55 Jahre nach der Unabhängigkeit hungern viele Menschen noch immer
Auf den ersten Blick scheint die Kombination aus riesigen Nahrungsmittelreserven und weit verbreiteter Unterernährung in Indien ein Paradox zu sein. Doch die Politik des indischen Staates, große Mengen Getreide zu subventionierten Preisen bei den Bauern einzukaufen, steht dem Ausgleich der gewaltigen sozialen Unterschiede im Wege. Notwendig ist eine Klassenanalyse, die die Interessen aller Bevölkerungsschichten berücksichtigt.
von Amartya Sen
Es ist eine alte Geschichte, doch bleibt sie immer neu", so schreibt Heinrich Heine, Dichter, Essayist und politischer Aktivist, im Lyrischen Intermezzo. Heines frustrierte Feststellung aus dem frühen 19. Jahrhundert kommt einem unwillkürlich in den Sinn, wenn wir die unveränderte Barbarei alter Probleme in der Not leidenden Welt beobachten, die nur um neue Dimensionen angereichert ist. Nirgendwo anders dürfte diese Situation wütender machen als in Indien angesichts des schrecklichen Fortdauern weit verbreiteten Hungers und Unterernährung.
Es ist nicht so, dass in dem halben Jahrhundert, das seit der Unabhängigkeit 1947 vergangen ist, nichts erreicht worden wäre. Sicherlich ist manches Positive geschehen. Die mit der Unabhängigkeit einhergehende rasche Ausmerzung von Hungersnöten war eine bedeutende Leistung, die letzte größere Hungersnot ereignete sich 1943. Das ist ein Erfolg, der Indien von anderen Entwicklungsländern absetzt, die an der Vermeidung von Hungersnöten scheiterten. Und doch geht mit dieser lobenswerten Bilanz bei der Verhinderung von Hungersnöten kein vergleichbarer Erfolg hinsichtlich der Ausmerzung des allgegenwärtigen Hungers einher. Er beherrscht das Leben von Hunderten von Millionen Menschen in diesem Land.
Darüber hinaus entwickelte sich die Landwirtschaft, deren Stagnation vor der Unabhängigkeit charakteristisch für Indien war, durch innovative Ansätze zu einem hoch produktiven Agrarsektor. Technologische Grenzen wurden stark erweitert. Die heutige Nahrungsmittelknappheit in Indien ist nicht auf technische Mängel bei der Nahrungsmittelproduktion zurückzuführen, sondern auf ein weit verbreitetes Unvermögen, die Nahrungsmittel den ärmeren Teilen der Bevölkerung verfügbar zu machen. Wir haben, darauf wies bereits M. S. Swaminatham hin, "ein Stadium in der Entwicklung der Landwirtschaft erreicht, in dem wir die Produktion nur noch steigern können, wenn wir die Verbrauchssituation verbessern."
Wie können die Verhältnisse verändert werden? Zunächst müssen wir die erstaunliche Selbstgefälligkeit ablegen, die hinsichtlich der Nahrungsmittelsituation in Indien herrscht und die durch eine allgegenwärtige Ignoranz genährt wird. Wir müssen anerkennen, dass Indien das Problem weit verbreiteten und andauernden Hungers bis heute nicht erfolgreich angegangen ist. Hunger tritt nicht nur immer wieder in bestimmten Regionen auf, sondern es herrscht permanent in vielen Orten in weiten Teilen Indiens Hunger. Dass sich diese Fälle nicht zu vollen Hungersnöten ausweiten, ändert nichts an den schlimmen Auswirkungen an Ort und Stelle. Die Bilanz ist in dieser Hinsicht in Indien noch viel schlechter als im südlich der Sahara gelegenen Teil Afrikas. Berechnungen allgemeiner Unterernährung - was zuweilen als "Protein-Energie-Unterernährung" bezeichnet wird - kommen für Indien zu Ergebnissen, die fast doppelt so hoch liegen wie in Afrika südlich der Sahara. Es ist erstaunlich, dass trotz periodisch auftretender Hungersnöte Afrika in der Lage ist, ein wesentlich höheres Niveau regelmäßiger Ernährung sicherzustellen, als es in Indien der Fall ist. Es scheint, dass etwa die Hälfte aller Kinder in Indien chronisch unterernährt ist und über die Hälfte der erwachsenen Frauen unter Blutarmut leidet. Sowohl bei der Unterernährung von Müttern, bei untergewichtigen Säuglingen als auch beim Auftreten von Herz-und Gefäßkrankheiten in späteren Lebensjahren, zu denen Erwachsene besonders dann neigen, wenn sie im Mutterleib unter Mangelernährung zu leiden hatten, zählt die Bilanz Indiens zu den schlimmsten weltweit.
