Geschichten von karitativ engagierten Gläubigen in der Volksrepublik China
Fan Huimins Stimme stockt. "Oft komme ich mir so hilflos vor", sagt die 30-jährige mit dem runden Gesicht. Ihr Blick schweift über die liebevoll aufgeklebten roten Schleifen an den schlichten Kalkwänden des AIDS-Zentrums der Stadt Shahe in der zentral-nördlichen Provinz Hebei. "Mit unserer Arbeit ist viel Feindseligkeit und Ächtung verbunden", sagt Fan und hält das silberne Kreuz fest, welches an einer Kette über ihrer weißen Bluse baumelt. Das Zentrum der katholischen Stiftung Jinde Charities liegt im 3. Stock des verfallenen Hinterhauses eines Gemischtwarenladens am nördlichen Stadtrand. Lila und gelbe Plakatfetzen von Umzugsfirmen kleben in den staubig-dunklen Treppenaufgängen. "Wenn der Vermieter und die Nachbarn wüssten, dass wir hier ein AIDS-Zentrum betreiben, würden sie uns vermutlich wegjagen, denn die Leute denken bei AIDS sofort an etwas Schlechtes."
von Kristin Kupfer
Deshalb hängt auch anderthalb Jahre nach dem Einzug weder vor dem Hauseingang noch an der dunkelgrünen Bürotür ein Schild. Das Ende 2002 gegründete Zentrum, in dem außer Fan noch zwei weitere Schwestern arbeiten, ist offiziell als soziales Servicecenter bekannt. Ihre Klienten kommen meistens auf Empfehlung anderer Infizierter. "Du bist geliebt und willkommen", steht in roten Schriftzeichen über den drei schlichten Holzsofas an der Wand. "Die Betroffenen sind ängstlich und skeptisch, wenn sie das erste Mal kommen", sagt Fan. Denn sie sind es nicht gewohnt, dass ihnen jemand einfach zuhört und sie unterstützt.
Der rapide und lange Zeit einseitig wachstumsorientierte Modernisierungsprozess hat eine ungleiche Gesellschaft hinterlassen: Die reichsten zehn Prozent der Bevölkerung verdienen rund 45 Prozent des nationalen Einkommens, die ärmsten zehn Prozent dagegen nur 1,4 Prozent. Die ländlichen Bewohner, gut zwei Drittel der Bevölkerung, haben mit knapp unter 300 Euro im Jahr nur ein Drittel des Durchschnittseinkommens, das Städtern zur Verfügung steht. Die kommunistische Partei hat sich mehr und mehr aus ihrer Rolle des paternalistischen Rundumversorgers zurückgezogen. Soziale Sicherungssysteme sind im ländlichen China kaum vorhanden. Durch Abwanderung in die Städte und Industrialisierung des Landes bröckelt der traditionelle Zusammenhalt von Dorf- und Familienstrukturen. Aus Konkurrenz um Aufmerksamkeit und Geld oder infolge Unwissens werden sozial Schwache oft verspottet und ausgegrenzt.
Seit 2002 bemüht sich die chinesische Regierung im Rahmen des "Aufbaus einer harmonischen Gesellschaft" benachteiligte Bauern und Wanderarbeiter sowie diskriminierte Kranke und Behinderte zu fördern. Denn eine wachsende Zahl von lokalen Protesten gegen soziale Missstände untergraben die Legitimität des kommunistischen Regimes. Karitative Aktivitäten von sozialen Organisationen schätzt Peking auch als kontrollierbaren Katalysator für organisierten Unwillen und Aktionsdrang der Bevölkerung. Bevor sich eine karitative Organisation offiziell registrieren kann, muss sie sich den rigiden organisatorischen und finanziellen Auflagen des Staates unterordnen. So sind nur rund 100 karitative Organisationen offiziell gemeldet. Soziale Projekte, die sich nicht registrieren wollen oder denen der Staat die Anerkennung verweigert, sind damit vom Gutdünken der lokalen Behörden abhängig.
Gegenüber karitativen Aktivitäten religiöser Gruppen sind offizielle Stellen besonders skeptisch. Angesichts einer fragilen und sinnentleerten post-kommunistischen Gesellschaft fürchtet Peking den Einfluss alternativer Wertesysteme. Deshalb verbietet das kommunistische Regime den Glaubensorganisationen in Wohlfahrtsprojekten außerhalb der eigenen Gemeinschaft zu missionieren. Aber Chinas Führung will das soziale Engagement von Gläubigen für ihre eigenen Zwecke nutzen. Laut einer Studie von Deng Guosheng, Professor am Forschungsinstitut für nichtstaatliche Organisationen (NGOs) an der chinesischen Eliteuniversität Qinghua, arbeiten religiös motivierte karitative Projekte meist effizienter und kostengünstiger als solche ohne Glaubenshintergrund.
