Christliche Minderheiten in Zentralasien
Nachdem der offizielle Atheismus der Sowjetunion überstanden war, hatten es die nicht-orthodoxen christlichen Gemeinden in den neuen zentralasiatischen Republiken dank eines liberalen Religionsrechts leichter. Doch unter dem Druck einer taktischen Allianz zwischen Islam und Orthodoxie und angesichts der Furcht der Regierungen vor der Politisierung des Islam verschlechterte sich ihre Lage in einigen Republiken wieder.
von Sébastien Peyrouse
Die Bevölkerung in den fünf Staaten Zentralasiens hängt mehrheitlich dem muslimischen Glauben an. Zahlreiche europäische Minderheiten in den Ländern bekennen sich allerdings zum christlichen Glauben. Ihre Zahl hat sich mit den Bevölkerungsverschiebungen verändert. Viele Russen, Ukrainer, Belorussen, Polen und Deutsche haben nämlich seit Anfang der 1970er Jahre Zentralasien verlassen; die Abwanderung verstärkte sich in der Zeit der Perestroika und nach der Unabhängigkeit. Heute leben immer noch fast fünf Millionen Russen in Zentralasien, vor allem in Kasachstan, daneben Weißrussen und Ukrainer. Nach Angaben des Auswärtigen Amtes lebten im Jahr 2004 in Kasachstan 232.526 Deutschstämmige (1989 war es noch ungefähr eine Million) und in Kirgisistan 15.000. Andere Völker überwiegend christlichen Glaubens sind in Kasachstan ebenfalls vertreten, wenngleich in noch bescheidenerem Maße: Polen (unter 50.000) Koreaner (rund 300.000), Griechen, Armenier sowie einige christliche Tataren.
Diesen Völkern verdankt das Christentum in Zentralasien seine reiche Vielfalt. Neben der Russisch-Orthodoxen Kirche und einigen Splittergruppen von Altgläubigen sind alle wichtigen christlichen Konfessionen vertreten, von der katholischen Kirche bis zu den zahlreichen protestantischen Strömungen wie der Lutheraner, Baptisten, Mennoniten, Pfingstler, Presbyterianer. Daneben gibt es die aus christlich-protestantischen Ursprüngen hervorgegangene Adventisten des siebten Tages und Zeugen Jehovas.
Es ist schwierig, die genaue Zahl der Gläubigen zu ermitteln. In Volkszählungen wurden die Menschen nicht nach ihrer Religion gefragt. Die Schätzungen werden dann aus der Volkszugehörigkeit abgeleitet, was angesichts des verbreiteten Atheismus problematisch ist. Die Zählungen erfassen folglich nicht die Einheimischen, die zu anderen Glaubensrichtungen übergetreten sind. Das dürften einige Zehntausende, vielleicht sogar hunderttausend Menschen sein, vor allem Kasachen und Kirgisen.
Einwanderer brachten im 19. Jahrhundert die meisten dieser Konfessionen mit, zur Zeit der Kolonisierung durch das russische Zarenreich. In der Sowjetzeit mussten sie den Druck und die Repressalien des offiziellen Atheismus aushalten. Erst die Perestroika brachte Ende der achtziger Jahre eine bis dahin ungekannte religiöse Freiheit, die in der Errichtung oder Instandsetzung tausender Moscheen und hunderter Kirchen ihren Ausdruck fand.
Nach der Unabhängigkeit war jeder Staatschef darum bemüht, die Religion zu rehabilitieren, um das Image des sowjetischen Apparatschicks loszuwerden. Die neuen Verfassungen und religionsbezogenen Gesetzgebungen garantieren nun Glaubensfreiheit. Der Staatsatheismus wurde abgeschafft, die Religionsausübung ist jedem freigestellt. Niemand darf wegen seiner religiösen Zugehörigkeit benachteiligt werden. In den einzelnen Verfassungen ist die Trennung von Staat und Religion verankert. Die zahlenmäßige und symbolische Vorherrschaft des Islam bedeutet zumindest offiziell keine Diskriminierung der übrigen vertretenen Religionen und Konfessionen. Auch der Islam ist Privatangelegenheit der Gläubigen, die Begriffe Islam oder Koran kommen in den Verfassungstexten nicht vor.
Die Trennung von Kirche und Staat, auf die sich alle zentralasiatischen Staaten berufen, soll also verhindern, dass religiöse Minderheitsbewegungen wie das Christentum zugunsten des Islam geächtet werden. Die Führer der neuen Staaten haben sich außerdem in mündlichen und schriftlichen Verlautbarungen dafür ausgesprochen, dass Islam und Christentum friedlich miteinander umgehen. Nicht-Muslime sind mit keinem minderwertigen Status belegt. Juristisch entsprechen die Länder Zentralasiens also nicht den Modellen, die in vielen Ländern des Nahen und Mittleren Osten gelten.
