Rückblick mit Scheuklappen
Vergeben und Vergessen oder Aufklären und Sühnen? Zwischen diesen Extremen laviert Mexiko seit Jahren, wenn es um die Frage der Menschenrechtsverletzungen unter der autoritären Herrschaft der Partei Partido Revolucionario Institucional (PRI) geht. Neuen Auftrieb bekam die Diskussion, als die Opposition im Jahr 2000 erstmals seit 71 Jahren PRI-Herrschaft die Präsidentschaftswahlen gewann. Der konservative Kandidat Vicente Fox hatte während des Wahlkampfs versprochen, die Massaker und Folterungen sowie die Korruption unter seinen Vorgängern aufzudecken. Aber er zögert mit der Umsetzung.
von Richard Bauer
Monate strichen nach dem Wahlsieg ins Land, ohne dass sich die Regierung der Partido Acción Nacional (PAN) entschließen konnte, ein Wahlversprechen einzulösen und das dornenvolle Thema Vergangenheitsbewältigung anzupacken. Der neue Präsident, Vicente Fox, betonte mehrmals, die Vergangenheitsbewältigung dürfe nicht zu einer Hexenjagd ausarten. "Unser
Blick richtet sich nach vorne; wir wollen eine Regierung der Versöhnung aufbauen." Das sagte er schon kurz nach der Amtsübernahme im Dezember 2000. Und er fügte hinzu: "Wir werden unsere Zeit nicht mit der Vergangenheit vergeuden." Immerhin stellte er eine comisión de transparencia, eine Wahrheitskommission, in Aussicht. Sein zögerndes Handeln hat ihm vonseiten der linken Opposition den Vorwurf eingetragen, er sei ein "Verächter des Erinnerns".
Aber wie in vielen anderen Ländern Lateinamerikas, wo Militärdiktaturen und autoritäre Regimes in den 1970er und 80er Jahren nach Lust und Laune gewütet hatten, wollen auch in Mexiko die Geister der Vergangenheit nicht zur Ruhe kommen. Kurz bevor Fox im Dezember 2001 sein erstes Amtsjahr feierte, hat er, wenn auch in abgeschwächter Form, sein Wahlversprechen erfüllt. Er ordnete die Öffnung der Geheimdienstarchive an, ernannte einen Sonderstaatsanwalt und eine beratende Kommission zur Aufklärung von früheren Verbrechen, begangen von Handlangern der Parteidiktatur der PRI. Man wolle Wunden heilen, nicht aufreißen, sagte Fox und sicherte sich gegenüber der mexikanischen Armee, die vor einer schonungslosen Aufhellung der Vergangenheit am meisten zu befürchten hat, vorsichtig ab. Es gehe nicht darum, das Heer durch die Untersuchungen in Misskredit zu bringen, denn dieses sei vom und für das Volk, meinte Fox.
Grundlage für die Wahrheitsfindung bildet der Bericht der offiziellen mexikanischen Menschenrechtskommission. Diese hatte das Schicksal von 532 Gewaltopfern aus den Jahren 1970-85 untersucht. Sie kam zu dem Schluss, dass in mindestens 275 Fällen Soldaten, Polizisten oder Täter aus anderen staatlichen Institutionen darin verwickelt waren, Menschen verschwinden zu lassen. Eine ganze Reihe gesetzeswidriger Verhaftungen sind dokumentiert. Überlebende aus der Zeit des schmutzigen Krieges haben immer wieder von Folter und unmenschlicher Behandlung in den Militärgarnisonen berichtet.
Die zaudernde Haltung des Präsidenten in Sachen Vergangenheitsbewältigung lässt vermuten, dass hinter den Kulissen Absprachen mit Vertretern der früheren Regierungspartei PRI angestrebt werden. Allein der Gedanke, die Vergangenheit Vergangenheit sein zu lassen, empört hingegen die Menschenrechtskämpfer. Damit eine Gesellschaft in die Zukunft blicken könne, müsse sie zuerst mit der eigenen Vergangenheit ins Reine kommen, lautet deren Grundtenor. Rosario Ibarra, die beherzte Präsidentin der Menschenrechtsorganisation Eureka, die Angehörige von Verschwundenen aus der Zeit des "schmutzigen Krieges" in Mexiko vertritt, zweifelt am guten Willen der Behörden. Den vorläufigen Bericht der Menschenrechtskommission weist sie pauschal zurück: "Wozu dient mir ein Bericht, der mir nicht sagt, wo mein verschollener Sohn ist?"
Eine Minderzahl mexikanischer Intellektuelle bezweifelt allerdings, dass es nützlich ist, Schandtaten der Vergangenheit auszugraben und Schuldige vor den Richter zu zerren. Zu ihnen gehört der angesehene Historiker Enrique Krauze, der kürzlich zu Protokoll gab: "Wenn in Polen General Jaruzelski und der Schriftsteller Adam Michnik zusammen Kaffee oder Wodka trinken können, sehe ich nicht ein, warum wir in einem demokratischen Mexiko fortfahren sollen, die alten Wunden eines Regimes zu öffnen, das bereits in sauberen Wahlen seinen historischen Preis bezahlt hat." Bei der PRI gibt man sich - wenigstens nach außen hin - zuversichtlich. Die Partei habe nichts zu befürchten, sagt deren Präsidentin Dulce María Sauri. Alle Untersuchungen beträfen Individuen, die für ihre Handlungen selber geradestehen müssten.
Kaum hatte Präsident Fox die Öffnung der Archive angekündigt, publizierte - ob Absicht oder Zufall bleibe dahingestellt - die unabhängige mexikanische Wochenzeitschrift Proceso eine Reihe von bisher unbekannten Fotos, die Zeugnis von der brutalen Unterdrückung einer Studentenrebellion im Jahre 1968 geben. Dieses "Massaker von Tlatelolco" gilt vielen Mexikanern als Sinnbild für kaltblütigen Machtmissbrauch und zynische Verachtung der Menschenrechte. Die Aufnahmen, an deren Echtheit kaum gezweifelt wird, wurden der Zeitschrift anonym zugestellt und stammen möglicherweise von einem reumütigen Militär- oder Polizeifotografen. Bis jetzt haben die Behörden alles unternommen, um zu verhindern, dass belastendes Archivmaterial an die Öffentlichkeit gerät. Auch steht zu befürchten, dass belastendes Material bei der Amtsübergabe an die neue Regierung im Reißwolf gelandet ist.
Nach der Schlächterei pvon Tlatelolco sei Mexiko ein anderes Land geworden, schrieb der mexikanische Schriftsteller Carlos Montsiváis. Von einer "Wasserscheide" in der modernen mexikanischen Geschichte sprechen linke und rechte Historiker. Für sie beginnt mit Tlatelolco der beschwerliche, drei Jahrzehnte dauernde Weg, der schließlich zum Ende der Parteiendiktatur der PRI und dem Übergang zur Demokratie unter Fox führte.
Für den Abend des 2. Oktober 1968 hatte der Streikrat der Studenten zu einer Massenveranstaltung auf dem "Platz der drei Kulturen" im Stadtviertel Tlatelolco, mitten im Herzen der mexikanischen Hauptstadt, eingeladen. 5000 bis 6000 Studenten und Mittelschüler folgten dem Aufruf. Die Veranstaltung war für die Demonstrierenden nichts Außergewöhnliches. Sie war Teil einer seit Monaten wogenden Streik- und Protestbewegung der Studentenschaft. Kommunistisches Gedankengut, das Vorbild der kubanischen Revolution, die Ideen Che Guevaras vom "Neuen Menschen", dessen Tod im bolivianischen Bergland, aber auch die Pariser Studentenunruhen im Frühling 1968 und das Free Speech Movement (Bewegung für Meinungsfreiheit) von Berkeley hatten in der mexikanischen Jugend eine antiautoritäre, alles Bestehende infrage stellende kämpferische Grundstimmung geschaffen.
Auf der anderen Seite verbunkerte sich das Regime von Präsident Gustavo Díaz Ordaz, das keinerlei abweichende Meinungen duldete. Auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges lebten der autoritäre Staatschef und sein Gefolge von der Zwangsvorstellung, ein subversives Komplott braue sich gegen sie zusammen. Die Protestveranstaltung in Tlatelolco, nur zehn Tage vor der Eröffnung der Olympischen Spiele in Mexiko, war die willkommene Gelegenheit, mit der Subversion aufzuräumen. Die Regierung und die Armee waren felsenfest davon überzeugt, dass es den Studenten darum ginge, die Spiele zu sabotieren, um vor aller Welt Mexiko und seinem Präsidenten Schaden zuzufügen.
Das Meeting auf dem Platz der drei Kulturen - zwischen prähispanischen Überresten, einer Kirche aus der spanischen Kolonialzeit und vor der Kulisse moderner Wohnbauten - hatte friedlich begonnen. Die Menge hörte sich abwechselnd manierlich die Reden von Studentenpolitikern an und applaudierte gnädig oder skandierte Kampfparolen. Doch kurz nach sechs Uhr abends wurden von einem Helikopter aus zwei grüne Leuchtraketen abgefeuert. Soldaten stürmten den Platz, Panzerfahrzeuge postierten sich an den Ausgängen. Heckenschützen feuerten von den umliegenden Gebäuden auf die Demonstranten. Zweitausend Studenten wurden in die Gefängnisse abgeführt. Innerhalb weniger Minuten verwandelte sich Tlatelolco in ein Inferno. Bis heute weiß niemand genau, wer den ersten Schuss abgegeben hat, geschweige denn wie viele Menschen umgekommen sind. Augenzeugenberichte und historische Essays sprechen von mehreren hundert Opfern.
In der mexikanischen Öffentlichkeit zweifelt niemand daran, dass das Massaker von Tlatelolco von der Regierung selbst provoziert worden ist. Ungewiss ist, ob dabei Angehörige der Präsidialgarde mit ein paar gezielten Schüssen dem unwissenden Heer eine Falle gestellt hatten, um die wilde Repression auszulösen. Vor allem das Auftauchen von zivil gekleideten Soldaten und Offizieren des Batallón Olimpia, die als Erkennungszeichen alle einen weißen Handschuh an der linken Hand trugen, deutet auf einen wohl vorbreiteten Schlag gegen die studentische Protestbewegung hin.
Die Morde von Tlatelolco haben in der mexikanischen Gesellschaft tiefe Wunden hinterlassen. Auch haben Familienangehörige der Opfer, Intellektuelle und Oppositionspolitiker es der Regierung von Präsident Díaz Ordaz und dessen PRI-Nachfolgern nie verziehen, dass die Suche nach der historischen Wahrheit über das Massaker systematisch hintertrieben wurde. Díaz Ordaz übernahm öffentlich die Verantwortung für die Armeeaktion und glaubte damit, die Angelegenheit ein für alle Mal begraben zu haben. Doch das Gegenteil war der Fall. Obschon die Ereignisse auf dem Platz der drei Kulturen in Mexiko über dreißig Jahre zurückliegen, bewegen sie nach wie vor die Gemüter.
Die friedliche Studentenrevolte von 1968 war nicht nur Ausgangsbasis für die kompromisslose Opposition der demokratischen Linken gegen das verknöcherte PRI-Regime. Sie förderte auch die Bildung von bewaffneten Guerillagruppen in Mexiko. Die 1970er Jahre gelten dabei als Höhepunkt des "schmutzigen Krieges", den Armee und Polizei mit wenig zimperlichen Methoden gegen die Weltverbesserer führten. Meist angespornt von dem Triumph der kubanischen Revolution und geformt nach dem Vorbild von Che Guevara, entstanden in Mexiko damals etwa 30 bewaffnete Guerillagruppen. Ihre klassischen Kampfmittel waren - wie überall in Lateinamerika - Flugzeugentführungen, Bombenanschläge auf Botschaftsgebäude, Entführungen, Hinterhalte oder Angriffe auf militärische Einrichtungen. Ehemalige Guerillakämpfer behaupten, 3000 Aufständische seien umgekommen, doch scheint diese Zahl übertrieben. Ein General im Ruhestand geht davon aus, dass die Armee selbst nicht mehr als 100 Mann in Gefechten und Zusammenstößen mit der meist in entfernten Landgebieten operierenden Guerilla verloren habe, die meisten zwischen 1972 und 1975. Die Menschenrechtsorganisation Eureka hat 552 Fälle von Opfern dokumentiert, die, als Mitglieder der Guerilla verdächtigt, ermordet wurden oder verschwunden sind.
Die zahlenmäßig stärksten Gruppen waren die Liga Comunista 23 de Septiembre, die 1973 als Sammelbecken für eine ganze Reihe kleinerer Aufstandsbewegungen der Linken entstand, sowie der 1967 gegründete Partido de los Pobres, die Partei der Armen. Während sich die meisten Gruppen auflösten, nachdem sie von der Armee zerschlagen oder von der Polizei infiltriert worden waren oder ihre Führer tot oder verhaftet waren, überlebte die Partido de los Pobres. Sie bildet den noch heute aktiven Kern des Ejército Popular Revolucionario (Revolutionäre Volksarmee). Auch das irreguläre Zapatistenheer unter Subcomandante Marcos hat seine historischen Wurzeln in jener Zeit. Mitglieder der 1969 gegründeten Fuerzas de Liberación Nacional (Streitkräfte der Nationalen Befreiung) tauchten in den neunziger Jahren Seite an Seite mit den neuen Sozialrevolutionären in Chiapas auf. Vielleicht tut sich die mexikanische Regierung also auch deshalb schwer mit der Aufarbeitung der Vergangenheit, weil diese sich noch in der Gegenwart auswirkt.
aus: der überblick 01/2002, Seite 86
AUTOR(EN):
Richard Bauer:
Richard Bauer ist Korrespondent der Neuen Zürcher Zeitung mit Sitz in Mexiko.