Der Gebetsraum des AIDS-Zentrums in Shahe liegt im hintersten Nebenzimmer abgetrennt durch eine Plastikfaltwand. "Wenn sich die HIV- Infizierten gar nicht beruhigen können, dann bieten wir ihnen eine gemeinsame Stille oder ein Gebet an", sagt Schwester Fan und zeigt auf die helle Jesusfigur, die auf einem kleinen Hocker in dem ansonsten leeren Raum in der Ecke steht. Fan, die aus einer katholischen Familie stammt, ist vor anderthalb Jahren von ihrem Konvent Xingtai in der Provinz Hebei hierher geschickt worden. "Mein Glaube hilft mir sehr bei der Arbeit", sagte sie. Doch von diesem erzählt sie den Besuchern nur, wenn diese danach fragen. "Viele Patienten wollen am Anfang nichts mit uns zu tun haben, weil sie denken, wir wollen sie missionieren", ergänzt ihre Kollegin Schwester Li Yanzhi. Die quirlige Li in weißer Stoffhose und ausgeschnittenem schwarzen Shirt ist Leiterin des Aids-Projektes. Sie pendelt regelmäßig zwischen dem Zentrum und der zwei Eisenbahnstunden entfernten Provinzhauptstadt Shijiazhuang und muss dabei meistens in den übervollen Zügen stehen.
Dort hat Jinde Charities, die Pater John B. Zhang Shijiang 1997 unter dem Namen Beifang Jinde (Der Norden schreitet in der Tugend voran) gegründet hat, ihre Niederlassung. Gemeinsam mit zwei buddhistischen und einer daoistischen Wohlfahrtsorganisation gehört die katholische Jinde Charities und ihr protestantisches Pendant Aide (Amity Foundation) zu den bekanntesten religiösen karitativen Organisationen in der Volksrepublik. Alle Religionen inklusive des Islams unterhalten zahlreiche soziale Einrichtungen auf Ebene der Glaubensgemeinschaften. Die katholische Kirche in China betreibt in ihren offiziell anerkannten 100 Kirchenkreisen rund 350 soziale Einrichtungen, zwei Drittel davon sind Krankenhäuser.
Nicht erfasst sind die Projekte der nicht staatlich registrierten Untergrundkirchen. "Aufgrund der Beschäftigung mit internen Fragen hat die chinesische katholische Kirche den sozialen Dienst lange Zeit vernachlässigt", meint Jinde-Gründer Pater Zhang. Der 43-jährige Priester im dunkelblauen Hemd und schwarzer Anzughose legt die Hände auf den schweren, braunen Tisch im Konferenzraum der Stiftungszentrale. Die zwölf Büroräume von Jinde, welche neben der Sozialarbeit auch noch einen Verlag und ein Forschungsinstitut betreibt, erstrecken sich entlang eines dunkelgrauen Trakts des Theologischen Seminars der Provinz. "Am Anfang waren die lokalen Behörden total gegen meine Pläne eines sozialen Zentrums", erinnert sich Zhang. Inspiriert durch einen dreijährigen Studienaufenthalt auf den Philippinen und das Vorbild von Mutter Theresa ließ sich der beharrliche Priester jedoch nicht von seinem Vorhaben abbringen.
Seit dem vergangenen Jahr ist die Stiftung sogar offiziell registriert. Doch das Arbeitsumfeld ist danach nicht einfacher geworden: den Behörden muss Zhang immer wieder vermitteln, dass seine Organisation keine Wohlfahrtsmission betreibt. Dies wird immer dann besonders schwierig, wenn sich das politische Klima zwischen der Volksrepublik und dem Vatikan verschlechtert. Peking und der Heilige Stuhl ringen bis heute um die Hoheit bei der Besetzung von Kirchenämtern. Daneben muss der stets etwas in sich versunken wirkende Priester ausländischen Förderern versichern, dass er kein Handlager der staatsnahen Kirche ist. Der gegenüber verhält sich Zhang freundlich-distanziert, so dass an Fortbildungsseminaren seiner Stiftung auch sich offen bekennende Priester der Untergrundkirche teilnehmen können.