Was an diesen schlimmen Zuständen ins Auge fällt, ist nicht nur, dass sie hartnäckig weiterbestehen, sondern dass die öffentliche Aufmerksamkeit, die ihnen zuteil wird, auf so ungünstige Weise geteilt ist. Immer wieder hört man die falsche Behauptung, Indien habe die Herausforderung des Hungers seit der Unabhängigkeit sehr gut gemeistert. Sie gründet sich darauf, dass die Verhinderung von Hungersnöten - eine eher leicht zu lösende Aufgabe - und die Vermeidung von endemischer Unterernährung und von Hunger - ein weit komplexeres Problem - gründlich durcheinander gebracht werden. Was die zweite Aufgabe betrifft, fällt die Bilanz Indiens wesentlich schlechter aus als die irgendeines anderen Landes.
Was ist zu tun, wenn wir unsere Selbstgefälligkeit abgelegt haben? Die alten Hindernisse, die einer gesunden Ernährung im Wege stehen, bleiben natürlich bestehen und wir müssen eingestehen, dass sie nichts von ihrer Wirkung verloren haben. Die Menschen werden hungrig bleiben, wenn sie nicht die Mittel haben, um sich genügend Nahrung zu kaufen, denn Hunger ist in erster Linie ein Problem allgemeiner Armut. Daher sind allgemeines wirtschaftliches Wachstum und die Verteilung der Erträge aus diesem Wachstum wichtige Faktoren bei der Abschaffung des Hungers. Der ausreichenden Verfügbarkeit von Arbeitsplätzen sollte ebenso Beachtung geschenkt werden wie alternativen Einkommensquellen und den Preisen für Nahrungsmittel. Das alles wirkt sich auf die Kaufkraft der Menschen aus und beeinflusst auf diese Weise die Menge der Nahrungsmittel, die sie tatsächlich zu sich nehmen.
Unterernährung ist nicht nur Ursache für schlechte Gesundheit, sondern wird auch von Krankheiten verursacht. Deshalb sollte auch der Vermeidung endemischer Krankheiten, die die Aufnahme von Nährstoffen verhindern, besondere Aufmerksamkeit zuteil werden. Vieles spricht dafür, dass der Mangel an Grundschulbildung zur Unterernährung beiträgt, da Wissen und Kommunikation wichtig sind und die Fähigkeit, sich eine Arbeit und Einkommen zu verschaffen, vom Bildungsgrad mitbestimmt wird.
Niedrige Einkommen, relativ hohe Preise, schlechte Gesundheitsversorgung und die Vernachlässigung der Grundschulbildung verursachen und stabilisieren den hohen Grad der Unterernährung in Indien. Doch selbst wenn man das niedrige Niveau dieser Variablen berücksichtigt, so zeigte Siddiq Osmani, "hätte man viel größere Erfolge bei der Ernährung erwartet, als es tatsächlich der Fall war". Dies gilt insbesondere für Indien, doch auch für Südasien im Allgemeinen.
