Indische Computerspezialisten sind in Übersee seit Jahrzehnten gefragt
Die Anwerbung von ausländischen Spezialisten aus dem Bereich der Informations- und Kommunikationstechnologie ist für Deutschland ein neuer Schritt. In den USA, Kanada und Australien wird die Visa-Erteilung für begehrte Fachkräfte dagegen schon seit Jahrzehnten praktiziert. Unter ihnen sind viele Inder.
von Gayathri Vasudevan
Die grenzüberschreitende Migration hat bisher bei Wirtschaftswissenschaftlern und Politikern in Indien nur geringe Aufmerksamkeit gefunden. Obwohl nur wenige systematische Datenerhebungen zu diesem Thema vorhanden sind, wird weithin davon ausgegangen, dass es eine kontinuierliche Abwanderung von Fachkräften gibt. Bereits in der ersten Phase, die in den frühen 1950er Jahren begann und bis Mitte der 1970er Jahre andauerte, verließ ein wesentlich höherer Anteil an Fachkräften mit technischer Ausbildung und professionellen Qualifikationen Indien in Richtung Industrieländer als das in den Jahrhunderten davor der Fall war. Zu jener Zeit waren die meisten Auswanderer ungelernte und besitzlose Arbeiter. In einer Studie aus dem Jahr 1994 zur internationalen Migration fand der jetzige Vizekanzler der Universität Delhi, Deepak Nayyar, heraus, dass in dieser Phase qualifizierte Kräfte vor allem nach Großbritannien, die USA, Kanada sowie in geringerem Maße nach Westeuropa und Australien auswanderten.
Eine zweite Phase der internationalen Migration indischer Arbeitskräfte begann Mitte der 1970er Jahre und erreichte ihren Höhepunkt Anfang der 1980er Jahre. Das Ziel dieser Auswanderer waren meist die Erdöl exportierenden Länder des Mittleren Ostens. Zu einem überwiegenden Teil emigrierten damals - im Unterschied zur ersten Auswanderungswelle nach der Unabhängigkeit - schlecht oder gar nicht qualifizierte Menschen. Die wenigen gut qualifizierten Arbeitskräfte fanden Stellen in der Industrie oder in Büros. Nach den Regierungsstatistiken fiel der Prozentsatz von Migranten mit technischen und professionellen Qualifikationen von 88 Prozent im Jahr 1971 auf 57 Prozent im Jahr 1975. Bei der Auswanderung in die Industrieländer, vor allem in die Vereinigten Staaten, waren die technisch ausgebildeten Fachkräfte entgegen dem allgemeinen Trend noch immer in der Mehrzahl. Laut Deepak Nayyar kamen 13,4 Prozent der hoch qualifizierten Fachkräfte, die zwischen 1981 und 1990 in die USA einwanderten, aus Indien, obwohl Inder im selben Zeitraum nur 3,6 Prozent aller Einwanderer in die USA stellten.
Während der Mittlere Osten weiterhin das Ziel vieler Inder ist, wandern Computerspezialisten in jüngster Zeit bevorzugt in Industrieländer aus, vor allem in die USA, nach Kanada, Australien, Singapur, Deutschland und Großbritannien. In den späten 1990er Jahren gingen sie in geringerem Maße auch in andere westeuropäische Länder, insbesondere die Niederlande, Norwegen, Schweden und Irland. Die Migration in die westeuropäischen Länder ist eine vergleichsweise neue Tendenz, die sich in diesen Ländern noch nicht deutlich bemerkbar macht. Sie wird den weit reichenden weltwirtschaftlichen Veränderungen in den 1990er Jahren zugeschrieben, speziell der Einführung der Computertechnologie sowohl im Produktions-als auch im Dienstleistungssektor.
Die Anzahl indischer Einwanderer in den USA wuchs von 50.000 im Jahre 1970 auf 722.000 im Jahre 1998. Eine Untersuchung, die Steven A. Camarota 1999 im Auftrag des Center for Immigration Studies erstellte, weist darauf hin, dass nur 6 Prozent der in den USA ansässigen Inder unterhalb der Armutsgrenze leben. Bei den Einwanderern aus Mexiko oder der Dominikanischen Republik betrug dieser Anteil im Jahre 1998 31 beziehungsweise 38 Prozent. Der Autor schließt daraus auf die beruflichen Qualifikationen der indischen Einwanderer. Dass indische Einwanderer in ihrem Beruf vergleichsweise erfolgreich sind, kann auch deshalb angenommen werden, weil die indischen Immigranten in den USA keine staatlichen Sozialleistungen beziehen.
