben 1983 und 1984 zu zahlreichen Brotunruhen geführt. Die politische Stabilität Marokkos war prekär; neue Handlungsräume für die sogenannte Zivilgesellschaft waren unumgänglich. Von diesem Trend profitierten auch die Frauenvereinigungen in Marokko.
1985 gründet die Sozialarbeiterin Aicha Ech-Chenna die Selbsthilfeorganisation Solidarité Féminine in Casablanca. Sie gibt unverheirateten Müttern Arbeit und kämpft gegen die allmächtige h'schouma (Schande), die es so schwer macht, ein Tabuthema anzusprechen wie außereheliche Sexualität oder Gewalt gegen Frauen und Mädchen. Solidarité Féminine macht sich auch gegen die Ausbeutung von minderjährigen Hausangestellten stark, deren Zahl in Marokko in die Hunderttausende geht.
In anderen Gruppen schließen sich Unternehmerinnen, Künstlerinnen, Journalistinnen oder Historikerinnen zusammen. In dieser Zeit bilden sich auch zahlreiche frauenpolitische Vereinigungen, die aus linken Parteien und Gewerkschaften hervorgehen. Sie stehen bald an der Spitze der Frauenbewegung. Der Vorteil der parteinahen Gruppierungen ist, daß sie die Infrastruktur der Mutterpartei nutzen können, um für ihre Ziele zu mobilisieren. Die Parteinähe hat allerdings Nachteile, wenn es darum geht, eigene Positionen zu formulieren und zu vertreten. Immer wieder kommt es vor, daß die Frauen im entscheidenden Moment von der Mutterpartei zurückgepfiffen werden.
In den neunziger Jahren probieren die marokkanischen Feministinnen neue Aktionsformen aus, die sie zum Teil in anderen Teilen der Welt abgeschaut haben. 1992 gelingt es der Union de l'Action Féminine (UAF) im Vorfeld des Verfassungsreferendums, binnen weniger Monate eine Million Unterschriften für die Reform des Familienrechts zu sammeln. Die UAF fordert die Abschaffung oder Kontrolle der Polygamie, die gerichtliche Ehescheidung anstelle des Verstoßens, ein unveräußerliches Recht der Frauen auf Bildung und Berufsausübung, die Volljährigkeit und juristische Autonomie der Frau mit 21 Jahren gemäß der marokkanischen Verfassung sowie eine Frauenquote von 20 Prozent in allen Vereinigungen.
Das Thema, das der marokkanischen Frauenbewegung in den neunziger Jahren entscheidende neue Handlungsräume und einen direkteren Zugang zu den alltäglichen Problemen der Frauen aus allen Schichten eröffnet, ist die Gewalt gegen Frauen. Drei Beratungszentren für betroffene Frauen eröffnen in Casablanca und Rabat ihre Pforten. Im Frühjahr 1996 veranstaltet die UAF in Rabat ein Tribunal gegen das Scheidungsrecht", bei dem betroffene Frauen zum ersten Mal öffentlich und für die Medien über ihre Schicksale berichten. 3000 Frauen sind anwesend. Wenige Wochen später veranstalten die gewerkschaftsnahe Association Marocaine des Droits des Femmes (ADFM, Marokkanische Vereinigung für Frauenrechte), der unabhängige Frauennotruf Centre d'Ecoute und Solidarité Féminine in Casablanca ein öffentliches und sehr medienwirksames Tribunal gegen Gewalt gegen Frauen, bei dem rund 500 Frauen anwesend sind. Eine exorzistische Übung" nennt ein marokkanischer Journalist die teilweise aufwühlenden Berichte der von Gewalt betroffenen Frauen. Im November 1998 veröffentlicht der Frauennotruf das erste Buch über sexuellen Mißbrauch von Kindern in Marokko.
Der Aufschwung der Frauenbewegung in Marokko wird begleitet von einer zunehmend grenzübergreifenden Orientierung: Schon seit den achtziger Jahren gibt es enge Kontakte zwischen Feministinnen in Algerien, Tunesien und Marokko. 1991 gründet die ADFM zusammen mit tunesischen und algerischen Partnerorganisationen in Rabat das Collectif Maghreb Egalité 1995. Ziel des Kollektivs ist die Ausarbeitung eines einheitlichen maghrebinischen Personenstandsrechtes, das sich eng an das tunesische Beispiel anlehnen soll - eine sehr liberale Auslegung der islamischen Rechtsquellen. Ein anderes Netzwerk, in dem marokkanische frauenpolitische Vereinigungen vertreten sind, ist seit 1993 der Zusammenschluß unabhängiger arabischer Frauenorganisationen Aisha.
