Tansania hat mehr Grund zur Hoffnung als die meisten anderen Länder Schwarzafrikas
In den sechziger Jahren ließ der Versuch Tansanias aufhorchen, sich einen eigenen afrikanischen Weg in die Zukunft zu bahnen. Als Entwicklungsminister im Kabinett Willy Brandts hatte Erhard Eppler mehrfach Gelegenheit, Tansanias Staatschef Julius Nyerere persönlich kennen und schätzen zu lernen. Er plädierte bis zu seinem Rücktritt im Jahr 1974 für die Unterstützung Nyereres.
von Erhard Eppler
Schon als das letzte Drittel des 20. Jahrhunderts begann, dachten viele in Europa darüber nach, was denn in einem Kontinent wie Afrika "Entwicklung" bedeuten könnte. Natürlich war schon damals bei vielen die Meinung im Schwange, die Völker des Südens hätten eben unseren Weg im Eiltempo zu durchschreiten, weit rascher als wir selbst. Vor allem aus den USA kam diese Vorstellung zu uns. Danach hatten wir denen, die nun "entwickelt" werden sollten, einfach zu zeigen, wie wir das gemacht haben, ihnen moderne Technik, moderne Verwaltung, freie Wirtschaft, moderne Demokratie beizubringen. So sind dann viele amerikanische und europäische Helfer in den sechziger Jahren ausgeschwärmt, um denen im Süden zu zeigen, wie sie es auch so herrlich weit bringen könnten, wie wir es schon gebracht hatten. Aber damals gab es mehr Zweifel an diesem naiven Entwicklungspathos als im beginnenden 21. Jahrhundert, in dem neoliberale Patentrezepte von der Welthandelsorganisation (WTO), dem Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank nicht nur vorgeschlagen und propagiert, sondern häufig auch erzwungen werden.
Im Westen fand sich nur eine winzige Minderheit, die den Ländern des Südens den kommunistischen Weg empfehlen wollte, sei es in der sowjetischen, sei es in der chinesischen Form. Dazu waren die wenigen Beispiele kaum verlockend. Umso mehr ließ der Versuch Tansanias aufhorchen, einen eigenen afrikanischen Weg in die Zukunft zu bahnen, auf ein eigenständiges Modell zu setzen, das seinen Ursprung nicht in europäischen Ideologien hatte, sondern in der afrikanischen Tradition, in den Dorfgemeinschaften Ostafrikas.
Nachdem ich im Oktober 1968 die Leitung des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit (BMZ) übernommen hatte, flog ich schon 1969 nach Ostafrika, auch nach Tansania. Lange Gespräche mit dem damaligen Finanzminister Amir Jamal und kürzere mit Julius Nyerere ließen deutlich werden, was da mit "afrikanischem Sozialismus", mit Ujamaa und mit self-reliance gemeint war. Die Arusha-Deklaration war noch frisch und wurde von allen gelesen, die sich um Afrika sorgten. Ich konnte zusehen, wie Julius Nyerere, der schmächtige, aber drahtige Präsident, selbst an einer einfachen Maschine Kunststeine formte und zum Trocknen auslegte. Er wollte seinen Mitbürgerinnen und Mitbürgern zeigen, wie man ohne gewaltige Investitionen, ohne riesige Kräne und Baumaschinen solide Häuser errichten konnte. Und es schien, als ob die Menschen ihren Präsidenten nicht nur bewunderten ob seiner Bescheidenheit, seines Fleißes und seiner Sorge für das Ganze, sondern auch bereit waren, seinem Vorbild zu folgen. Seine Botschaft war ja einfach: Wir dürfen uns nicht auf raffinierte Technik verlassen, die wir uns nicht leisten können, nicht auf fremde Investitionen, die uns abhängig machen können, auch nicht auf die Hilfe von Freunden. Wir müssen selbst anpacken mit den Mitteln und Werkzeugen, die wir selbst herstellen können. Und wir müssen, was wir erarbeiten, auch gerecht verteilen.
