Das Selbstbestimmungsrecht der Frauen ist vielen Mexikanern ein Dorn im Auge
Vom demokratischen Wandel im Machtverhältnis zwischen den Geschlechtern ist im mexikanischen Präsidentschaftswahlkampf kaum die Rede. Der stetige Vormarsch des konservativen Präsidentschaftskandidaten Vicente Fox, der Abtreibung zu einem Thema seines Wahlkampfs gemacht hat und den Wählern den "Schutz des Lebens von der Empfängnis bis zum Tod" verspricht, lässt viele Feministinnen um die bisher erkämpften Veränderungen zu Gunsten von Frauen fürchten.
von Britta Scholtys
Vicente Fox mobilisiert das konservative Mexiko und verspricht bei einem Wahlsieg seiner Partido Acción Nacional (PAN), der Partei der s Nationalen Aktion, und ihrer Verbündeten grundlegende Verfassungsänderungen: Er will den "Schutz des Lebens von der Empfängnis bis zum Tod" im Grundgesetz festschreiben und sich für eine "kirchenfreundliche" Öffnung des Staates und der Medien (das Telekommunikationsgesetz sichert dem Staat auch Einfluss im privaten Hörfunk, Fernsehen und Film) stark machen. Viele Frauen fürchten, dass es dann im gesamten Land ähnliche "Moraloffensiven" geben wird, wie das in den schon jetzt von der PAN regierten Bundesstaaten der Fall ist.
Erst kürzlich hat der Fall Paulina die Öffentlichkeit gespalten. Paulina steht als Beispiel dafür, was aus den Errungenschaften der Frauenbewegung in Mexiko werden kann, wenn rechtskonservative Männer den Regierungston angeben. Im Juli vergangenen Jahres war ein Unbekannter in das Haus der Eltern von Paulina eingedrungen und hatte das damals 13-jährige Mädchen vor den Augen ihrer Mutter und ihrer jüngeren Schwester vergewaltigt. Doch die Behörden des PAN-regierten Bundesstaates Baja California, selbst ernannte Lebensschützer, Ärzte sowie moralisierende Staatsanwälte hintertrieben das Paulina zustehende Recht auf die Abtreibung. Sogar in der gynäkologischen Station des Krankenhauses wurde das junge Mädchen von zwei Frauen der katholischen Lebensschutzorganisation Provida besucht und mit Videos von Embryonen und verstümmelten Föten traktiert. Sie drohten ihr auch mit dem Ausschluss aus der Kirche. Ärzte warnten sie vor den tödlichen Gefahren der Abtreibung. Das Mädchen und ihre Mutter gaben schließlich verängstigt ihre Absicht auf, eine Abtreibung vornehmen zu lassen. Mitte April dieses Jahres gebar die Minderjährige einen Sohn.
Nach den bisher geltenden Bestimmungen sind Schwangerschaftsabbrüche nur bei Vergewaltigung und bei Lebensgefahr straffrei sowie im Fall sehr schwerer Missbildungen des Embryos. Jedes Jahr brechen Schätzungen zufolge zwischen 100.000 und 500.000 Frauen illegal ihre ungewollten Schwangerschaften ab. Aufgrund der Kriminalisierung von Abtreibung sterben jährlich 15 000 Mexikanerinnen an den Folgen.
Viele Frauenorganisationen kämpfen seit Jahren für Straffreiheit bei Abtreibungen in den ersten drei Monaten der Schwangerschaft.Unterstützt von den Basisorganisationen der hiesigen Frauenbewegung, wollen die feministischen Realpolitikerinnen der linksliberalen Oppositionspartei Partido de la Revolución Democrática (PRD), der Partei der Demokratischen Revolution, ein entsprechendes Gesetz erreichen. Schon seit Jahren engagieren sich die katholischen Feministinnen, Católicas por el Derecho a Decidir (CDD) und die Vereinigung Grupo de Información en Reproducción Elegida (GIRE) in Aufklärungskampagnen und parlamentarischer Lobby-Arbeit für das Recht auf eine freie, legale und sichere Abtreibung in Mexiko.
