Der Herr ist nahe denen, die zerbrochenen Herzens sind und hilft denen, die ein zerschlagenes Gemüt haben. Psalm 34,19
von Wolfgang Huber
Es entspricht volkstümlichen Vorstellungen von Gott, dass er vom Himmel herab auf die Welt schaut und aus weiter Ferne das Treiben der Menschen betrachtet. Es entspricht auch einer tiefen Sehnsucht des Menschen, es Gott gleich zu tun und die Welt von oben her zu sehen.
Den Wanderer treibt es hinauf zum Aussichtspunkt, den Bergsteiger zum Gipfel. Die Turmbesteigung ist so attraktiv, dass man bereit ist, dafür Eintritt zu bezahlen. In jeder größeren Stadt gilt der Rundblick von einem Hochhaus oder vom Fernsehturm als Sehenswürdigkeit. Man überblickt die Stadt aber was erkennt man aus zweihundert Metern Höhe?
Beeindruckend ist die Ausstellung des Fotografen Bernhard Edmaier, die bis zum 18. September im Nationalpark-Haus in Berchtesgaden zu sehen war. Aus bis zu tausend Metern Höhe fotografiert er vom Flugzeug aus spektakuläre Motive, die aussehen wie Gemälde. Der senkrechte Blick auf Wüsten, Vulkane, Gletscher oder Flussmündungen lässt uns auf neue Weise die Schönheit der Natur entdecken. Geologische Strukturen werden zu Kunstwerken. Die Luftaufnahmen eines Fotografen vermitteln ein Bild der Erde, als sei sie ein fremder Planet. Ähnlich ist es, wenn ich einen Fensterplatz im Flugzeug habe: Ich genieße den Blick aber was sehe ich tatsächlich, wenn ich einen Kontinent überfliege?
Der menschliche Drang, die Welt von oben zu betrachten, ist der Bibel freilich verdächtig, wie uns schon die Erzählung vom Turmbau zu Babel (1. Mose 11, 1-9) deutlich bezeugt. Indem sie einen Turm errichten, dessen Spitze bis an den Himmel reicht, stören unsere Urväter und -mütter die vorgesehene Ordnung und rufen Gottes Zorn hervor. Gott durchschaut die Absicht der Menschen und durchkreuzt sie. In diesem biblischen Text wird unterstellt, dass architektonischer Größenwahn einhergeht mit Hochmut, mit Machtmissbrauch und Willkür. Es mag sich darin die Haltung von Nomaden widerspiegeln, die das Treiben der sesshaften Städter misstrauisch betrachten. Doch auch wenn man den Gedanken einer generellen Aversion gegen die städtische Lebensform beiseite schiebt, kann man nicht bestreiten, dass hohe Türme Symbole der Macht sind. Gerade heute wetteifern Länder und Städte um das höchste Gebäude der Welt. Wann wird der höchste Wolkenkratzer, der in Taipeh steht, von einem Konkurrenten auf dem chinesischen Festland übertrumpft? Alle Diktatoren suchen nach einem architektonischen Ausdruck für ihren Herrschaftsanspruch.
»Lasst uns herniederfahren« spricht der biblische Gott und bereitet dem Unternehmen Turmbau ein jähes Ende. Gott zerstreut die ehrgeizigen Turmbauer in alle Himmelsrichtungen und verwirrt ihre Sprache. Es mag befremdlich auf uns wirken, dass Gott in dieser Erzählung seinen Geschöpfen misstraut, dass er in ihnen Konkurrenten vermutet, die es aus dem Weg zu räumen gilt. Was ist das für ein Gott, der sich missgünstig und eifersüchtig dem Menschen in den Weg stellt?
Im Gesamtzusammenhang der Heiligen Schrift gibt sich der Gott Israels als der zu erkennen, »der denen nahe ist, die zerbrochenen Herzens sind und der denen hilft, die ein zerschlagenes Gemüt haben.«(Psalm 34,19). Es ist der selbe Gott, der »im Himmel ist und schaffen kann, was er will« (Psalm 115,3) und der zugleich seine Ohren neigt zu den Armen und Elenden und ihnen beisteht und sie tröstet (Psalm 86,1.17). Was in den Psalmen und den Prophetenworten als Nähe Gottes schon anklingt, wird uns in Jesus Christus offenbar als die Menschenliebe Gottes (Titus 3,4). Für Christen ist somit das Ereignis der Menschwerdung Gottes bestimmend. Die Hinwendung Gottes zu den Menschen bestimmt die Sichtweise von Christen. Gottes Zuwendung zu denen, die »zerbrochenen Herzens sind«, seine Neigung zu denen, »die ein zerschlagenes Gemüt haben«, verträgt sich ganz und gar nicht mit unserer Vorliebe, die Welt von oben und unsere Mitmenschen möglichst von ferne anzusehen.
Der Blick vom Turm herab hat immer etwas sehr Verführerisches und Trügerisches an sich. Er verfälscht die Wirklichkeit, die er zu enthüllen vorgibt. Die Fernsicht ermöglicht vermeintlich, vieles auf einmal zu sehen; sie verleitet in Wahrheit dazu, Wichtiges, ja das Entscheidende zu übersehen.
Von der Aussichtsplattform des Wolkenkratzers ist das weite Häusermeer zu sehen, doch die, die zerbrochenen Herzens sind, die bettelnd am Straßenrand stehen, die vor der Suppenküche Schlange stehen, bleiben unsichtbar. Ähnlich ist es, wenn wir in wenigen Minuten das Weltgeschehen auf dem Bildschirm Revue passieren lassen. Die Welt wird überflogen, Themen werden gestreift.