Gleichwohl wurden in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre deutlich härtere Gesetze zu religiösen Angelegenheiten erlassen. Die Staaten Zentralasiens sehen sich nämlich bei zahlreichen Fragen in einer Zwickmühle: Wie sollen sie einerseits einen laizistischen Rahmen bewahren, andererseits aber die Erinnerung an den militanten Atheismus auslöschen und die Religion in ihren verschiedenen Konfessionen fördern? Wie sollen sie dem Islam eine zentrale Rolle einräumen, gleichzeitig die Grundsätze der Trennung von Staat und Kirche aufrechterhalten und dabei noch Bewegungen im Zaume halten, welche die Behörden zu recht oder zu unrecht für gefährlich, extremistisch oder terroristisch halten? Auf die letzte Frage haben die amtierenden Machthaber eine sehr deutliche autoritäre Antwort gegeben, wobei sie sich auf ihre Pflicht berufen, den Bedrohungen einer politischen und sozialen Destabilisierung, für die zum großen Teil radikale religiöse Gruppen verantwortlich seien, entgegenzutreten.
Die Maßnahmen der politischen Behörden gegen die Religion beabsichtigen also nicht, das Christentum gegenüber dem Islam zu diskriminieren. Sie richten sich im Gegenteil viel eher gegen den Islam als gegen das Christentum, das in Zentralasien keine politischen Strömungen kennt. Alle Machthaber haben tatsächlich versucht, die Religionsentwicklung zu kontrollieren, um eine Politisierung des Islam zu verhindern. Denn ein internationalisierter politischer Islam würde das Gefüge und die Grenzen der neuen Staaten wieder infrage stellen. Das wiederum könnte auch den Sturz der Eliten in diesen Staaten nach sich ziehen, die sich im Zeitraum zwischen 1970 und 1980, also vor der Unabhängigkeit, herausgebildet haben.
Die letzten zehn Jahre standen insbesondere im Zeichen massiver Offensiven gegen die so genannten Wahabiten. Diese Bezeichnung wurde nicht nur für den Zweck benutzt, jede politisierte muslimische Glaubensrichtung als radikal zu brandmarken, sondern vor allem in Turkmenistan und Usbekistan auch als Kampfbegriff gegen jeden Muslim, der nicht bereit ist, sich dem ihm von den Machthabern auferlegten strengen Rahmen zu unterwerfen.
Die Öffnung der Grenzen und die Liberalisierung der religiösen Gesetzgebungen seit der Perestroika machten es zahlreichen christlichen Missionsbewegungen möglich, nach Zentralasien insbesondere nach Kasachstan und Kirgisistan zu kommen. Die rasch anschwellende christliche Missionierung hat auf der Seite der offiziellen islamischen Institutionen heftige Reaktionen ausgelöst, obwohl die Zahl der Konvertierten aus der ursprünglichen Bevölkerung in Wirklichkeit klein ist. Die protestantischen Konfessionen und in geringerem Maße auch die katholische Kirche haben tatsächlich eine gewisse Zahl von Einheimischen bekehrt, und es ist ihnen gelungen, Gemeinden zu gründen, die mehrheitlich oder vereinzelt auch ganz aus Kasachen, Kirgisen oder Usbeken bestehen. Die Gottesdienste finden in der jeweiligen Landessprache statt, und auch der neue Klerus kommt aus den Reihen der Völker Zentralasiens. Mit den westlichen missionarischen Bewegungen sind auch neue Strömungen des Christentums in die Region gekommen: die Kirchen der Methodisten, der Presbyterianer und Charismatiker.
Angesichts der Verschärfung der religiösen Gesetzgebung mussten die christlichen Bewegungen ihre Missionstätigkeit den Umständen anpassen. Die Missionare der charismatischen Bewegung, der presbyterianischen Kirchen und der Zeugen Jehovas gehen dabei keinerlei Kompromiss ein, da für sie die Mission Grundlage ihrer Existenz ist. Eine zweite Gruppierung besteht aus jenen Bewegungen, die nicht ausschließlich missionarisch tätig sind: Dabei handelt es sich um alle protestantischen Strömungen, die auch schon unter dem sowjetischen Regime hier waren, die Kirchen der Baptisten und Adventisten sowie eine gewisse Zahl pfingstlerisch ausgerichteter Gemeinschaften. Dasselbe gilt für die katholische Kirche, die hauptsächlich die traditionell christliche Bevölkerung anspricht. Diese Bewegungen wollen ihre traditionellen Gemeinden (Deutsche, Polen, Russen, Ukrainer usw.) nicht in Gefahr bringen und betreiben deshalb keine offensive Missionstätigkeit unter Muslimen.