Trotz des Gründungsbooms in der Frauenbewegung, trotz beharrlicher politischer Arbeit und internationaler Netzwerke - die marokkanischen Feministinnen wirken wie die Hamster im Rad. Jeder Vorstoß in Richtung Reformen wird von den Ulema und den Islamisten, die sich im Aufwind fühlen, vehement bekämpft. Die rechtlichen Fortschritte bleiben winzig und die vereinzelten, meist zeitlich begrenzten politischen Konzessionen der Machthaber in den neunziger Jahren sind eher dazu gedacht, dem Westen Modernität vorzuspiegeln als in der eigenen Bevölkerung Signale zu setzen. So ernennt König Hassan in der zweiten Jahreshälfte 1997, nach der Auflösung des Parlaments und vor den Wahlen, vier Ministerinnen, von denen jedoch nach der Wahl keine im Amt bleibt.
Große Hoffnungen knüpfen die marokkanischen Feministinnen im Frühjahr 1998 an den neuen Premierminister Abderrahman Youssoufi. Schon kurz nach ihrem Amtsantritt präsentiert die Regierung Youssoufi einen mit der Weltbank abgestimmten Aktionsplan, der eine größere Berücksichtigung von Frauen bei der Entwicklung von Ausbildungsprogrammen und rechtliche Verbesserungen für Frauen vorsieht. Während das Parlament die ökonomischen und sozialen Punkte ohne Probleme annimmt, lösen die geplanten Rechtsreformen heftigen Widerstand vor allem in Kreisen der Ulema und bei den islamistischen Abgeordneten aus. Nach dem Tod König Hassans wird der Plan zunächst auf Eis gelegt.
Der Amtsantritt von Hassans Sohn Mohammed VI. weckt dann neue Hoffnungen auf baldige und grundlegende Reformen zugunsten der Frauen. In seiner Thronrede vom 20. August 1999 stellt der neue König fest, daß die Rechte der Marokkanerinnen mißachtet würden.
Allerdings macht er auch deutlich, daß jede Reform des Familienrechts mit den islamischen Rechtsquellen vereinbar sein müßte. Angesichts des in Marokko verbreiteten Traditionalismus und des Beharrungsvermögens der konservativen politischen Kräfte wird Mohammed VI. auf jeden Fall viel Zeit und Mühe brauchen, um Veränderungen durchzusetzen - wenn er sie denn durchsetzen will.
Welche Zukunft hat die Frauenbewegung in Marokko? Ohne Zweifel ist sie dynamischer und unabhängiger denn je. Die Frauenfrage war nie so aktuell wie heute. Doch die Aufgaben, vor denen sie steht, sind beachtlich. Viele Organisationen und Projekte sind von ausländischer Unterstützung abhängig, und daß einige europäische Geldgeber die Hilfe nach dem Gießkannenprinzip verteilen, schadet mehr als es nutzt. Hinzu kommt, daß die aus den linken Oppositionsparteien hervorgegangenen Frauenvereine nicht wirklich unabhängig sind, auch wenn sie zunehmend an Autonomie gewinnen. Schwierig ist auch die Zusammenarbeit unterschiedlicher Organisationen und die Entwicklung langfristiger gemeinsamer Strategien. Denn in der marokkanischen Gesellschaft ist die Tendenz stark ausgeprägt, sich aufgrund von Klassen-, Familien- oder Parteizugehörigkeit voneinander abzugrenzen.
Selbst wenn die Frauenbewegung Gesetzesreformen erwirken kann, stellt sich immer noch die Frage nach deren Umsetzung. So müssen marokkanische Ehemänner ihre Ehefrauen nach geltendem Recht informieren, wenn sie eine zweite Frau heiraten. Doch eine Umfrage der Zeitschrift Femmes du Maroc im Jahr 1998 ergab, daß die meisten islamischen Gelehrten, die die Eheschließung vornehmen dürfen, von dieser Regelung nichts wußten oder sie bewußt mißachteten. Auch die meisten Richter urteilen grundsätzlich zugunsten des Mannes.
In jüngster Zeit ist die Konfrontationsbereitschaft der Islamischen Bewegung gewachsen - sowohl gegenüber dem Staat als auch gegenüber Feministinnen. Es ist denkbar, daß der Staat in dieser Situation verstärkt auf die Frauenbewegung als Bündnispartnerin setzen wird. Auf der einen Seite die Islamisten, die die angeblich verwestlichten" Feministinnen als Feindbild benutzen, um ihre Ideologie besser zu vermarkten - auf der anderen Seite ein autoritärer Staat, der in den Feministinnen willkommene Bündnispartnerinnen gegen die Islamisten sieht: Man darf gespannt sein, wie die Frauenbewegung in Marokko dazwischen ihren Weg finden wird.
aus: der überblick 04/1999, Seite 59
AUTOR(EN):
Martina Sabra:
Martina Sabra ist freie Journalistin. Sie befaßt sich vorwiegend mit Frauenalltag und Frauenbewegung in arabischen Ländern. Seit 1995 begleitet sie im Auftrag der Heinrich-Böll-Stiftung Frauenprojekte in Nordafrika.