Das alternative Radio "La Tribu" in Argentinien hat sich zu einem Zentrum der Rundfunk-Fortbildung entwickelt
Die Medien werden in vielen Ländern Lateinamerikas von wenigen Großunternehmen kontrolliert; ihre Programme sind stark kommerziell orientiert. Basis-Radios spielen deshalb eine wichtige Rolle bei der Förderung von Demokratie und Entwicklung. Das Radio "La Tribu" in Argentinien, das dem Zusammenschluss für christliche Kommunikation (WACC, World Association for Christian Comunication) angehört, bildet Mitarbeitende von Basisradios fort. Der EED unterstützt das Programm.
von Antje Krüger
In Paaren oder kleinen Gruppen kommen sie herein. Die Augen müssen sich erst an das Dunkel in der langgestreckten Bar des Radios "La Tribu" gewöhnen. Am Tisch sitzen schon die ersten, eine Tasse Kaffee vor sich. Aufnahmegeräte und Mikrofone liegen zwischen Thermoskannen und Pausenkeksen. "Und, habt ihr alle Interviews geschafft?", fragt einer in den Raum rein. Alle sprechen spanisch, aber die Akzente verraten die unterschiedliche Herkunft. Da sind Juana von einem Frauenradio aus Guatemala und der wortkarge Jos, der einen Sender von Indigenen im Norden Argentiniens leitet. Eine Frau aus Peru hört schweigend dem Stimmgewirr zu. Andere kommen aus Chile oder Uruguay. Bald klatscht die Organisatorin Larisa Kejval in die Hände. Weiter geht es im Programm, hoch in die Unterrichtsräume des dreistöckigen Hauses. Hier werden die auf der Straße gesammelten O-Töne ausgewertet.
Die fünfzehn jungen Männer und Frauen sind nach Buenos Aires gereist, um mehr übers Radiomachen zu lernen. Sie besuchen einen Workshop, den das alternative Radio "La Tribu" gemeinsam mit der Deutschen Welle veranstaltet. Viele Ideale von alternativen Medien, nichtkommerziellen Sendern und kooperativ geführten Projekten, die oft milde belächelte wurden, hat dieses Radio verwirklicht. Sie funktionieren seit mehr als 15 Jahren. Doch dass "La Tribu" ein Zentrum internationaler Radioseminare werden würde, hätten die Gründer des gemeinschaftlichen Senders 1989 nie geahnt.
1983, sechs Jahre zuvor, war in Argentinien eine der blutigsten Militärdiktaturen in Lateinamerika zu Ende gegangen. Die Argentinier mussten mit dem Trauma von mehr als 30.000 Toten und Verschwundenen leben lernen. Der Aufbruch in die neue Demokratie war gekennzeichnet von Enthusiasmus, Engagement und einer Unmenge von Ideen. Der Sturz der Militärs ging mit dem Wunsch einher, die Gesellschaft neu zu strukturieren.
1989 hätte in Buenos Aires die Enttäuschung nicht größer sein können. Die erste demokratisch gewählte Regierung hatte das Land in eine Wirtschaftskrise geführt, den Forderungen von aufständischen Militärs nachgegeben und Gesetze verabschiedet, welche die Folterer und Mörder von einst begünstigten. Aufklärung tat Not, fand eine Gruppe von Kommunikationsstudenten der Universität Buenos Aires. Aufklärung, um wieder an die Demokratieideale von 1983 anzuknüpfen und Argentinien nicht der Resignation preiszugeben.
Die technische Entwicklung spielte den Studenten in die Hand, ein Mangel an Medien ebenfalls. Mit etwas Bastlergeschick konnte, wer wollte, sich eine Radiostation bauen. Die Gruppe fing an, heimlich aus der 14. Etage eines Mietshauses zu senden. Die bevorzugten Themen: Die Straflosigkeit der Militärs, die wachsenden sozialen Ungerechtigkeiten im Land, der beginnende Ausverkauf nationaler Industrien, der Mangel an Kommunikationsmedien. Wie ein kleiner Stamm hockte die Studentengruppe in ihrer Sendehöhle in der 14. Etage. So entstand der Name des Radios: "La Tribu", der (Volks)Stamm.