In Sachen Geschlechterpolitik machen die Mexikanerinnen seit Jahrzehnten vor allem durch die starken Basisorganisationen der feministischen Bewegung Druck: Auf realpolitischer Ebene haben sie sich in Allianz mit vielen Politikerinnen die Einrichtung des staatlichen Frauenministeriums erkämpft und 1998 das sogenannte Frauenparlament ins Leben gerufen, einen partei-übergreifenden Ausschuss aus Senatorinnen und Parlamentsabgeordneten, der in beiden Parlamentskammern eine Geschlechterkommission durchgesetzt hat.
Die Lobby-Arbeit von Organisationen, die sich gegen Gewalt an Frauen engagieren, hat im letzten Jahr Früchte getragen. Das Parlament verabschiedete Ende 1997 ein Gesetz gegen Gewalt in der Familie zum Schutz der Frauen. Dieses Gesetz sieht eine Freiheitsstrafe bis zu 14 Jahre für Vergewaltigung in der Ehe vor, für sexuellen Missbrauch von Kindern bis zu 20 Jahre Haft. Trotz heftiger Kritik seitens konservativer Männer, die eine Strafe für Vergewaltigung in der Ehe als "lächerlich" bezeichneten, fand das Gesetz eine Mehrheit. Bei ihrem Bemühen, kulturelle Geschlechterstereotype in Frage zu stellen, und bei der Mobilisierung gegen diskriminierendes Verhalten in Geschlechterbeziehungen haben die Basisorganisationen Unterstützung von offizieller Seite erhalten. In einer gemeinsamen Sensibilisierungskampagne in U-Bahnen, Radio und Fernsehen werben die Frauen mit markigen Sprüchen für Toleranz und Respekt zwischen den Geschlechtern. Es firmieren "Hochachtungvoll: die Frauen".
Der feministische Nachrichtendienst Comunicación e Información de la Mujer (CIMAC) will eine geschlechterdifferenzierte Berichterstattung in den Medien erreichen. Indem die feministischen Journalistinnen kommerzielle Medien, gleich welcher ideologischer Couleur, mit ihren Nachrichten bedienen, versuchen sie gegen die Gettoisierung der Frauenthemen in speziellen Beilagen und Zeitschriften anzuschreiben und die spezifischen Lebenswirklichkeiten der Frauen auch auf den Titelseiten der etablierten Blätter sichtbar zu machen. Die Auseinandersetzung mit dem Fall Paulina in den Medien ist ein Beispiel dafür, ein anderes die seit Jahren anhaltende Mediendiskussion um die Sexualmorde in der nördlichen Grenzstadt Ciudad Juarez.
Seit fast sechs Jahren werden dort Frauen sexuell missbraucht und bestialisch ermordet, ohne dass es den zuständigen Behörden größeres Kopfzerbrechen bereiten würde. Mehr als 200 Frauen sind mittlerweile ermordet worden, doch nur ein Bruchteil der Verbrechen ist aufgeklärt. Ein "typisch misogynes Verhalten", kommentiert die Journalistin Sonia del Valle das Desinteresse der örtlichen Staatsanwaltschaft, gegen die die Feministinnen vor dem Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte Klage wegen "Unterlassung von Rechtsprechung" erhoben haben. Für del Valle steht fest: die bestialischen Sexualmorde sind Ausfluss; der gesamten gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse in der Grenzstadt. Ihrer Meinung nach werde die brutale Gewalt gegen die Frauen unter anderem durch "den Identitäts- und Machtverlust der Männer als alleinige Ernährer und unantastbares Familien-oberhaupt" freigesetzt.