Es ist, als sei die Welt der Nachrichten eine andere Welt als die, in der wir selber leben. Es ist eine aus der Distanz betrachtete Welt, eine Welt im Zeitraffer. Es gelingt kaum, den raschen Ortswechsel der Politiker nachzuvollziehen. Eben war der Bundeskanzler noch in Brüssel und zwei Minuten später ist er schon wieder in Berlin. Die Redeausschnitte bestehen aus wenigen Worten. Auf die Straßenszene aus Bagdad folgen Aufnahmen aus Gaza oder Kabul. Die Bilder gleichen einander, doch die, die zerschlagenen Gemütes sind, haben kein Gesicht. Es gelingt nicht, sich zu den Menschen in Beziehung zu setzen, über die flüchtig berichtet wird. In der Flut der Nachrichten droht die Dimension des Menschlichen selbst dann verloren zu gehen, wenn über menschliches Leid berichtet wird. Die Beobachtung des Weltgeschehens aus der sicheren Distanz, die uns die Medien ermöglichen, lässt uns oft ungerührt. Wie viele Tote waren es heute? »Der Herr ist nahe denen, die zerbrochenen Herzens sind«; aber wir bleiben ihnen fern.
Um mehr »Betroffenheit« herzustellen, werden Nachrichten aus fernen Ländern zum eigenen Land in Beziehung gesetzt. Es wird eine Auswahl getroffen nach dem Prinzip: Was mit uns zu tun hat, ist wichtig. Wenn über China berichtet wird, geschieht dies unter der Fragestellung, wie sich das dortige Wirtschaftswachstum auf den Arbeitsmarkt in Deutschland auswirkt. Ein Flugzeugabsturz wird für uns nur dadurch zur Nachricht, dass deutsche Passagiere unter den Opfern waren. Als am 26. Dezember 2004 das Erdbeben vor Sumatra und die darauf folgende Flutwelle die nordindonesische Provinz Aceh völlig verwüsteten, wurde unsere Aufmerksamkeit zuerst auf die Strände Thailands gelenkt, weil dort viele Urlauber aus Europa vom Tsunami betroffen waren. Die Welle der Hilfsbereitschaft, die durch diese Bilder ausgelöst wurde, hat alle überrascht. Es gelang, Mitgefühl wachzurufen. Es verbreitete sich ein Gefühl der Nähe und Anteilnahme. Erst im Nachhinein wurde deutlich, dass mit dieser Form der Berichterstattung ein Teil der Wirklichkeit ausgeblendet worden war. Viel menschliches Leid wurde übersehen; die wachsende Not der Flüchtlinge in verschiedenen Gegenden Afrikas fand zur selben Zeit keinerlei Beachtung. Ist es richtig, mit Rücksicht auf die Einschaltquoten und die Verkaufszahlen eine solche Auswahl zu treffen?
Es ist paradox, dass in unserer Informationsgesellschaft das Vertrauen in die Medien schwindet: Trotz der Medienvielfalt und des Zugangs zum Internet haben viele Menschen das Gefühl, nicht richtig informiert zu werden. Umfragen zeigen, dass die Bevölkerung in erschreckendem Maße den Nachrichten misstraut, die durch Fernsehen und Zeitungen verbreitet werden.
Diese Beobachtung macht uns die große Verantwortung bewusst, die Journalisten, Redakteure und Herausgeber haben, durch deren Auswahl vorentschieden wird, was Leser, Hörer und Zuschauer erfahren. Wie sollen wir Kenntnis erhalten von dem, was in fernen Ländern geschieht, von Leid und Elend, von Ängsten und Freuden, von Hoffnung und Verzweiflung, wenn nicht durch die Medien?
Ganz besonders denke ich an die Medien, die im engeren oder weiteren Sinne mit Kirche in Verbindung gebracht werden. Angesichts der weit verbreiteten Skepsis und des Vertrauensschwundes gegenüber den Medien haben sie eine ganz besondere Verantwortung, vertrauensbildend zu wirken. Christliche Medien bezeugen die Menschenliebe Gottes, indem sie den einzelnen Betroffenen zu Wort kommen lassen. Wo die Perspektive der Menschennähe zum Kriterium wird, werden uns Einzelschicksale wichtiger als Statistiken. In der Flut der Bilder wollen wir ein Gesicht erkennen, einen Namen behalten.
Seit Babel haben wir viele Türme gebaut, von denen wir herabsteigen müssen. Es tut der Welt nicht gut, dass wir sie von oben betrachten und in den Nachrichten nur die Zahl der namenlosen Toten beiläufig zur Kenntnis nehmen. Inmitten der Reizüberflutung brauchen wir eine neue Kultur menschlicher Nähe, damit wir nicht weiter abstumpfen, sondern mitmenschlich und solidarisch auf das reagieren können, was wir sehen und hören. Es ist an der Zeit, dass wir von Gottes Menschlichkeit lernen, dass wir konsequent den Blickwinkel Gottes wählen, »der denen nahe ist, die zerbrochenen Herzens sind und der denen hilft, die ein zerschlagenes Gemüt haben.«
aus: der überblick 03/2005, Seite 54
AUTOR(EN):
Wolfgang Huber
Bischof Dr. Wolfgang Huber ist der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD)