Geistige Planwirtschaft
Um die vietnamesische Jugend mit den Fertigkeiten auszurüsten, die für die Ankurbelung der Wirtschaft notwendig sind, lässt Vietnam ausländische Bildungseinrichtungen im Lande zu. Doch das kommunistische Regime erlaubt die geistige Öffnung nur in Maßen.
von Margot Cohen
Wie alle Wissenschaftler in Vietnam, die ihr Land voranbringen wollen, weiß die 52-jährige Ngo Kieu Oanh kreatives Denken bei ihren jungen Kolleginnen und Kollegen zu schätzen. Doch die Forscherin am Nationalen Zentrum für Naturwissenschaften und Technik glaubt, dass deren Potenzial durch ein staatliches Universitätssystem unterdrückt wird, das noch der Vergangenheit anhängt. Unterbezahlte Dozenten halten dort keine zeitgemäßen Vorlesungen und müssen durch Privatunterricht das Lebensnotwendige hinzuverdienen. Selbst den gescheitesten jungen Forschern, mit denen sie arbeite, müsse sie noch alles beibringen, sagt Oanh.
Natürlich erhofft sich Oanh etwas Besseres für ihre 18-jährige Tochter, die Web-Designerin werden will. Auf diese Weise meint sie zum Fortkommen Vietnams im Hightech-Bereich einen Beitrag leisten zu können. Doch Oanh will ihre Tochter nicht zum Studium ins Ausland schicken, weil sie fürchtet, diese könne Heimweh bekommen oder den Kontakt zu ihrer Kultur verlieren. Deshalb nehmen beide an einer Informationsveranstaltung über Vietnams erste Privatuniversität teil, die voll in ausländischem Besitz ist. Die neu geschaffene Lehranstalt des australischen Royal Melbourne Institute of Technology (RMIT) befindet sich in Ho-Tschi-Minh-Stadt. Mit ihrer Hilfe soll das antiquierte vietnamesische Bildungssystem umgestaltet und die Volkswirtschaft angekurbelt werden. Rasch können sich Oanh und ihre Tochter für ein dreijähriges Studienprogramm in angewandter Wissenschaft in den Bereichen Informationstechnologie (IT) und Multimedia entscheiden. Die gesamten Kosten bis zum Universitätsabschluss betragen 7900 US-Dollar.
Das RMIT rechnet mit einer wachsenden Anzahl vietnamesischer Eltern wie Oanh: Ihre Kinder sollen mit den Fertigkeiten ausgerüstet werden, die für eine Karriere in einer wettbewerbsfähigen, modernen Gesellschaft notwendig sind. Michael Mann, der Präsident von RMIT-Vietnam und ehemaliger australischer Botschafter in Vietnam, weiß, dass das Heer der Studienwilligen größer ist, als das Bruttoinlandsprodukt Vietnams von 430 US-Dollar pro Kopf vermuten ließe. Marktforschungen haben ergeben, dass die städtische Bevölkerung über ein wachsendes Einkommen verfügt und eine höhere Ausbildung für sie Priorität hat. Diese Familien wollen nicht länger hinnehmen, dass ihre Kinder oft unterbeschäftigt sind, wenn sie die Hochschule nur mit einem vietnamesischen Abschluss verlassen. Die astronomischen Studiengebühren im Ausland können sich viele Eltern nicht leisten, und Stipendien für ein Auslandsstudium sind rar.
Trotzdem ist dies nicht die typische Geschichte eines asiatischen Landes, das ausländische Bildungsangebote mit offenen Armen aufnimmt. Es ist vielmehr die Geschichte eines kommunistischen Landes, das durch wirtschaftliche Zwänge in die Enge getrieben wird, jedoch zögert, seine eigenen verknöcherten Universitäten zu reformieren. Zu groß ist die Angst der Regierung davor, dass jegliches ernsthaftes Eintreten für die Förderung eines kritischen Denkens Forderungen nach politischen Veränderungen auslösen könnte. Die Regierung Vietnams hat zwar die zentrale Planwirtschaft abgeschafft, Ackerland und die Gesundheitsversorgung privatisiert, doch hält sie die Universitäten des Landes an straffen Zügeln. Und diese Zügel könnten die wirtschaftlichen Ambitionen des Landes erdrosseln.