Was sie dort taten, war laut dem noch immer geltenden Kommunikationsgesetz aus der Zeit der Diktatur verboten. Doch nutzten mittlerweile immer mehr Menschen die Möglichkeiten, die ihnen die Technik bot. Mehr als dreitausend solcher Radios entstanden im ganzen Land. Nicht alle waren politisch motiviert. Viele nutzten die Sender auch nur als Werbefläche. Doch hatte dieses massenhafte Phänomen einen Vorteil: Die Radiomacher konnten sich eine Lobby schaffen. Auch wenn bis heute das Kommunikationsgesetz der Militärs gilt, konnte doch zumindest eine Duldung der Sender durchgesetzt werden. So konnte "La Tribu" seine Höhle hoch über der Stadt verlassen und in das Haus in der Straße Lambar einziehen. "Diese Straße liegt im geographischen Zentrum von Buenos Aires. Von hier aus haben wir einen weiten Sendekreis. Außerdem war dies damals das Studentenviertel der Stadt und alle Beteiligten wohnten in unmittelbarer Nähe", erzählt Gastón Montells.
Neben ihm sitzt Larisa Kejval, welche die Workshopteilnehmer erfolgreich auf die Unterrichtsräume verteilt hat und sich nun eine Pause gönnt. Zu den beiden 30-Jährigen stößt noch Laura Rodriguez, mit ihren 26 Jahren Vertreterin der dritten Generation im Führungskern von "La Tribu". Alle drei haben sie Kommunikationswissenschaft studiert. Und alle drei sind sie über ihren Professor Ernesto Lamas, einen der Initiatoren des Radios, zu "La Tribu" gekommen. "Das fängt bei allen gleich an", lacht Laura. "Zuerst hilfst du ein bisschen bei den Sendungen, dann machst du Interviews, bringst Ideen ein, bis du plötzlich dein erstes Programm selbst gestaltest. Und dann stellst du fest, dass du mittlerweile jeden Tag hier und irgendwann Bestandteil der Gruppe geworden bist", erklärt sie.
Über 150 Leute arbeiten mittlerweile für und mit "La Tribu" . Vierzig davon gehören zum festen Kern, der gemeinschaftlich das Radio leitet. "La Tribu" sendet jeden Tag von morgens bis abends. Gleichzeitig laufen Schulungen, Workshops und Seminare, und unten in der Bar finden Ausstellungen oder Konzerte statt. Der Sender ist längst über sich hinausgewachsen. "Für uns ist 'La Tribu' mehr als nur ein Radio. Es ist ein Lebensprojekt. Genau daraus zieht es auch seine Kraft. Wer hier arbeitet, identifiziert sich mit dem Sender. Durch diese Identität können wir in der großen Masse der Kommunikationsmedien existieren", sagt Gastón. Motto, Ziel und Weg von "La Tribu" lauten "Schalt 'La Tribu' aus und mach Dein Radio". "Für 'La Tribu' war es immer wichtig, neue Projekte anzustoßen. Die Leute sollen hier aus den Workshops gehen und selbst aktiv werden. Deshalb arbeiten wir auch so viel mit Netzwerken zusammen", erklärt Gastón. "Jedes kommerzielle Radio würde sich freuen, wenn seine Konkurrenz eingeht. Für uns aber ist es ein Grund zu feiern, wenn immer mehr alternative Projekte entstehen, welche den Leuten Raum bieten, sich auszudrücken und kreativ zu werden", fügt Laura hinzu.
Das Thema Integration steht nicht nur auf dem Radioprogramm, sondern ist auch ein Schwerpunkt des Alltags im Haus. Entscheidungen werden gemeinsam gefällt, es gibt keinen Chef, eher eine Art offener Führungsriege. Die Aufgabenteilung ist fließend, einige der alten Gründer des Radios arbeiten Hand in Hand mit 18-Jährigen auf gleichberechtigter Basis. Das funktioniert nur in einem toleranten, offenen und solidarischen Umfeld. Direkte Demokratie bei der Programmgestaltung, den Sendungen und der Organisation wird groß geschrieben. "Für uns ist es wichtig, uns nie an uns selbst zu gewöhnen und in einen feste Logik abzurutschen nach dem Motto, das haben wir einmal so gemacht, das war gut und nun muss es immer so laufen. 'La Tribu' ist so erfolgreich, weil wir es täglich schaffen, neuen Leuten mit neuen Ideen Platz zu machen", meint Gastón.
Neben den Idealen gilt es aber auch, sich mit den kleinen, alltäglichen Problemen herumzuschlagen. Laura verdreht nur die Augen bei der Frage. "Hier steht die Finanzierung an erster Stelle. Wir erhalten projektgebundene Zuschüsse und finanzieren uns über Kurse und Veranstaltungen. Innerhalb des Netzwerks Alternativer Radios in Südamerika erhalten wir auch Unterstützung vom EED", zählt sie auf. Hinzu kommt der seit Jahren schwelende Konflikt um die Legalisierung gemeinschaftlicher Radios. Noch immer werden "La Tribu" und ähnliche Radios nur geduldet, eine Duldung, die sich mit jedem politischen Wechsel ändern könnte trotz des breiten Publikums und der selbst an der Universität von Buenos Aires anerkannten Weiterbildung junger Radiojournalisten.
Es ist inzwischen Nachmittag geworden. Im Haus in der Straße Lambar summt es wie in einem Bienenstock. Auf der zweiten Etage wird live gesendet. Im Raum davor diskutiert eine Gruppe Jugendlicher, verteilt über ausrangierte Sofas, das nächste Programm. Wütend knallt hinter ihnen jemand die Tür zu, nachdem er das dritte Mal bei einem Interview gestört wurde. Unten in der Bar hocken aufgeregt drei Mädchen. Sie haben soeben das Abitur abgelegt, hantieren wichtig mit Zettel und Stift und warten auf den Beginn des nächsten Workshops. Etwas abseits am langen Tisch mit den Thermoskannen wird der Dienstplan des Sendewagens überarbeitet. Morgen findet eine große Demonstration gegen den Militärputsch vor 29 Jahren statt. "La Tribu" ist wie selbstverständlich mit dabei. Auch das gehört zur Identität des Radios: "Wir arbeiten sehr eng mit den Menschenrechtsorganisationen in Argentinien zusammen. Die persönliche Freiheit und Integrität ist auch ein ständiges Thema unserer Sendungen. Wir sind schon seit vielen Jahren ein Radio und ein sozialer Akteur zugleich", sagt Gastón.
Ein Umstand, der nach der Finanzkrise 2001, im Moment des politischen, wirtschaftlichen und sozialen Zusammenbruchs Argentiniens, dem Radio einen unerwarteten Zulauf bescherte. Die offiziellen Medien hatten sich im Korruptionssumpf der argentinischen Politik sämtlich diskreditiert. Die Menschen wollten ihre Gesellschaft von unten her neu gestalten. "Plötzlich wurden Leute, die uns normalerweise nicht hörten, neugierig auf diese Art von Projekt ", erinnert sich Gastón.
Der Umbruch in Argentinien hat "La Tribu" zu einer noch größeren Akzeptanz verholfen. Die Kurse und Seminare sind voll, die Nachfrage und Mithilfe bei Programmen angestiegen. Auch das Publikum ist bunter geworden. Spezielle Sendungen richten sich an andere Nationalitäten in Buenos Aires, wie an die Gruppe der Uruguayer. "La Tribu" begleitet die Arbeiter in besetzten und wieder in Gang gebrachten Fabriken. Es berichtet von Nachbarschaftsversammlungen und über die Arbeitslosenproteste der sogenannten Piqueteros. Es rezensiert Stücke in Off-Theatern, produziert CDs unbekannter Bands kurz, das Radio gibt all jenen Öffentlichkeit, die in einer Nische Neues schaffen. Jetzt versucht es auch, noch mehr Wert auf Sendungen für Jugendliche zu legen.
Nachwuchsmangel muss das Radio im Moment nicht fürchten. Die drei aufgeregten Mädchen aus der Bar haben ihren ersten Workshop hinter sich. Mit dem ersten Auftrag für Interviews verlassen sie das Haus, ein Mikrofon im Anschlag. Sie wollen Leute auf der Straße zu ihren Erinnerungen an den Putsch vor 29 Jahren befragen. Bringen sie gutes Material mit, so wurde ihnen versprochen, dann kommt das gleich morgen mit auf Sendung. Der Enthusiasmus, mit dem die drei losziehen, ist ansteckend.
aus: der überblick 03/2005, Seite 77
AUTOR(EN):
Antje Krüger
Antje Krüger ist freie Journalistin in Berlin mit Themenschwerpunkt Südamerika. Sie hat im Frühjahr Argentinien und Chile besucht (die Reise wurde vom EED gefördert).