Den dritten Fall schließlich stellen die orthodoxe und die armenische Kirche dar. Sie folgen dem Beispiel des muslimischen Klerus und der politischen Machthaber und teilen die Bevölkerung in einerseits autochthon/muslimisch und andererseits europäisch/christlich. So bekundet die orthodoxe Kirche ihre ablehnende Haltung hinsichtlich einer missionarischen Tätigkeit, welche die muslimische Bevölkerung mit einbezieht. Das ist nicht nur darin begründet, dass man die neuen Gesetze respektiert und sich mit den Vertretern des Islam keinen Ärger einhandeln will. Ihr Glaube an ein unlösbares Band zwischen Russentum und Orthodoxie macht diese Kirche zu einer eher nationalen als universellen Religion.
Die protestantische, zumeist pfingstkirchliche (in geringerem Maße auch die katholische) Mission stößt besonders innerhalb der Orthodoxie, aber auch in den Rängen der geistlichen muslimischen Führung auf Widerstand. Beide Lager vertreten die Position einer strikten Trennung zwischen muslimischen Völkern und europäisch christlichen Bevölkerungsteilen. Die orthodoxe Kirche beharrt um so mehr auf dieser Position, als sie sich selbst als eines der Hauptopfer der protestantischen Bewegungen fühlt, die hergekommen seien, um auf Kosten der Orthodoxen ihre eigene Mitgliederzahl zu vergrößern. Der Vorgang wird als Proselytenmacherei verstanden, als Abwerbung von Glaubensbrüdern anderer christlichen Gemeinschaften für die eigene Kirche. Ein Teil der muslimischen Bevölkerung und die islamischen Rechts- und Religionsgelehrten (Ulemas), welche die wachsende Zahl von Glaubensabtrünnigen mit Sorge sehen, brachten ebenfalls ihre Verärgerung über christliche Mission zum Ausdruck.
Die Muslime haben zwar verkündet, das Christentum und dessen Existenzrecht in Zentralasien zu achten, doch der Druck auf die religiösen Bewegungen, die eine zu offensichtliche Mission gegenüber den traditionell muslimischen Bevölkerungsteilen betreiben, hat inzwischen an Schärfe gewonnen. Diese Spannungen haben zu einer Allianz zwischen den Rängen der Muslime und der Orthodoxen geführt. Beide versagen es sich, unter der traditionell zu anderen Nationalitäten gehörenden Religion missionarisch tätig zu sein, und setzen die politischen Behörden entsprechend unter Druck, die Religionsfreiheit einzuschränken. Dabei gehen ihre Forderungen manchmal so weit, die Ausweisung der so genannten fremden Bewegungen zu verlangen. Die politischen Behörden der einzelnen Republiken haben auf diese Aufrufe unterschiedlich reagiert, doch die Entwicklungen religiöser Phänomene werden überall aufmerksam beobachtet. So wurden viele Strukturen und Verfahren wieder eingeführt, die schon in der Sowjetunion als Kontrollmittel dienten, wie zum Beispiel das Komitee für religiöse Angelegenheiten oder die Registrierung der einzelnen Gemeinden, bei der jede Gruppe neben ihrem rechtlichen Status auch zahlreiche Auskünfte über ihre Ziele und Tätigkeiten angeben muss.
Gegen einige so genannte nicht traditionelle und als Sekten bezeichnete christliche Strömungen wurden zahlreiche Maßnahmen ergriffen. Die politischen Behörden haben nun eine seit der Zeit der Sowjetunion bestehende Klassifizierung wieder aufgegriffen: die traditionelle Religion ist diejenige des jeweiligen Volkes (in Zentralasien ist es der sunnitische Islam der Hanefiten) und die Religion der wichtigsten im Land lebenden religiösen Minderheiten (etwa für die Russen die orthodoxe Kirche, für die Deutschen die lutherische Kirche oder für einen anderen Teil der Deutschen und für die Polen die katholische Kirche).