Auch dass die USA im Vergleich zu anderen Industrieländern Fachleute leichter einreisen lassen und ihnen einfacher eine Arbeitsgenehmigung und ein Aufenthaltsrecht erteilen, mag dazu beitragen. Zudem erhöhte das Einwanderungsgesetz aus dem Jahre 1990 die Anzahl der Visa mit Arbeitsbewilligung von zuvor 54.000 auf nunmehr 140.000 pro Jahr, und diese Anzahl ist seither ständig gestiegen.
Vor 1990 gelangten weniger als zehn Prozent aller Einwanderer aufgrund ihrer beruflichen Qualifikationen in die USA, während seitdem ungefähr 21 Prozent aus diesen Gründen zugelassen wurden. Hoch qualifizierte Fachkräfte aus Indien haben diese Situation in besonderem Maße genutzt und sind zunehmend in die Vereinigten Staaten ausgewandert.
Qualifizierte Arbeitskräfte hatten schon immer wesentlich bessere Chancen, sich auf dem US-amerikanischen Arbeitsmarkt zu behaupten, als nicht oder nur schlecht qualifizierte Arbeiter. Erst in den vergangenen Jahren führte dies auch zu einem merklichen Zuwachs an ausländischen Ingenieuren und Wissenschaftlern auf dem US-amerikanischen Arbeitsmarkt. Mikrostudien haben gezeigt, dass diese hoch qualifizierten Arbeitskräfte, vorwiegend Ingenieure, vor allem in der - allerdings im vergangenen Jahr von einer Flaute betroffenen - expandierenden und von kräftigen Wachstum gekennzeichneten Branche der Informationstechnologie (IT) beschäftigt sind.
Die Auswirkungen des starken Wachstums im IT-Bereich haben sich zuerst im neuen Einwanderungsgesetz niedergeschlagen und zeigen sich nun auch beim indischen Anteil an der Einwanderung. 38,5 Prozent aller Einwanderer, die in den Jahren zuvor in die USA gekommen waren und 1994 ein Daueraufenthaltsrecht erhielten, waren Inder. Die Vereinigten Staaten schufen auch eine Aufnahmekategorie mit der Bezeichnung "H-1B non-immigrant" für Personen mit befristeten Arbeitsverträgen in spezialisierten Berufen. Nach Angaben der US-amerikanischen Einwanderungs-und Einbürgerungsbehörde (Immigration and Naturalization Service, INS), stammen seit 1994 die meisten Einwanderer in dieser Kategorie aus Indien: Sie stellen 16 Prozent aller unter den H-1B-Bedingungen eingewanderten Arbeitskräfte.
Eine wesentlich längere Tradition als die Auswanderung in die Vereinigten Staaten hat die Migration aus Indien nach Australien. Sie reicht zurück bis ins frühe 19. Jahrhundert, als ein großer Anteil von Sikhs und Moslems aus dem Punjab als Landarbeiter und Händler nach Australien einwanderten. Zur nächsten großen Einwanderungsphase kam es nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und mit der indischen Unabhängigkeit, als in Indien geborene englische Staatsbürger und Anglo-Inder nach Australien einwanderten. Infolge der Lockerung der restriktiven Einwanderungspolitik im Jahr 1966 schnellten die Zahlen nach oben. Die Anzahl von in Indien geborenen Einwanderern ist seither stetig gewachsen, von 15.754 im Jahr 1966 auf 41.675 im Jahr 1981 und schließlich auf 77.689 im Jahr 1996. Pro Jahr trafen somit zwischen 1500 und 3100 Immigranten in Australien ein. Einwanderer aus anderen Ländern wie Vietnam, Malaysia, China und den Philippinen kamen allerdings in weit größerer Anzahl nach Australien, sodass der indische Anteil vergleichsweise gering ausfiel. Gemäß der Bevölkerungsstatistik von 1996 stammten von insgesamt 1.008.327 Einwanderern 145.498 aus dem südlichen Asien, was ungefähr 14 Prozent des gesamten asiatischen Bevölkerungsanteils in Australien entspricht.
Für eine Niederlassungsbewilligung in Australien können sich Personen nach einer Reihe von Zulassungskriterien bewerben. Inder haben dabei durchweg entweder die Kategorie der Familienzusammenführung oder die der beruflichen Fähigkeiten genutzt. Bis Ende der 1980er Jahre wanderte die Mehrzahl der Inder über die Familienzusammenführung nach Australien ein. Eine wesentliche Verschiebung zeigt sich in den 1990er Jahren, als sich die Anzahl der qualifizierten Inder gegenüber den Familienmigranten etwas mehr als verdoppelte. Nach den Bevölkerungsstatistiken für den selben Zeitraum verfügt jeder dritte indische Einwohner über einen Universitätsabschluss und bezieht ein wöchentliches Durchschnittseinkommen von 375 australischen Dollar. Das liegt damit 28 Prozent über dem australischen Durchschnittseinkommen.
Aus diesen Daten können zwei interessante Schlüsse gezogen werden. Erstens ist der Anteil derer, die eine Beschäftigung in der IT-Branche angeben, sprunghaft gestiegen. Nach Angaben der australischen Regierung verfügen 17 Prozent aller australischen Unternehmen über eigene Computerfachkräfte, zu denen auch Webdesigner gezählt werden. Je nach Branche schwankt der Anteil der Unternehmen mit eigenen Computerfachkräften zwischen 10 Prozent in der Bauindustrie, bei den Personal-und anderen Dienstleistern und 46 Prozent in der Elektrizitäts-, Gas-und Wasserwirtschaft. Daran zeigt sich, wie breit der Bedarf an Computerfachkräften gestreut ist. Allein durch Exporte erwirtschaftete die IT-Branche im Jahre 1995 einen Gewinn von über 4 Milliarden US-Dollar. Damit steht dieser Sektor mit an der Spitze der australischen Exportwirtschaft. Die australischen Exporte im Informations-und Kommunikationstechnologie-Sektor sind mittlerweile höher als die Woll-und Weizenexporte des Landes und mehr als doppelt so hoch wie die der Automobilindustrie und der Rohölproduzenten. Man kann also vermuten, dass der expandierende IT-Sektor eine große Zahl der indischen Migranten aufgenommen hat. Zweitens kann man mit ziemlicher Sicherheit annehmen, dass nur wenige Inder aus Australien wieder in ihre Heimat zurückkehren, denn der Anteil der hoch qualifizierten indischen Arbeitskräfte dort wächst beständig und hat insbesondere in den letzten Jahren noch einmal kräftig zugenommen.
Ein weiteres wichtiges Auswanderungsziel für Emigranten aus dem Commonwealth und ehemaligen Kolonien ist Großbritannien. Einwanderer aus Südasien, vor allem aus Indien, Pakistan, Bangladesch und Sri Lanka machten dabei schon immer einen hohen Prozentsatz davon aus. Im Jahr 1991 lag der Anteil von Einwohnern ohne britischen Pass an der Gesamtbevölkerung Großbritanniens bei 7,4 Prozent. Davon gehörten 5,5 Prozent zu ethnischen Minderheiten, zum größten Teil sind diese nicht in Großbritannien geboren.
Der Migrationsforscher Aslan Zorlu hat im Jahre 2000 fünf wichtige Einwanderergruppen (nach Kategorien der britischen Volkszählung) in Bezug auf ihre beruflichen Aktivitäten mit gebürtigen Briten verglichen: Schwarze, Inder, Pakistaner/Bangladescher und solche aus "verschiedenen anderen ethnischen Minderheiten". Die Studie ergab, dass ein relativ hoher Anteil der aus Indien stammenden Männer und Frauen berufstätig war. Die indischen Männer blieben, was den Anteil der Vollzeitbeschäftigten angeht, nur hinter dem weißer Männer zurück. Obwohl der Anteil indischer Frauen in Vollzeitbeschäftigung vergleichsweise niedriger liegt, sind es dennoch mehr als bei den Gruppen aus Pakistan und Bangladesch sowie bei anderen ethnischen Minderheiten. Die Inder gehören neben Pakistanern und Bangladeschern zu den Gruppen, die vor allem in der Privatwirtschaft beschäftigt sind. Unter den indischen Arbeitskräften verrichten im Vergleich zu den anderen Gruppen die wenigsten körperliche Arbeit. Dazu passt, dass Inder über das höchste wöchentliche Durchschnittseinkommen verfügen. Im Vergleich zwischen den fünf untersuchten Gruppen weisen die indischen Einwanderer zudem einen relativ hohen Anteil von Personen auf, die der Kategorie "hoch Qualifizierte" zugerechnet werden können.
In Kanada machten 1991 in Indien gebürtige Menschen bereits 16 Prozent aller Einwanderer aus. Bis in die 1960er Jahre kamen Immigranten in Kanada vor allem aus den Vereinigten Staaten, Großbritannien und Europa. Die Einwanderung aus asiatischen Ländern stieg nach Gesetzesänderungen in den 1970er Jahren stark an. Die kanadischen Bevölkerungsstatistiken geben darüber Auskunft, wie hoch der Anteil von Inhabern eines Bachelor-oder eines höheren Universitätsabschlusses innerhalb einer Einwandererbevölkerung ist. Bei den wissensbasierten Berufen zeigte sich ab Mitte der 1980er Jahre bis 1997 ein großer Zuwachs an Einwanderern mit unbefristeter Aufenthaltsbewilligung. Sie stiegen in diesem Zeitraum bei den Computerspezialisten. um das Fünfzehnfache und bei den Ingenieuren um das Zehnfache. Zudem wuchs die Anzahl der neu eingestellten Informatikingenieure, Systemanalytiker und Programmierer von 124.000 auf 163.000. Dabei entfiel nahezu ein Drittel dieser Steigerung auf Einwanderer, die erst nach 1990 ins Land gekommen waren. Die Statistiken von 1996 zeigen, dass zwischen 1991 und 1996 immerhin 6,9 Prozent aller Immigranten Inder waren und dass Indien nach Hongkong und China das größte Kontingent an Einwanderern nach Kanada stellte. Die Daten von 1996 bestätigen, dass die meisten Ingenieure mit einer unbefristeten Aufenthaltsbewilligung erst vor kurzem eingewandert sind.
Etwa 17 Prozent der vor kurzer Zeit aus Asien nach Kanada eingewanderten Personen sind Inder. In Toronto und Vancouver beträgt ihr Anteil an der Bevölkerung von seit kurzem in Kanada lebenden Immigranten 7,5 beziehungsweise 8,5 Prozent. Diese Städte weisen eine hohe Konzentration neuer Wirtschaftszweige auf, insbesondere die Informationstechnologie ist stark vertreten. Deshalb kann man mit hoher Wahrscheinlichkeit annehmen, dass indische Einwanderer vorrangig zum Erfolg dieser stark wachsenden Branchen in Kanada beitragen.
Die Informationstechnologiebranche fasst zunehmend auch in anderen Industrieländern Fuß. Die Expansion wird allerdings gebremst durch einen drastischen Mangel an qualifizierten Arbeitskräften, weshalb viele Länder qualifizierte Kräfte aus anderen Ländern anwerben. Indien mit seinem Reservoir an gut ausgebildeten Fachkräften ist dabei zu einem wichtigen Konkurrenten für andere Entsendeländer geworden. Diese Tendenz zeigt sich etwa in den Niederlanden, wo die Anzahl jährlich ausgestellter Arbeitsbewilligungen für Informatiker aus dem Ausland 1999 auf einen Rekordstand von 450 gestiegen ist. In Deutschland und Japan hat sich die Obergrenze für die Anzahl Personen, die einwandern durften, weil sie ein Beschäftigungsverhältnis nachweisen konnten, im Zeitraum von 1999 bis 2001 wesentlich erhöht.
In Indien selbst liegen keine systematischen Daten über das Niveau und die Fluktuation der Aus-und Rückwanderung hoch qualifizierter Fachkräfte vor. Zwischen 1995 und 2000 verzeichnete die indische IT-Branche ein Gesamtwachstum von über 42,4 Prozent. Damit liegt ihre Wachstumsrate nahezu doppelt so hoch wie in vielen Industrieländern. In den Jahren 1999 und 2000 entfielen über 65 Prozent der Jahreseinnahmen des indischen IT-Sektors auf die Erträge der Softwareindustrie. Bezeichnenderweise lassen mehr als 185 Firmen, die in der Liste der Wirtschaftszeitschrift Fortune aufgeführt sind und die die 500 größten Unternehmen der Welt umfasst, ihre Software von indischen Produzenten herstellen.
Wenn indische Softwarehersteller Produkte für den Export entwickeln, bedeutet das meistens, dass ein Großteil der Arbeit beim Kunden in Übersee verrichtet wird und nicht in Indien selbst. Nach Angaben von Richard Heeks, der den IT-Sektor in Indien schon seit längerem kontinuierlich beobachtet, wurden 1988 durchschnittlich 65 Prozent der Exportverträge ganz beim Kunden erledigt, während bei nur 35 Prozent Arbeitsprozesse in Indien selbst anfielen. Man kann also sagen, dass vor allem der Export von Software letztlich immer mit der zeitweiligen Abwanderung von Arbeitskräften aus Indien einhergeht. Da die Exportwirtschaft sich besonders im Softwaresektor stark auf die Vereinigten Staaten und einige Märkte in Westeuropa konzentriert, wandern zwangsläufig die meisten Informatik-Fachkräfte in diese Länder ab.
Die Geldüberweisungen der Auswanderer in die alte Heimat sind schwer nachzuweisen. Zwischen 1974/75 und 1994/95 hat ganz offensichtlich eine generelle Steigerung privater Geldüberweisungen aus dem Ausland stattgefunden. Allerdings entstammen die Geldflüsse nicht durchweg den gleichen Regionen. Im Zeitraum von 1974/75 bis 1984/85 lässt sich eine Steigerung der Zahlungen vor allem aus der Golfregion feststellen, während von 1984/85 bis 1994/95 die Dollar-Region und die OECD-Länder die höchsten Zuwachsraten aufwiesen. Dagegen sank der Kapitalfluss aus den ölreichen Regionen stetig.
Diese Nettoprivattransfers müssen mit Vorsicht interpretiert werden, doch kann man mit einiger Sicherheit annehmen, dass der relative Zuwachs beziehungsweise Rückgang mit den Migrationsbewegungen zwischen Indien und den jeweiligen Ländern zu tun hat. Vergleicht man die Daten zum indischen Anteil an der Immigrantenbevölkerung eines Landes inklusive der vor kurzem eingewanderten Personen mit den gestiegenen oder gesunkenen Überweisungen und Unterstützungsbeiträgen aus den entsprechenden Regionen, ist dieser Schluss naheliegend. Denn die bedeutendsten Zuwächse an Überweisungen sind aus den Vereinigten Staaten, Großbritannien, Kanada und Australien zu verzeichnen, aus jenen Ländern also, die in jüngster Vergangenheit einen hohen Bedarf an Fachkräften hatten.
Die Versuche, die wirtschaftlichen Kosten zu errechnen, die der Verlust an Humankapital mit sich bringt, werden kontrovers beurteilt. Dennoch muss festgestellt werden, dass Indien als Entwicklungsland zwangsläufig benachteiligt ist, wenn es darum geht, hoch qualifizierten Arbeitskräften wettbewerbsfähige Arbeitsstellen und entsprechende Bezahlung zu bieten. Es läuft daher Gefahr, seine besten Köpfe zu verlieren. Entgegen der allgemeinen Erwartung, dass mit der Zeit - und insbesondere im Zusammenhang mit dem aktuellen weltweiten Abschwung im IT-Sektor - eine Rückwanderung einsetzen werde, zeigen kursorische Schätzungen, dass weniger als ein Prozent der Inder im Ausland für immer nach Indien zurückkehren.
Seit einiger Zeit wird immer wieder von der Herausbildung starker intellektueller Diasporagemeinschaften aus Indien berichtet. Obwohl dies keinen Ausgleich für die massenhafte Abwanderung hoch qualifizierter Inder ist, versuchen diese Diaspora-Netzwerke, die Verbindungen zwischen ausgewanderten indischen Intellektuellen und ihrem Heimatland zu stärken, um sie so in den Entwicklungsprozess des Landes einzubinden. Die erfolgreichste dieser Gemeinschaften entstand im US-amerikanischen Silicon Valley. Ähnlich starke Netzwerke haben sich außerhalb der USA in Vancouver und Toronto (Kanada), in Großbritannien sowie in Sydney und Melbourne (Australien) herausgebildet. Viele Internetgruppen bieten ihre Beratung und Betreuung unter Adressen wie etwa www.return2india.com an.
Die Tendenz zur Auswanderung wie auch deren mögliche Umkehr, der damit zusammenhängende Brain Drain und Verlust von Know-how sowie die Wirkungen der Diasporanetzwerke können nur im Rahmen einer umfassenden Beschäftigungspolitik für hoch qualifizierte Fachkräfte sinnvoll diskutiert werden. Dabei wären vor allem Arbeitsmarkt-und Bildungspolitik aufeinander abzustimmen. Eine solche Politik müsste zudem der liberalisierten, von aggressiven Handelsinteressen dominierten Weltwirtschaft Rechnung tragen.
Literatur
Steven A. Camarota: Immigrants in the United States - 1998. Center for Immigration Studies, Washington 1999.
Deepak Nayyar: Migration, Remittances and Capital Flows. The Indian Experience. Oxford University Press, New Dehli 1994.
Aslan Zorlu: Ethnic Minorities in the UK: Burden or Benefit? Department of Economics, Amsterdam 2000.
Shobhana RamabadranEine indische Software-Expertin in den USAShobhana Ramabadran war als Software-Expertin bei United Media, der Tochtergesellschaft einer Multimediagruppe mit Hauptsitz in New York, beschäftigt. Sie ist 29 Jahre alt, hat einen zweijährigen Sohn und ist verheiratet mit einem Software-Experten, der für eine der größten Versicherungsgesellschaften in New York arbeitet. Shobhana lebt seit über vier Jahren in einem Vorort von New York in New Jersey, wo sich viele Inder niedergelassen haben. Sie bezog ein Jahresgehalt von 60.000 US-Dollar und ihr Ehemann verfügt über ein Jahreseinkommen von mehr als 100.000 US-Dollar. Vor ihrer Heirat lebte Shobhana in Gujarat, einem der wirtschaftlich am fortgeschrittensten Bundesstaaten Indiens. Ursprünglich stammt sie aus Tamil Nadu, von wo die meisten Ingenieure und Software-Experten des Landes kommen. Da sie aus einem Umfeld stammt, in der eine Ausbildung und die Berufstätigkeit für Frauen zur Norm gehören, hat sie sich bewusst für einen gut bezahlten Beruf entschieden und qualifiziert. Daher war sie noch unverheiratet, als sie plante, in die Vereinigten Staaten auszuwandern. Allerdings waren ihre Eltern, wie die der meisten unverheirateten jungen Frauen in Indien, nicht damit einverstanden, dass ihre Tochter ohne Ehemann ins Ausland gehen wollte. Daher arbeitete sie zunächst als Software-Expertin für Programme der Firma Oracle in einer Outsourcing-Firma in Gujarat. Nach ihrer Heirat - einer von Eltern und Verwandten arrangierten Verbindung mit einem Software-Experten - zog sie nach New York und fand dank ihrer Erfahrung mit den weit verbreiteten Oracle-und PowerBuilder-Programmen eine Stelle. Sie arbeitete zweieinhalb Jahre für United Media und gab die Stelle auf, als ihr Sohn sechs Monate alt war. Es kostete zu viel Zeit, gleichzeitig für ihr Kind zu sorgen und zur Arbeit zwischen New York und New Jersey zu pendeln. Als ihr Sohn anderthalb Jahre alt war und in einer Kinderkrippe untergebracht werden konnte, begann sie, wieder nach einer Stelle zu suchen. Zu diesem Zeitpunkt hatte aber bereits eine Rezession in der amerikanischen Wirtschaft eingesetzt und ihre Kenntnisse, die vor einem Jahr noch gefragt waren, galten als überholt. Heute, nach einem Jahr Stellensuche, hat sie sich damit abgefunden, dass eine Unterbrechung des Arbeitslebens von einem Jahr in einer sich rapide wandelnden Branche wie der Softwareindustrie zu viel ist. Wie viele ihrer Landsleute macht sie jetzt die Erfahrung, dass sie sich weiterbilden muss, bevor sie wieder eine Stelle finden wird. Shobhana steht vor der doppelten Herausforderung, dass sie als Frau Arbeit und Familie vereinbaren muss, dabei keine staatliche Unterstützung in Anspruch nehmen kann, und gleichzeitig in einer Branche arbeitet, in der Generationswechsel in äußerst kurzen Zeitspannen erfolgen. Gayathri Vasudevan |
aus: der überblick 03/2002, Seite 51
AUTOR(EN):
Gayathri Vasudevan:
Gayathri Vasudevan promovierte am "Institute for Social and Economic Change" in Bangalore, Indien. Sie erstellt Studien und Projektvorschläge im Auftrag der Weltbank, des "United Nations Development Programme" und der "International Labour Organization".