Selbst im indischen Christentum gibt es die kastenbedingte Diskriminierung
Sie beschreibt das Lebensgefühl der diskriminierten Dalit-Bevölkerung
von Brigitte Voykowitsch
Eines Tages, als Bama von der Dorfschule heimkehrte, sah sie einen Grundbesitzer an seinem Feld sitzen und die Ernte überwachen. "Ein alter Mann aus meiner Gasse war gerade auf dem Weg zu ihm. Er trug ein Päckchen, das mit einem langen Faden gebunden war. Doch anstatt das Päckchen mit der Hand zu fassen, hielt der Mann es nur mit den Fingerspitzen am Ende des Fadens. Für mich sah das so komisch aus, ich dachte, er würde spielen. ... Der Mann ging zum Grundbesitzer, verbeugte sich und reichte ihm das Päckchen, ... [in dem] ein Imbiss war." Als Bama ihrem Bruder von "diesem Mann, der so spielt", erzählte, verfinsterte sich dessen Miene. Von Spielen, klärte er seine Schwester auf, konnte keine Rede sein. Als Unberührbarer durfte der Mann das Päckchen nicht berühren, da es sonst verunreinigt gewesen wäre. "Da begriff ich erstmals, und es war so schmerzhaft für mich. ... Das Essen war in Bananenblätter gewickelt und darüber war noch Zeitungspapier gelegt, aber nicht einmal dieses durfte der Alte berühren. Das tat mir sehr weh. Von da an wurde ich mir der Lage der Dalits bewusst."
"Schmerz" ist ein Begriff, der immer wieder kehrt in Bamas Erzählungen - im Gespräch wie in ihren Texten. Und stets liegt dieser Schmerz in einer Ursache begründet: der Ächtung der Dalits, wie sich die Unberührbaren heute mehrheitlich nennen. Das sind jene rund 240 Millionen Menschen, die unter- und außerhalb des indischen Kastensystems stehen. Die meisten von ihnen leben weiter in größter Armut abgesondert am Rand von Dörfern und verdingen sich als Tagelöhner bei den oberen Kasten, häufig in Ausbeutungsverhältnissen, die denen der Leibeigenschaft gleich kommen. In der auf ritueller Reinheit basierenden Hindu-Hierarchie leiden sie bis heute unter dem Stigma der Unreinheit und müssen alle mit Schmutz, Blut und toter Materie verbundenen Arbeiten verrichten.
Dalits bedeutet so viel wie "gebrochene Menschen" und drückt zum einen die Ausgrenzung dieser Bevölkerungsgruppe aus, zum anderen aber auch ihre Entschlossenheit, sich gegen die Stigmatisierung zu wehren und um ihre Rechte zu kämpfen. Denn offiziell gibt es die Unberührbarkeit nicht mehr. Sie wurde 1950 durch die indische Bundesverfassung, laut der alle Inder und Inderinnen vor dem Gesetz gleich sind, abgeschafft. Dank staatlicher Förderungen sowie der Mobilisierung der Unberührbaren selbst hat sich heute eine kleine Dalit-Mittelklasse herausgebildet. Einzelne Dalits haben es zu Wohlstand gebracht, einige sind in hohe politische Ämter aufgestiegen. Doch sie bleiben die Ausnahmen in einer Gesellschaft, in der sich selbst religiöse Minderheiten - im Widerspruch zu ihrer Lehre - nicht dem Kastendenken entziehen können. So gibt es christliche Dalits ebenso wie buddhistische und muslimische.