Von da ab gab es bei jedem Bundeshaushalt Streit zwischen dem BMZ und dem Auswärtigen Amt um die Zusagen an Tansania. Das BMZ wollte mehr, im Gegenzug weniger für das Brasilien der Generäle, beim Auswärtigen Amt war es umgekehrt. Das BMZ erreichte immer Steigerungen, wenn auch nicht so deutliche, wie das Entwicklungsressort für richtig hielt.
Bei meinem ersten Besuch in Tansania hatte ich in einer Tischrede erwähnt, dass der Unabhängigkeitstag Tansanias 1961 mit meinem 35. Geburtstag zusammengefallen war. So erreichte mich im Herbst 1971 eine Einladung von Julius Nyerere, ich möge doch - zusammen mit meiner Frau - meinen 45. Geburtstag in Dar es Salaam verbringen und mit ihm und den Seinen den zehnten Geburtstag seines Staates feiern. Das taten wir dann. Wir wohnten im Hause Amir Jamals, gingen von dort aus im Indischen Ozean baden, und ich hörte mir an, welche Sorgen ein tansanischer Finanzminister hatte, für den eine Million Mark etwa so wichtig war wie für den deutschen Kollegen eine Milliarde.
Das Programm der Zehnjahresfeiern war für einen Westeuropäer etwas befremdlich. Gewaltige Aufmärsche, genauestens einstudierte Demonstrationen in einem Stadion. Im Einparteistaat Tansania war nicht einmal ganz klar, ob die Einheiten, die da defilierten, Organe des Staates oder Organisationen der Staatspartei waren. Die Disziplin, mit der alles ablief, mochte Nostalgiker an die deutschen Kolonialherren erinnern, die auch in der Architektur ihre Spuren hinterlassen hatten. In Wirklichkeit eiferten die Veranstalter eher chinesischen Vorbildern nach.
Mein Verhältnis zu Nyerere war so, dass ich dies ansprechen konnte. Seine Antwort: Ja, das stimme, er halte von den Chinesen mehr als von den Sowjets. Er erzählte von einem Besuch in Moskau, wo man ihn gewaltig hofiert habe. Aber er habe so oft das Wort "Frieden" gehört, dass er schließlich nicht mehr habe glauben können, dass diese Leute es ernst damit meinten. Und im Übrigen: Wenn man sich mit den Sowjets einlasse, müsse man gewaltig aufpassen, dass man nicht abhängig werde. Das sei bei den Chinesen anders, die hätten noch lange nicht die Macht, einem Land wie Tansania vorzuschreiben, was es zu tun habe.
Das war kein Visionär, kein theoretisierender Intellektueller, der da sprach, sondern ein nüchtern abwägender Staatsmann. Er war sogar fähig zur Selbstkritik und zur Selbstironie. Als er mir zum Abschied zwei Bände seiner Reden und Aufsätze - in Schweinsleder gebunden - überreichte, musste ich mich nicht verbiegen, um ihm ein paar Komplimente zu dem zu machen, was ich schon gelesen hatte. Er lächelte: "Ich bin eben in der Theorie besser als in der Praxis." Meine Antwort: "Das sagt man auch von mir!" Wir lachten beide.
Damals arbeitete in der deutschen Botschaft in Dar es Salaam ein kluger junger Diplomat, der sich sehr für die Zukunft Afrikas interessierte. Als ich ihm von der Begegnung mit Nyerere erzählte, packte er aus: Ja, Nyerere wisse sehr wohl, wie wenige seiner Landsleute bereit seien, einigermaßen selbstlos für den Aufbau einer gerechten Gesellschaft zu arbeiten, wie schon unmittelbar hinter seinen engsten Mitarbeitern die Korruption beginne. Nyerere wisse auch, dass er gegen den Strom schwimme: Schon in Kenia, dem reichsten der ostafrikanischen Länder, huldige man einem simplen Kapitalismus und gebe seinem Experiment wenig Chancen. Und natürlich betrachteten die USA und mit ihnen die Weltbank und der IWF Nyereres Pläne nicht eben mit Wohlwollen. Wenn schon ausländische Investitionen nach Ostafrika flössen, dann nicht in das Land des "afrikanischen Sozialismus". Er selbst, der Diplomat, wünsche Nyerere Erfolg, und er tue dafür, was er könne, aber für den guten Ausgang wolle er nicht bürgen.