Alle anderen religiösen Bewegungen werden indes zu fremden Sekten erklärt, in denen man eine Bedrohung der sozialen Stabilität sieht, ja sogar eine Infragestellung der Unabhängigkeit der Republik. Die seit dem Zarenregime hier ansässigen protestantischen Bewegungen der Baptisten und Adventisten werden toleriert. Dagegen werden die Konfessionen, die erst in den 1990er Jahren in Erscheinung getreten sind, und die von fremden Missionaren geführten Gemeinden als Sekten eingestuft. Deshalb können sie harten Druckmitteln unterworfen werden.
Die Beziehungen zwischen den verschiedenen christlichen Strömungen in Zentralasien können als sehr schlecht bezeichnet werden. Die orthodoxe Kirche bringt in der Öffentlichkeit alle anderen Auffassungen des Christentums in Misskredit, und die Theologie der Ökumene wird generell verworfen. Das Moskauer Patriarchat stellt seine Teilnahme am Weltkirchenrat ständig erneut infrage. Der Protestantismus steht im Zentrum der Kritik und ist in örtlichen orthodoxen Schriften Gegenstand einer virulenten und fast einstimmigen systematischen Verurteilung. Die anderen Kirchen die katholische, armenische oder die Altgläubigen, eine ursprünglich russische Bewegung, schont man eher, obwohl selbst die Katholiken regelmäßigen Angriffen ausgesetzt sind.
Nur selten findet ein Austausch der protestantischen Bewegungen untereinander statt. Abgesehen von wenigen Ausnahmen sind sich aber alle Gruppen darin einig, das Existenzrecht der anderen Konfessionen anzuerkennen, ihnen eine gewisse Legitimität zuzugestehen und sich gegenseitig Verständnis entgegenzubringen. In den regelmäßig erscheinenden regionalen Zeitschriften der Baptisten und Adventisten gibt es keine Berichte über ökumenischen Dialog. Trotz des großen theologischen Anspruchs findet sich kein Artikel, der ein Thema behandelt, in dem die Positionen der nahestehenden Konfessionen dargestellt werden. Kritik wird eher mündlich geäußert und betrifft nicht speziell die Bewegungen, die sich in dieser Region niedergelassen haben. Eher werden Debatten wieder aufgenommen, die schon in Russland oder in Europa geführt wurden.
Der Grund für die Spannungen unter den christlichen Bewegungen in Zentralasien liegt vor allem in Einstellungen zur Frage der Mission und in dem heiklen Thema des materiellen Gefälles zwischen den verschiedenen christlichen Konfessionen. Die Gelder der protestantischen Bewegungen sind Gegenstand heftiger Kritik. Die Orthodoxen sehen darin ein Mittel, Gläubige zu kaufen und Funktionäre zu bestechen. Der katholischen Kirche, die in Zentralasien weniger in Erscheinung tritt als die protestantische, begegnet man mit der herkömmlichen Kritik der Orthodoxie, mit der behauptet wird, sie sei ein Instrument fremder westlicher Mächte. Die Orthodoxie sieht auch die Mehrheit der protestantisch-pfingstlerischen Bewegungen als Sekten an und spielt demnach das Spiel der politischen Behörden mit, welche die fremden Gemeinden als Destabilisierungsrisiko darstellen.
Die Kontrollen und die Bevormundung der Religionen sind auch Folge der Verschärfung der autoritären Verhältnisse in allen Staaten Zentralasiens. Doch die Lage der Religion muss für jede Republik gesondert betrachtet werden: Turkmenistan hat sozusagen alle christlichen Bewegungen mit Ausnahme der Orthodoxie verboten; Usbekistan hat die Rechte der protestantischen Bewegungen erheblich eingeschränkt, und die Bevormundung wird noch verschärft; Tadschikistan gewährt den religiösen Minderheiten Rechte, aber ihre Lage bleibt extrem unsicher. Kirgisistan und Kasachstan sind die beiden liberalsten Länder; dort haben die Forderungen der Orthodoxie und des offiziellen Islam nach Verschärfung der Religionsgesetze bisher noch keinen Erfolg. So kann sich das Christentum und ganz besonders der protestantische Teil in der örtlichen Bevölkerung dieser beiden Staaten in deutlich erkennbarerem Maße entwickeln.
aus: der überblick 01/2006, Seite 66
AUTOR(EN):
Sébastien Peyrouse
Dr. Sébastien Peyrouse ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut des Langues Orientales, Paris. Er forscht seit mehreren Jahren über die Politik, die Religion und die nationalen Identitäten in Zentralasien. Er ist unter anderem Autor eines Buches über die Christen in Zentralasien Des Chrétiens entre athéisme et islam: regards sur la question religieuse en Asie centrale soviétique et post-soviétique, Maisonneuve & Larose, Paris 2003.