Vietnam aber will nicht länger nur billige Arbeitskräfte stellen, sondern strebt eine wissensbasierte Wirtschaft an. Und die wird es nur mit einem modernisierten Bildungssystem bekommen. Thomas Vallely, Direktor des Vietnamprogramms der John F. Kennedy School of Government an der Harvard Universität, meint dazu: "Ich glaube, man begreift allmählich, dass ausländische Direktinvestitionen folgen, wenn die Menschen gut ausgebildet sind."
Vietnams Einheitspartei begrüßt aus diesem Grund zwar einige Bildungsinitiativen aus dem Ausland. Aber für die ausländischen Ausbilder erweisen sich Versuche zur Verbesserung des Bildungswesens als heikler Balanceakt. Sie verstehen, was ihr Auftrag ist: Gebt uns die praktischen Kenntnisse in Computertechnik, Volkswirtschaft, Handel und Fremdsprachen, die wir benötigen, um in der globalen Wirtschaft wettbewerbsfähig zu sein und Investoren anzulocken. Aber vermeidet Geschichte, Literatur, Anthropologie oder andere Sozialwissenschaften, die in anfälligen jungen Köpfen zu viele Fragen aufwerfen könnten.
Manche Regierungsvertreter schätzen den praxisbezogenen Unterrichtsansatz von ausländischen Schulen wie dem RMIT. Diese Bildungseinrichtungen legen den Schwerpunkt auf Problemlösung durch aktuelle Fallstudien, ziehen Diskussionen in den Hörsälen den Vorlesungen vor und fördern eine Online-Ausbildung und die perfekte Beherrschung der englischen Sprache - ein nachahmenswertes Modell für die einheimische Universitäten. "Die vietnamesischen Universitäten müssen besser werden, um mit ausländischen Universitäten konkurrieren zu können", sagt Truong Song Duc, der Direktor der Bildungs- und Fortbildungsabteilung in Ho-Tschi-Minh-Stadt.
Die ausländischen Universitäten konzentrieren sich gerne auf Studienangebote in Wirtschaft und Informationstechnologie, denn dafür gibt es zahlungskräftige Nachfrage. 1,4 Millionen Studenten haben sich um die 168.000 Plätze an den einheimischen Universitäten beworben, was erkennen lässt, dass hier eine Angebotslücke besteht. Die will unter anderen die australische Swinburne University of Technology füllen, die dabei ist, einen Campus in der Südprovinz Ba Ria-Vung Tau einzurichten. Ferner arbeitet ein Konsortium aus französischen staatlichen Universitäten mit einer Gruppe von im Ausland lebenden vietnamesischen Privatinvestoren zusammen, um im Jahr 2004 eine Privatuniversität in Ho-Tschi-Minh-Stadt zu eröffnen.
Die Regierung genehmigt inzwischen auch mehr Studienprogramme, bei denen Studenten ihre Studien an einheimischen Universitäten beginnen, dann aber ihren Abschluss an ausländischen Institutionen machen. Viele Eltern haben allerdings Bedenken, ihre Kinder unbeaufsichtigt zum Studium ins Ausland zu schicken. Immerhin leben heute 25.000 vietnamesische Studenten im Ausland, und in Vietnam haben Nachrichten Wellen geschlagen, dass einzelne ins kriminelle Milieu abgeglitten und straffällig geworden waren. Und Australien hat zwischen Juli 2001 und März 2002 insgesamt 151 Studentenvisa für Vietnamesen annulliert, nachdem festgestellt worden war, dass die Studenten nicht zu den Vorlesungen erschienen. Wenn vietnamesische Studenten in den ersten beiden Jahren in dem vertrauten Umfeld in ihrem eigenen Land studierten, so sagen die Verantwortlichen in den Bildungsinstitutionen, seien sie psychologisch und in ihrem Bildungsniveau besser auf die im Ausland bestehenden Anforderungen vorbereitet.
Das meint auch Nguyen Ngoc My, ein Geschäftsmann, der zwischen Australien und Vietnam hin- und herpendelt. Er hilft beim Aufbau des Swinburne-Campus in Vietnam und berichtet: "Ich kenne etwa ein Dutzend vietnamesische Jugendliche in Sydney und Melbourne. Ihre Eltern haben mich gebeten, auf sie aufzupassen. Doch wie kann ich das tun? Es ist sehr schwer. Ich rufe sie an und sage: 'Studiert fleißig und geht nicht in die Disko.' Sie erwidern: 'Ja, ja'."
Für manche vietnamesische Regierungsbeamte, die ihre Kinder ins Ausland schicken, wird es immer schwieriger, den Fragen von unzufriedenen Bürgern auszuweichen, wie sie mit solch geringen staatlichen Gehältern überhaupt so eine phantastische Ausbildung für ihre Kinder finanzieren könnten. Vor kurzem beschuldigten die einheimischen Medien einen Polizeibeamten, Bestechungsgelder von einem Mafiaboss anzunehmen, um die Ausbildung seines Kindes in Australien bezahlen zu können. Die kanadische Einwanderungsbehörde etwa weist 40 Prozent der Anträge für Studentenvisa aus Vietnam ab, meistens aufgrund gefälschter Angaben über die finanziellen Verhältnisse. "Die Eltern haben vermutlich das Geld, aber sie können es nicht beweisen oder wollen es nicht", meint ein kanadischer Bildungsberater.
Die Weltbank und die Asiatische Entwicklungsbank haben Kredite in Höhe von 15 Millionen US-Dollar in das 36 Millionen Dollar teure RMIT-Unterfangen gesteckt. Doch manche Bildungsexperten meinen, es sei vordringlicher, den vietnamesischen Universitäten bei einer Bildungsreform zu helfen. Sie sehen das Ziel darin, ein breites Spektrum an jungen Menschen zu fördern, nicht nur wenige wohlhabende. "Wenn Vietnam ein modernes Land sein will, benötigt es eine moderne Universität", meint Vallely aus Harvard.
Er empfiehlt Vietnam jetzt, dem Beispiel Chinas zu folgen: Die chinesischen Führungskräfte haben Hunderte Millionen von Dollar in die Modernisierung der Universitäten Peking und Tsinghua gesteckt und den internationalen Austausch stark gefördert. Von der Wirtschaftskraft ihres Nachbarn beeindruckt, aber auch neidisch, sind die Vietnamesen jetzt auch bereit zuzuhören. Der stellvertretende Ministerpräsident Nguyen Manh Cam und andere hohe Regierungsvertreter sind vor kurzem mit führenden Pädagogen von den Universitäten Harvard und Princeton und vom Massachusetts Institute of Technology zusammengetroffen. Sie träumen davon, mit Hilfe der Weltbank Spitzenzentren der Wissenschaft und Technik in einer oder zwei führenden vietnamesischen Universitäten zu schaffen. Ähnliche Initiativen haben in Ländern wie Chile, Mexico und Brasilien die Forschung vorangetrieben und die Abwanderung von Spitzenkräften gebremst.
In Vietnam ist nicht nur die Abwanderung von Spitzenkräften das Problem, sondern auch die ungenügende Nutzung des Potenzials derer, die nach Hause zurückkehren. In der akademischen Welt des Landes lösen Innovationen häufig Argwohn und Eifersucht aus. Gefördert werden diejenigen, die am Status quo festhalten. Manche vietnamesischen Akademiker glauben, dass die kommunistische Partei in Zukunft die Zügel noch straffer halten wird, da der Parteiausschuss für Wissenschaft und Bildung künftig nicht nur eine Beraterrolle ausüben, sondern die Umsetzung geplanter Lehrplanänderungen und die Herausgabe von akademischen Publikationen selbst übernehmen soll. Im Juni 2002 gab der Ministerpräsident eine Direktive heraus, um die Lehre des Marxismus, des Leninismus und der "Gedanken von Ho Tschi Minh" in allen Universitäten zu verstärken: Also auch in den Ablegern aus dem Ausland; beim RMIT jedoch stehen solche Fächer bisher nicht auf dem Lehrplan.
