Wo die Seele in Muscheln wohnt
Anfang 1991 machten Bauarbeiter in New York einen bemerkenswerten Fund. Man stieß auf die Überreste eines afrikanischen Friedhofs. Bemerkenswert deshalb, weil die Grabstelle auf eine afro-amerikanische Geschichte hinweist, die mehr als 350 Jahre zurückreicht.
von Uta Westermann
Sie begann mit den holländischen Kolonien. Die ersten versklavten Afrikaner erreichten New Amsterdam 1625 und 1626. Unter den Holländern genossen sie ganz bestimmte Rechte. Dies änderte sich, als im Jahre 1665 New Amsterdam an die Engländer abgetreten wurde. Mit Umbenennung des Stadtnamens in New York kamen auch auf die Afrikaner einschneidende Veränderungen zu. Ihnen wurden immer mehr Rechte abgesprochen. Durften sie vorher noch ihre Verstorbenen zusammen mit den weißen Siedlern auf einen Friedhof begraben, wurde ihnen jetzt das Recht auf eine Beerdigung in geweihter Erde untersagt. Man wies ihnen Grund und Boden außerhalb der Stadt zu. Der African Burial Ground wird erstmals 1754 auf einer Landkarte erwähnt. Doch mit der Zeit geriet die Gegend immer mehr in Vergessenheit. Die Stadt dehnte sich aus, Häuser und Straßen nahmen langsam, aber sicher Besitz von dem Friedhof.
Ein ähnliches Schicksal ereilte den Midland Cemetery in Pennsylvania. Erst in diesem Jahr machten sich Archäologen und Historiker daran, den Sklavenfriedhof aus dem 18. Jahrhundert als solchen wieder kenntlich zu machen. Den Wissenschaftlern fiel auf, dass viele Gräber gen Osten ausgerichtet waren. Die Verstorbenen hatten damit die Möglichkeit, ihre afrikanische Heimat über den Ozean hinweg zu betrachten. Auf dem New Yorker Friedhof fand man mehrere Leichname, deren Köpfe gen Osten gewand waren. Die Verstorbenen sollten auch hier bei ihrer Auferstehung am jüngsten Gericht Afrika in die Augen schauen können. Ferner war es üblich, die Verstorbenen in Nähe eines Flusses oder einer Wasserfläche zu beerdigen. Die Seele hat dann nämlich die Möglichkeit, dem Wasser bis ins Meer zu folgen und vielleicht sogar Afrika zu erreichen. Sowohl der African Burial Ground in New York als auch der Midland Cemetery in Pennsylvania lagen in der Nähe von Wasserstellen.
Eine weitere Gemeinsamkeit afro-amerikanischer Friedhöfe ist, dass kaum noch Gedenktafeln oder Grabsteine auf diese hinweisen. Es war nicht wichtig, ein Grab dauerhaft zu kennzeichnen. Man ehrte die Verstorbenen auf andere Art und Weise. Dazu war keine spezielle Grabstelle erforderlich. Oftmals genügten schlichte Holztafeln oder Feldsteine, um ein Grab zu markieren. In Georgia war es bis ins 19. Jahrhundert herein üblich, Gräber mit Serviertellern kenntlich zu machen. In Pennsylvania stießen die Wissenschaftler allerdings auch auf einige Familiengräber, die mit einem Zaun oder einer Mauer begrenzt waren. Solche Gräber wurden in der Mitte des 19. Jahrhunderts üblich, als sich afro-amerikanische mit euro-amerikanischen Beerdigungsriten vermischten. Muschelzäune oder -mauern sollten die lange Ozeanreise der Afrikaner nach Amerika symbolisieren. Man glaubte, dass die Seele der Verstorbenen in den Muscheln wohnt und so für immer weiter leben kann.
Auch die Gräber auf dem New Yorker Sklavenfriedhof fingen nach und nach zu reden an. Wissenschaftler fanden viele persönliche Gegenstände, wie zum Beispiel Messingknöpfe, einen Kinderohrring, Pfeifen und immer wieder Perlen. Letztere wurden als Zahlmittel benutzt, kennzeichneten aber auch wichtige Lebensabschnitte wie Geburt, Hochzeit und Tod. Perlen sollten die Lebenden beschützen und den Toten bei ihrer Fahrt ins Jenseits helfen. Bei der Leiche eines circa 30 bis 40 Jahre alten Mannes fand man mehrere Knöpfe, die teilweise mit Gold überzogen waren. Feine Metallnadeln in und um seinen Kopf deuten daraufhin, dass er in ein Leichentuch gewickelt worden war. Bei einem Frauenleichnam fielen gefeilte Zähne auf. Wahrscheinlich kam sie aus der Senegal-Gambia-Region, wo es auch heute noch Brauch ist, die Zähne glatt abzufeilen.
Bis zu der Schließung des Friedhofs im Jahre 1794 sind hier rund 10.000 Afro-Amerikaner beerdigt worden. Bei der Untersuchung von rund 400 Skeletten stellten die Wissenschaftler bei Erwachsenen die Folgen harter körperlicher Arbeit fest. Muskel- und Bänderzerrungen waren so stark, dass Muskelbänder von dem Skelett einfach wegrissen, der Körper also unter beständigen Schmerzen stand. In vielen Fällen, darin sind sich die Wissenschaftler einig, haben sich die Sklaven schlichtweg zu Tode gearbeitet. Ihre Besitzer konnten sich schließlich problemlos einfach einen neuen Sklaven kaufen. 40 Prozent der untersuchten Skelette sind Kinderleichen unter 15 Jahren. Die meisten starben an Unterernährung. Viele Kinder litten an Rachitis, Skorbut oder Blutarmut. Offenbar sind doppelt so viele Mädchen noch im Jugendalter gestorben wie Jungen.
Aus winzigen zusammengesetzten Teilchen ergibt sich langsam ein Ganzes. Afro-Amerikanische Friedhöfe haben viel zu erzählen. Und dass ihre Einflüsse auf Friedhöfen auch heute noch spürbar sind, zeigt ein Grab auf dem Fort Hill Cemetery in Auburn, New York. Hinter dem Grabstein steht ein Baum, der nach der Beerdigung einer Frau 1913 gepflanzt worden war. Diese Tradition brachten versklavte Afrikaner mit nach Amerika. Wächst und gedeiht der Baum, dann wächst auch die Seele der Toten.
aus: der überblick 02/2003, Seite 34
AUTOR(EN):
Uta Westermann:
Uta Westermann ist Historikerin und freie Redaktuerin. Sie arbeitet zur Zeit als Hospitantin beim "überblick".