Religiöse Organisationen und Gemeinschaften, die sich karitativ engagieren wollen, sind mit unterschiedlichen Herausforderungen konfrontiert. Das Christentum wird in China immer noch als ausländische bzw. imperialistische Religion wahrgenommen. So haben Gemeinden und religiöse Gruppen mit misstrauischen Behörden und einer skeptischen Bevölkerung zu kämpfen. Als sinisierte beziehungsweise genuine Glaubensrichtungen finden karitative Aktivitäten von buddhistischen und daoistischen Vereinigungen leichter Anerkennung. Die Aktivitäten der Tempel richten sich fast ausschließlich an die eigene Klientel, Überseechinesen versorgen die Tempel zudem mit großzügigen Spenden. Innerhalb der christlichen Kirchen mangelt es dagegen an Geld und Personal für Sozialarbeit.
Nicht nur ausländische Fördermittel, sondern auch ein Engagement für Nicht-Gläubige muss innerhalb der Gruppen und Gemeinde oft gerechtfertig werden. So findet im Wohlfahrtsbereich interreligiöse Zusammenarbeit kaum statt. Erstmalig veranstalteten jedoch die beiden Stiftungen Amity Foundation und Jinde Charities Ende Juni 2007 an der Volksuniversität in Peking ein Symposium zum Thema "Vergangenheit und Zukunft religiöser Wohlfahrt in China". Vertreter aller fünf staatlich anerkannten Glaubensrichtungen sowie Wissenschaftler und Regierungsvertreter diskutierten gemeinsam über die Rolle von religiösem karitativen Engagement, wobei der interreligiöse Dialog als besonders wichtig hervorgehoben wurde.
Chen Hongxing, leitender Funktionär im staatlichen Amt für Religiöse Angelegenheiten, wertete dabei die Rolle von Religion in seiner Eröffnungsrede deutlich auf: "Religion an sich ist umfassende Liebe, karitativ und gut für die Gesellschaft. Das ist ein wichtiger Grund, warum sich Leute dem Glauben zu wenden." Die Konferenzteilnehmer betonten, dass sich die chinesischen Religionen traditionell mit Umwelt und Leben des Einzelnen beschäftigten. Angesichts der neuen sozialen Herausforderungen müssen sie sich jedoch neu ausrichten und andere Aktivitätsbereiche erschließen. Religiöse Wohlfahrt entwickelt sich mehr und mehr zu einem gesellschaftlichen Thema jenseits der Glaubensorganisationen. So initiieren eine wachsende Zahl von Journalisten, Rechtsanwälten oder Unternehmern individuelle Wohlfahrtsprojekte, die sie durch informelle Netzwerke festigen.
Ma Yingjuan ist eine von ihnen. Die 33-Jährige trägt ein fein besticktes Kopftuch über einem langärmeligen dunkelrot geblümten Samtoberteil. Auf einem Fortbildungsseminar für muslimische Lehrerinnen in der Stadt Lanzhou trägt sie ihre Erfahrungen vor. "Nach zwei langen Reisen habe ich für meinen geplanten Kindergarten nur 300 Yuan (umgerechnet rund 30 Euro) von einem Geschäftsmann bekommen", erzählt Ma, die der rund 10 Millionen großen muslimischen Minorität der Hui angehört. Auch die lokale Moschee wollte sie nicht bei ihrem Vorhaben unterstützen, insbesondere Mädchen eine vielseitige Lebensgrundlage zu schaffen. "Traditionell haben die Imame und die Hui insgesamt die Ausbildung von Frauen nie geschätzt", meint die kämpferische Ma, "doch ich habe mich in allem auf Allah verlassen."
Seit 1994 arbeitet die Chinesisch-Lehrerin als Journalistin beim Fernsehsender ihrer Heimatstadt Tianshui im Nordwesten Chinas. "Mangelnde Bildung ist oft die Ursache von Armut", fasst die Muslimin mit Kopftuch und rot geschminkten Lippen ihre Beobachtungen während der Recherchereisen zusammen. Trotz offizieller Gleichstellung und Förderung gehören ihre Landleute der Hui aufgrund von Diskriminierung und mangelndem Zugang zu Ressourcen zu den ärmsten Bevölkerungsteilen der ohnehin nicht sehr wohlhabenden Provinz. Ma unterrichtete zunächst am Wochenende ehrenamtlich an einer privaten muslimischen Mädchenschule. Wie sehr es aber bereits im Kindergärten an Grundlagen mangelt, merkte Ma, als ihre Tochter den einzigen Hort am Ort besuchte. Mit eigenem und geliehenen Geld mietete die engagierte Journalistin im Frühjahr 2003 eine rund 200 Quadratmeter große Fläche in einem alten Fabrikhaus, verhandelte mit Behörden, kaufte Tische und Spielzeug und suchte ehrenamtliche Erzieherinnen. "Als Muslimin habe ich eine Verantwortung zum gesellschaftlichen Engagement für alle Menschen", sagt Ma und schaut zum ersten Mal ernst durch ihre ovale Brille, "dadurch kann ich auch ein Werk für die Verbreitung des Islam tun." Ihr Mann ernährt mit seinem Gehalt als Beamter im Wasserwerk die Familie. So steckt Ma ihr eigenes Gehalt plus Spenden von Freunden in den Kindergarten, der mittlerweile zehn Erzieherinnen für vier Gruppen hat. Die Eltern der 185 Kinder, die nicht nur Muslime sind, bezahlen 30 Yuan pro Monat. "Die Räume sind zu klein und die Ausstattung ist dürftig", sagt Ma, "ich muss mehr Gelder einwerben." Deshalb nimmt sie am dreitägigen Fortbildungsseminar des Xingbang (Blühender Ort) Zentrums für Kulturberatung und -service teil.
Der Direktor des Zentrums, Bai Shengyi, hat Ma Yingjuan persönlich eingeladen. "Bildung hat mein Leben verändert", sagt der 46-Jährige im blauen Polohemd und weißer Leinenhose. Seine Eltern waren Bauern und Analphabeten, Bai schaffte die Hochschulaufnahmeprüfung im zweiten Anlauf und studierte Geologie. ähnlich wie die Kindergartengründerin Ma berührte ihn auf seinen Projektreisen die Armut in den ländlichen Regionen seiner Heimatprovinz Gansu tief. 1997 hat er neben seiner Arbeit als Geologe für den Wohlfahrtsverband der Stadt Lanzhou Kleider und Mehl gesammelt und sie unter den Hui verteilt. 2005 gründete Bai mit einem Freund das Kulturzentrum und ließ es als Firma registrieren.
Bei den kostenlosen Alphabetisierungskursen und Berufsseminaren müssen die Teilnehmer nur Unterkunft und Anreise zahlen. Kursmaterialien und Essen übernimmt das Zentrum. "An Profit bin ich nicht interessiert", sagt Bai mit einem sanften Lächeln, "aber für offizielle karitative Organisationen gibt es zu viele Hindernisse in China."
Sein spärlich eingerichtetes Büro liegt im 5. Stock eines alten Wohngebäudes in einer Seitenstraße des muslimischen Viertels. Der Blick fällt auf die goldglänzenden Kuppeln der benachbarten Moschee. Der agile Bai wird still, wenn er über seinen Glauben spricht. "Laut dem Koran muss sich ein guter Muslim karitativen Aufgaben zuwenden", sagt der hochgewachsene Mann und fügt schnell hinzu, "wir sind aber keine religiöse Organisation". Bai will seine guten Kontakte zu den lokalen Behörden nicht auf die Probe stellen. Lieber verfolgt er seine Mission als Brückenbauer zwischen Moscheen, Regierung und karitativen Aktivisten wie der Kindergärtnerin Ma weiter.
Als Missionar für den Glauben in der Gesellschaft sieht sich auch Li Baiguang. "Ich will meine Klienten mit Gott trösten", sagt der überzeugte Protestant und Rechtsanwalt. Denn es sind verlorene Fälle, die der 39-jährige, schmächtig wirkende, Mann im dunklen Hemd und schwarzer Hose gegen die lokalen Behörden verteidigt: betrogene Bauern, verjagte Minoritäten und verfolgten Christen. Li hat noch keinen Fall gewonnen, verbrauchte dabei sein ganzes Geld und saß für sein Engagement viermal im Gefängnis. Als aktives Mitglied der chinesischen Hauskirchenbewegung, die genau wie die katholischen Untergrundgemeinden eine staatliche Registrierung ablehnen, will Li seine Arbeit in Zukunft ganz in den Dienst seines Glaubens stellen. Früher hat er seine Klienten nahezu kostenlos verteidigt. "Jetzt ist meine Bedingung ein Gespräch über das Evangelium", schmunzelt Li mit funkelnden Augen unter den schütteren Haaren. Auch im Umgang mit den Behörden schlägt der studierte Philosoph neue Töne an. Statt sich mit ihnen zu streiten, erzählt er ihnen jetzt Geschichten aus der Bibel. "Und manchmal hören sie sogar zu", sagt Li.
Hier trifft sich die Vision Lis mit dem karitativen Engagement des Geologen Bai Shengyi und auch dem Jinde-Gründer John B. Zhang. Sie demonstrieren nicht nur der chinesischen Führung, sondern auch der Bevölkerung, was religiöses Engagement wert ist und leisten kann.
aus: der überblick 03/2007, Seite 128
AUTOR(EN):
Kristin Kupfer
Kristin Kupfer ist China-Korrespondentin der österreichischen Zeitschrift "Profil" und lebt in Peking.