Die Diskrepanz zwischen christlichen Prinzipien und gelebter Praxis musste Bama, deren Großeltern zum Christentum konvertiert waren, schon in ihrem Dorf im südindischen Bundesstaat Tamil Nadu erkennen. Doch sie ließ sich so schnell nicht beirren. Das hat sie von ihrem Vater, der davon überzeugt war, dass Bildung für die Emanzipation der Dalits ganz wichtig sei. Dank seines Dienstes in der indischen Armee konnte er das Schulgeld an die im Dorf verbliebene Familie schicken. So konnten alle Kinder, auch die 1958 geborene Tochter Bama, zur Schule gehen. Sie belegte Mathematik und Statistik am College, um später als Lehrerin Wissen vor allem an Dalitkinder zu vermitteln. Damit nicht genug: Trotz eigener negativer Erfahrungen in Klosterschulen beschloss sie, Nonne zu werden, in dem Glauben, damit den Entrechteten auch die Werte der Gleichheit und Menschlichkeit besser weitergeben zu können.
Doch wo wurde praktiziert, was sie an der christlichen Lehre so schätzte? Die Zeit im Kloster sollte für Bama eine, wie sie sagt, "schmerzliche und beengende Erfahrung" werden. Schmerzlich, weil sie stärker als je zuvor erleben musste, wie sehr kastenbedingte Diskriminierung selbst im indischen Christentum allgegenwärtig ist. Beengend, weil sie sich der gewaltigen Kluft zwischen der Klosterwelt und ihrer eigenen Dalitkultur bewusst wurde.
"Sie wussten nicht, dass ich Dalit war. Das sieht man mir nicht an, auch trage ich keinen Kastennamen. Doch wie sie andere Dalits behandelten, solche, die zu Besuch oder um Hilfe kamen wie jene, die im Kloster als Arbeiter tätig waren, entmutigte mich. ... Es schmerzte mich. ... Und dann das Klosterleben. Ich glaubte, zu ersticken. ... Da war ein Kräftefeld, das mich bedrückte, das meiner Dalitkultur völlig zuwiderlief."
Die Entrechtung der Dalitfrauen, ihre dreifache Diskriminierung durch die Männer und Frauen der oberen Kasten sowie durch ihre eigenen Männer, bestreitet Bama so wenig wie die massive Gewalt, die Männer aller Kasten tagtäglich an Dalitfrauen verüben. Die Dalitfrauen "stehen auf der alleruntersten Stufe der Gesellschaft", betont sie. Zugleich aber könnten sie aus ihrer eigenen Kultur jene Kraft schöpfen, die sie am Leben erhalte. "In der Dalitkultur tragen wir keine Masken. Ich bin und bleibe, wer ich bin und wie ich bin, mit all meinen Gefühlen. Im Kloster hingegen bist du eine Person, musst aber so tun, als wärst du eine andere. Dazu war ich einfach nicht fähig."
Lebensbejahende Lieder, ausgelassenes Lachen, das musste Bama als Nonne schmerzlich missen. "Die meisten Dalits verdingen sich als Tagelöhner in der Landwirtschaft, sie arbeiten schwer in der Sonne wie im Regen. Und doch lachen und singen sie und vergessen so ihre Erschöpfung." Lachen, scherzen, aber ebenso fluchen, schimpfen, streiten, und dann wieder lachen - kurz, den eigenen Gefühlen - auch als Frau - ungeniert Ausdruck verleihen zu können, das ist für Bama ein wichtiger Bestandteil der Dalitkultur. Nur aus diesem "Ungestüm" könnten die Dalitfrauen die Kraft zum Weitermachen schöpfen.
Als Kind, erzählt Bama, sei sie sich der "grausamen Seiten" des Kastensystems lange gar nicht bewusst gewesen. Höhere Kaste bedeutete für sie reichere Menschen, "mit denen wir nicht zusammen sein sollten." Doch dann kam der Tag, an dem sie den Alten mit dem Päckchen beobachtete und der Bruder sie aufklärte. Plötzlich begann Bama Dinge zu sehen, die sie vorher nicht bemerkt oder nicht zu deuten gewusst hatte. So begleitete sie öfter ihre Großmutter, wenn die in Häusern der oberen Kasten putzen ging. Am Abend "stellte die Großmutter dann ein Gefäß vor das Haus, und die Hausfrau leerte Speisereste hinein, von oben herab. So." Bama demonstriert, wie die Hausfrau aus Hüfthöhe das Essen in den am Boden befindlichen Topf der Großmutter goss. "[Als ich klein war], verstand ich nicht, dass das wegen der Unberührbarkeit war."
Um ihre Bildung fortzusetzen, musste Bama nach der achten Klasse eine Schule in der Stadt besuchen. Im Bus erlebte sie, wie Angehörige höherer Kasten nur mit Abstand zu den Dalitkindern Platz nahmen. Leute aus anderen Dörfern, welche die Kaste der Jugendlichen nicht kannten, fragten direkt oder erkundigten sich nach deren Wohnort. "Die Siedlung der Dalits befindet sich meist im Osten eines Dorfes, also konnten sie aus meinen Angaben ableiten, 'sie ist Dalit'. Das war die Art der Erfahrungen, die ich immer wieder machte."
Selbst im Kloster und in den Klosterschulen, an denen man sie als Nonne lehren ließ, gab es kein Entkommen aus dem Kastensystem. 1992, sieben Jahre nach ihrem Eintritt, verließ Bama das Kloster. Es war ein Schritt, den ihr viele Freunde übel nahmen. Nicht wenige wandten sich von ihr ab. Wohin sollte sie gehen? Wo würde sie Arbeit finden? Welche Perspektiven hatte sie? "Plötzlich fühlte ich mich, als wäre ich am Ende meines Lebens angelangt."
Beharrlich kehrten damals Erinnerungen an ihre Kindheit wieder. "Obwohl wir in Armut lebten, hatte ich eine glückliche Kindheit im Dorf mit den Dalits." Ein befreundeter Jesuitenpater riet Bama, alle ihre Sehnsüchte und Sorgen niederzuschreiben. Es sollte ein therapeutischer Prozess sein. Nie, versichert Bama, habe sie daran gedacht, eine einzige Passage zu veröffentlichen. Selbst als Freunde sie nach der Lektüre des Manuskripts drängten, einen Verleger zu suchen, habe sie gezögert. Es war ja nicht bloß ihre eigene Geschichte und ihre Kritik an der Kirche, die sie da festgehalten hatte, es war die Geschichte vieler Menschen aus ihrem Dorf.
Schließlich gab Bama nach. "Karukku" nannte sie ihr Werk, das noch 1992 herauskam. Karukku, "so heißt der Stengel des Palmblatts, der zwei sehr scharfe Kanten hat. Ich wählte den Titel ganz bewusst. Er drückt aus, wie diese im Kastendenken verhaftete Gesellschaft uns brutal schneidet und blutige Wunden zufügt; zugleich besagt er, dass wir die Kastenbande durchschneiden und uns befreien müssen."
Das Buch irritierte die etablierten Kritiker mit seinem unorthodoxen Stil, den vielen Wiederholungen und vielfältigen Erzähltechniken. Sie nahmen Anstoß daran, dass Bama es in der Sprache jener Welt verfasst hatte, der sie entstammte. "Dalits - ihre Kultur und ihre Sprache gelten ja als minderwertig und unrein. ... Letztlich aber konnten sie [mein Buch] nicht zurückweisen, es entspricht ja der Wahrheit."
Weit mehr Verstörung noch als unter den etablierten Rezensenten aber löste Karukku bei den Dalits aus, insbesondere den Bewohnern von Bamas Heimatort. "Sie klagten: 'Nun kann jeder über unser elendes Leben lesen. Sie hat alle unsere Geschichten erzählt. Es ist eine Schande für uns.' Sie waren tief getroffen und stritten mit meinen Eltern. Mir untersagten sie monatelang, ins Dorf zu kommen", erzählt Bama.