So waren es auch nur wenige Länder, die von Europa aus das tansanische Experiment stützten: An erster Stelle und am deutlichsten die Skandinavier, dann die Niederländer und die Deutschen. In Großbritannien waren die Labour-Regierungen Nyerere geneigter als die Konservativen. Frankreich konzentrierte sich ohnehin auf seine früheren Kolonien.
Ich plädierte bis zu meinem Rücktritt im Jahr 1974 für die Unterstützung Nyereres. Nicht, weil ich von seinem Erfolg überzeugt war, sondern weil ich am Erfolg der anderen Modelle zweifelte. Als Gegenmodell zu Tansania galt damals die Elfenbeinküste - autoritär regiert von Félix Houphouët-Boigny, aber mit einer freien, kapitalistischen Wirtschaft. Was ich schon damals befürchtete, ist inzwischen Gewissheit: Ein stabiles Entwicklungsmodell ist auch dies nicht. Seit dem Tod des großen Alten, den ich 1969 im Gefolge von Präsident Heinrich Lübke besucht hatte, beginnt auch dieses ungleich reichere Land unter den Übeln Afrikas zu leiden - dem Staatsverfall und der Privatisierung und Kommerzialisierung der Gewalt.
Heute fällt es leicht, über die "Naivität" von Nyereres afrikanischem Sozialismus zu lächeln, über seinen Versuch, auf der afrikanischen Tradition der Dorfgemeinschaften ein genossenschaftliches Modell aufzubauen. Nyerere ist tot, gestorben als einer der wenigen Unbestechlichen im modernen Afrika, als ein Seher, der an der Wirklichkeit gescheitert ist. Vielleicht wird uns allen das Lächeln noch vergehen, dann nämlich, wenn zu den entfesselten Waren- und Finanzmärkten noch der grenzenlose Gewaltmarkt getreten ist, wenn in Afrika nach den Staaten auch die Märkte zusammenbrechen, weil ohne Rechtssicherheit, ohne staatliches Gewaltmonopol, ohne eine funktionierende Verwaltung auch keine Geschäfte zu machen sind.
Schon heute rücken die Institutionen wieder ins Zentrum des Interesses derer, die Entwicklung fördern wollen. Man freut sich über jede funktionierende Gemeinde, jede Genossenschaft, die sich selbst verwalten kann. Ist es Zufall oder hat es doch mit Nyereres Ujamaa-Politik zu tun, wenn Rainer Tetzlaff in der Zeitschrift "Aus Politik und Zeitgeschichte" (B 13 - 14/2002) Tansania zu den neun (!) Staaten in Afrika zählt, "in denen das Gewaltmonopol des Staates weitgehend gesichert, politische Partizipation mittels freier und fairer Wahlen Gewähr leistet ist und auf dem langen Weg zum verfassten Rechtsstaat (Unabhängigkeit der Justiz) bereits einige spürbare Fortschritte erzielt worden sind"? Tansania ist arm geblieben. Aber es hat mehr Grund zur Hoffnung als die meisten anderen Länder Schwarzafrikas.
aus: der überblick 02/2002, Seite 45
AUTOR(EN):
Erhard Eppler:
Dr. Erhard Eppler war von 1968 bis 1974 im Kabinett von Willy Brandt Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit. 1977 bis 1983 war er im Vorstand des Deutschen Evangelischen Kirchentages, 1981 bis 1983 und 1991 als Kirchentagspräsident, seit 1981 gehört er dem Kirchentagspräsidium an.