Um so mehr muss es überraschen, dass der bekannteste Campus des Landes - die Vietnamesische Nationaluniversität in Hanoi - ein Pilotprojekt in die Wege leitet: Der Lehrplan für politische Wissenschaften soll um das Studium der amerikanischen Politik ausgeweitet werden. Manche Intellektuelle in Vietnam und im Ausland sind optimistisch, dass es den in den nächsten zehn Jahren aus dem Westen zurückkehrenden jungen Gelehrten gelingen wird, die akademische Welt in Vietnam umzugestalten. Der amerikanische Anthropologe Charles Kees verweist auf die akademischen Reformen in Thailand als Hoffnungszeichen dafür, dass auch Vietnam die Kurve kriegen könnte. "Schließlich bekommt man eine kritische Masse von neuen Menschen, die anders denken", meint Kees.
Es könnte sich schließlich als kontraproduktiv erweisen, wenn Vietnam die Sozialwissenschaften unterdrückt, während es die Wirtschafts- und IN-Studiengänge fördert. Solche Dichotomien machen wenig Sinn in einer globalen Wirtschaft, wo analytische Fertigkeiten in allen Bereichen benötigt werden. Wenn Vietnam seinem Bildungssystem nicht erlaubt, sich über starre Grenzen hinaus zu entwickeln, wird es als Land scheitern, da es nicht die Kreativität fördern kann, die es benötigt, um auf dem Weltmarkt bestehen zu können.
Und dann, so kann man hinzufügen, werden auch die Träume von motivierten Eltern wie Oanh zerstört.
Hochschulen in IndonesienMit Hightech zum Studium Jährlich bewerben sich in Indonesien 30 Millionen Schulabgänger um 2,5 Millionen Studienplätze. Dazu müssen sie eine schriftliche Zulassungsprüfung bestehen, die in Form eines multiple choice Testes - Fragen mit vorgegebenen Antworten zum Ankreuzen - durchgeführt wird. Um ihn zu bestehen, bedienen sich manche unerlaubter technischer Hilfsmittel. Wie der britische Guardian im August letzten Jahres berichtete, hat sich im Umfeld der staatlichen indonesischen Universitäten ein neuer Wirtschaftszweig entwickelt: Schummeln mit Hightech. So genannte jockeys haben sich darauf spezialisiert, die Prüflinge mit dem Notwendigen auszurüsten - nicht in Form von Kursen zur Prüfungsvorbereitung, sondern mit einem kleinem Handy auf dem neuesten technischen Stand oder einem Pager (einem Pieper wie sie etwa Ärzte haben). Damit halten die Aspiranten Kontakt zu den jockeys, die ihnen die richtigen Antworten durchgeben, kleine Fehler werden individuell mitgeliefert. An die Prüfungsfragen und Ergebnisse kommen die jockeys vermutlich über Bestechung oder Diebstahl. Sie kassieren für die Einweisung in die Technik etwa 2 Millionen indonesische Rupien (ungefähr 210 Euro), nach erfolgreichem Ergebnis kommen noch einmal 1050 Euro dazu. Das ist viel Geld in einem Land, in dem das durchschnittliche Jahreseinkommen bei etwa 600 Euro liegt. Zwar versucht der Staat gegen die jockeys und Schummler vorzugehen, indem die Aspiranten verstärkt gefilzt werden und lediglich drei Dinge mit in den Prüfungsraum nehmen dürfen: Ein Foto, um sich auszuweisen, einen Bleistift und einen Radiergummi. Doch war bisher der Erfolg bescheiden. Werden die Studenten in spe nicht erwischt, sparen sie doppelt: zum einen Arbeit für die Vorbereitungen, zum anderen Geld. Denn es ist günstiger, für das Schummeln zu bezahlen, als für die Studiengebühren an einer privaten Universität aufzukommen. Eva-Maria Eberle |
aus: der überblick 01/2003, Seite 14
AUTOR(EN):
Margot Cohen:
Margot Cohen schreibt als Journalistin für die "Far Eastern Economic Review", wo dieser Artikel am 1. August 2002 erschien. Wir drucken ihn mit freundlicher Genehmigung der Redaktion ab.