Im Arbeitsleben wiederum mobilisieren unabhängige Frauengewerkschaften wie die Unión de Trabajadoras Mexicanas oder Mujeres en Acción Sindical gegen die anhaltende Diskriminierung von Frauen. Zwar können diese Gewerkschaften noch keine hohen Mitgliederzahlen aufweisen, aber sie mobilisieren tatkräftig gegen eine Benachteiligung von Frauen bei Löhnen und Gehältern, gegen sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz, gegen Nichteinstellung oder Entlassung bei Schwangerschaft und andere Formen der Diskriminierung. Denn trotz hehrer Lippenbekenntnisse zur Chancengleichheit der Geschlechter werden Frauen besonders in den Maquilas, den von Zöllen befreiten transnationalen Montagefabriken in der Nähe der US-Grenze, in denen Gewerkschaften nicht zugelassen sind, durch Schwangerschaftstests schikaniert: Bei positivem Ergebnis werden sie entlassen oder erst gar nicht eingestellt.
Dass Frauen in fast allen gesellschaftlichen Bereichen den Männern den alleinigen Machtanspruch streitig machen, ist insbesondere den Herren von der PAN ein Dorn im Auge. Und so mobilisieren sie ihrerseits. Auf der Karibikhalbinsel Yucatán wird eine Gesetzesinitiative zur Kriminalisierung von Oralsex diskutiert, und in anderen PAN-regierten Bundesstaaten ist Angestellten per Dekret das Tragen von Miniröcken untersagt. Immer mal wieder werden Stelltafeln mit BH-Reklame abmontiert, und im Namen der Sittlichkeit soll auch dem Tanzen barbusiger Damen auf den Tischen der Garaus gemacht werden.
Die feministische Journalistin Sara Lovera vertraut angesichts dieser "Moraloffensiven" auf die Stärke der Basisfrauen und Fähigkeit der Politikerinnen in Schlüsselpositionen, vor allem der PRD-Vorsitzenden Amalia García und der Bürgermeisterin von Mexico City, Rosario Robles, aber auch auf Dulce María Sauri, die Chefin der Regierungspartei Partido Revolucionario Institutional (PRI), der Partei der Institutionalisierten Revolution. Noch könne man nicht von Rückschritten im Kampf um ein demokratisches Geschlechterverhältnis sprechen, auch nicht im Fall Paulina. Denn dass die Öffentlichkeit empört aufgeschrien hat, beweise, dass genug "gesellschaftlicher Widerstand gegen frauenfeindliche Aktionen da ist", meint Lovera. "Und daran arbeiten wir weiter: Durch Aufklärungskampagnen und eine neue, erstarkte Basis an sich organisierenden Frauen. Du wirst schon sehen..."
Amalia García, Rosario Robles und Dulce María Sauri sind drei Realpolitikerinnen, die in ihren jeweiligen Parteien Schlüsselposten errungen haben: García als Vorsitzende der linksliberalen Oppositionspartei PRD, Robles als Chefin der PRD-Regierung in Mexiko-Stadt und Sauri als Vorsitzende der PRI. Während die beiden PRD-Politikerinnen auch zu den Pionierinnen der mexikanischen Frauenbewegung gehören, hat Sauri ihr feministisches Bewusstsein innerhalb des hierarchischen Machtapparats der PRI entwickelt.
Leicht haben es die drei Politikerinnen allerdings nicht. Machistisches Gehabe und männliche Arroganz sind nach wie vor Bestandteil ihres politischen Alltags. Entsprechende Anekdoten weiß jede einzelne von ihnen zu erzählen. Amalia García zum Beispiel stieß gleich nach ihrem Wahlsieg als Parteivorsitzende auf männlichen Starrsinn. Ihre Parteigenossen wollten nicht anerkennen, dass Amalia nicht zum "Präsidenten", sondern zur "Präsidentin" des PRD gewählt worden war. Nach wochenlangen Bemühungen um einen ersten Schritt in Richtung Anerkennung der Gleichberechtigung lenkten die Genossen ein, allerdings nicht ohne einen kleinen Seitenhieb. Da sich die "Dienerin", so die abwertende Bezeichnung für die unverzichtbare, grundsätzlich weibliche Hausperle der mexikanischen Mittel- und Oberschicht, sprachlich auch in den "Diener" umwandeln lasse, könne man auch Amalias Anliegen stattgeben und sie von nun an als "Präsidentin" bezeichnen.
Rosario Robles wiederum erzählt heute lachend von den Anfangsschwierigkeiten als Regierungschefin der 20-Millionen-Hauptstadt. Zum Beispiel verzögerten sich die Verhandlungen mit der Gewerkschaft der Verkehrsgesellschaft um Wochen, da der zuständige Vertreter seinen Termin partout mit dem "Herrn Bürgermeister" wollte. Erst nach vielen Überredungskünsten durch den Beratungsstab der neuen Chefin von Mexiko-Stadt lenkte er ein und setzte sich auch mit "Frau Bürgermeisterin" an einen Tisch. Und die PRI-Politikerin Dulce María Sauri leidet unter den besonders einfältigen Bemerkungen ihrer Parteikollegen: "Wenn ich einen Fehler begehe, dann wird das garantiert mit ,typisch Frau’ quittiert".
Alle drei Frauen sind in den fünfziger Jahren geboren und seit den siebziger Jahren, als infolge der Studentenbewegung in Mexiko ein repressives Klima gegenüber der politischen Opposition herrschte, politisch aktiv. García hat bei der Kommunistischen Partei gelernt, Robles in gewerkschaftlichen Auseinandersetzungen und Sauri bei der Staatspartei PRI.
Die heutige PRD-Vorsitzende Amalia García kämpfte von Anfang an für die Verteidigung der Menschenrechte, insbesondere von politischen Oppositionellen und Frauen. 1979 war sie Gründungsmitglied einer der ersten feministischen Organisationen Mexikos, der Nationalen Front für die Befreiung und Rechte der Frauen, die sich unter anderem für die Legalisierung der Abtreibung einsetzte und für Reformen der Strafgesetze zu innerfamiliärer Gewalt und Vergewaltigung kämpfte. 1995 nahm sie als Mitglied der offiziellen Delegation Mexikos an der Weltfrauenkonferenz in Peking teil. Heute ist sie nicht nur PRD-Vorsitzende, sondern auch Beraterin der Nationalen Frauenkommission Mexikos.
Als feministische Aktivistin kämpfte auch Rosario Robles in der ersten mexikanischen Nationalen Frauenfront der siebziger Jahre für die spezifischen Rechte der Frauen. Als Regierungschefin der 20-Millionen-Stadt Mexiko haucht sie mit geschlechterdifferenzierendem Feingefühl dem Moloch ein bisschen Leben ein und gehört heute mit zu den beliebtesten und überzeugendsten Politikerinnen.
"Der Feminismus ist eine politische Form der demokratischen Transformation Mexikos", sagt sie. Dazu gehören nicht nur spezifische Frauenförderprogramme oder Frauenhäuser, die sie als Regierungschefin mit initiiert und durchgesetzt hat, sondern auch der Dialog mit den unterschiedlichen sozialen Gruppen und die Förderung der Basismitbestimmung in den Stadtbezirken.
Dulce María Sauri unterstützte während des politisch repressiven Klimas der frühen siebziger Jahre zwar auch Organisationen von Müttern politischer Gefangener und Vermisster, trat aber dennoch bald in die PRI ein. In den achtziger Jahren war sie Gouverneurin der Karibikhalbinsel Yucatán, später Frauenministerin, und heute versucht sie als Vorsitzende des PRI vor allem für eine Sozialpolitik zu werben, die eine Benachteiligung der Frauen verhindern soll.
aus: der überblick 02/2000, Seite 62
AUTOR(EN):
Britta Scholtys:
Britta Scholtys arbeitet als freie Journalistin in Mexiko-Stadt.