Es waren einige Jugendliche im Dorf, die erkannten, warum solch ein Text veröffentlicht werden sollte. Sie riefen die mehrheitlich des Lesens unkundigen Dorfbewohner zu einem Treffen, bei dem sie aus dem Buch vorlasen und es erläuterten. "'Bedenkt doch', sagten sie, 'über so lange Zeit sind unsere Sprache, unsere Kultur, unsere Literatur ignoriert worden. Nun schreibt jemand über uns. Und das ist gut so. Wir brauchen uns nicht zu schämen, wir sollten stolz sein auf unsere Identität. Wir müssen alle so weit kommen, dass wir offen sagen können: Ja, so ist es, ich bin ein Dalit, und ich habe meine eigene Kultur, die sehr reich ist.' So bewirkten die Jugendlichen ein Umdenken bei den Dorfbewohnern. Später organisierten die gar ein Fest für mich, und heute erzählen sie mir Dinge, damit ich sie niederschreibe."
Bama setzt auf die jüngere Generation. "Die hat den Mut, sich zu ihrer Identität zu bekennen und um ihre Rechte zu kämpfen. In meiner Jugend war es eine Schande zu sagen, ich bin Dalit. Da dachte ich stets, nun würde jeder auf mich herabblicken. Erst als ich es schaffte zu sagen, 'ja, ich bin Dalit, na und', gewann ich durch dieses Bekenntnis und die Annahme meiner Identität eine große psychologische Freiheit."
Der Wandel vollzog sich abrupt infolge eines erzwungenen "Geständnisses". Die Direktorin einer Schule, an der Bama lehrte, fragte sie eines Tages nach ihrer Kaste. "Ich sagte, ich bin Dalit, und von dem Augenblick an fühlte ich mich befreit. Ich erkannte plötzlich, dass es sinnlos ist, sich verstecken zu wollen. Sobald ich begann, den Leuten offen zu sagen, ja, ich bin Dalit, erlitten sie einen Schock. Ich gewann die Oberhand. Das war eine Entdeckung für mich. Seit damals bin ich eine ganz andere Person."
Im Jahr 2000 wurde Karukku mit dem angesehenen Literaturpreis Crosswords' Annual Prize ausgezeichnet. Auch eine englische Übersetzung ist heute erhältlich. Ins Englische und ins Französische übertragen worden ist Bamas zweites Werk "Sangati" (Die Versammlung, 1994). Darin setzt sie sich mit der Lage der Dalitfrauen auseinander, lässt diese in der für sie typischen - und oft derben - Sprache zu Wort kommen und äußert ihre eigenen Ideen von Aufbegehren und Widerstand. Vorerst nur in Tamil gibt es einen Band mit Kurzgeschichten.
Als Autorin hat sich Bama also etabliert; hauptberuflich geht sie weiter ihrer Arbeit als Lehrerin an einer christlichen Volksschule im Ort Uthiramerur, südlich von Chennai (Madras) nach, die sie nach ihrer Klosterzeit schließlich finden konnte. Das einstöckige Haus, das sie sich dort hat bauen lassen, belegt ihren bescheidenen Wohlstand. Leicht hat sie es indes bis heute nicht, als Dalit, als Frau und noch dazu unverheiratet und als Autorin. Alleinstehende Frauen sind keine Selbstverständlichkeit in Indien. Die Identität einer Autorin, deren Geschichten in Magazinen veröffentlicht werden und zu der Journalisten ins Haus kommen, ist noch dazu "den einen suspekt, den anderen unverständlich. Schreiben, Literatur - diese Welt ist ihnen fremd", sagt Bama. "Sie verstehen nicht, was ich da tue. Ich gehöre zwar jetzt [schon seit Jahren] in diesen Ort, aber gehöre doch nicht dazu, so ein Leben führe ich."
Karukku ist auf Englisch erhältlich bei www.amazon.com
Sangati auf Französisch bei www.amazon.fr
aus: der überblick 04/2003, Seite 84
AUTOR(EN):
Brigitte Voykowitsch:
Brigitte Voykowitsch ist freie Journalistin mit dem Themenschwerpunkt Asien und lebt in Wien.