Es muss also noch einen weiteren Faktor geben. Osmani argumentiert, dass die Unterernährung der Mütter, die untergewichtige Babys zur Folge hat, mitverantwortlich ist. Denn die Babys wachsen schließlich zu Kindern und Erwachsenen heran, die anfälliger für Krankheiten aller Art sind. Indien und Südasien führen die weltweite Statistik in dieser Hinsicht an. Jüngste medizinische Studien haben zutage gebracht, welche langfristigen Folgen es hat, wenn schon Föten Mangel leiden, was sich in einem niedrigen Geburtsgewicht niederschlägt, das wiederum zu Immunschwäche und anderen gesundheitlichen Gefährdungen führt. Das Elend bei der Gesundheit und Ernährung von Müttern und ihren Kindern dürfte zweifellos eine wesentliche Erklärung für die insgesamt schlechte Ernährungslage in Indien sein.
Es gibt auch einen ursächlichen Zusammenhang zwischen der allgemeinen geschlechtlichen Diskriminierung von Frauen in Indien und der Unterernährung von Müttern. Es scheint, dass der Preis, den Indien für seine Ungerechtigkeit gegenüber den Frauen zu entrichten hat, von allen Indern gezahlt wird, von Jungen wie Mädchen, von Männern wie Frauen. Auch wenn die empirischen Belege für den relativen Ernährungsrückstand von Mädchen im Vergleich zu Jungen nicht eindeutig sind, besteht kein Mangel an Beweisen für die Vernachlässigung schwangerer Frauen. So ist der Anteil schwangerer Frauen, die an Blutarmut leiden - dies ist bei drei Vierteln der Fall - in Indien erheblich höher als im Rest der Welt. Untergewicht bei Neugeborenen beeinträchtigt nicht nur die Gesundheit der Kinder in späteren Lebensjahren - dies gilt sowohl für Jungen als auch für Mädchen. Auch Herz-und Gefäßkrankheiten treten öfter auf als bei ausreichend versorgten Ungeborenen und Kleinkindern. Die nachteiligen Folgen der Unterernährung von schwangeren Frauen wirken sich später bei Männern noch stärker aus als bei Frauen, weil Männern im Allgemeinen anfälliger für solche Erkrankungen sind. Die ungerechte Behandlung der Frauen ist der Boden, auf dem der Schaden der Männer gedeiht. Das kommt zum Leiden der Frauen selbst noch hinzu.
Indien muss einige konkrete Probleme angehen, wenn es den verbreiteten andauernden Hunger überwinden will. Dazu gehören die Verbesserung der wirtschaftlichen Möglichkeiten zum Beispiel durch Einkommenswachstum und bessere Einkommensverteilung, die Schaffung sozialer Einrichtungen wie eine medizinische Grundversorgung und Grundschulbildung sowie Maßnahmen gegen die Benachteiligung von Frauen etwa was die Unterernährung von Müttern betrifft. Das sind alte Aufgaben, die noch nicht gelöst worden sind - im Gegensatz zu anderen Problemen wie Hungersnöte und unzulängliche landwirtschaftliche Technologie. Welche neuen Herausforderungen gibt es darüber hinaus?
Zuweilen haben sich gerade die Institutionen, die zur Überwindung alter Barrieren geschaffen wurden, als hinderlich dafür erwiesen, die Ungleichheit zu überwinden. Dass wir gewaltige Nahrungsmittelberge auf der einen Seite und die weltweit größte Konzentration unterernährter Menschen auf der anderen Seite in Indien gleichzeitig antreffen, macht dies deutlich.
1998 betrugen die Nahrungsmittelvorräte der Zentralregierung etwa 18 Millionen Tonnen. Diese Reserven kommen den offiziell festgelegten "Puffervorräten" nahe, die benötigt werden, um mögliche Schwankungen zwischen Produktion und Bedarf auszugleichen. Seitdem sind sie immer weiter angestiegen und haben mittlerweile deutlich die 50 Millionen-Marke überschritten. Jüngsten Berichten zufolge sollen unsere Vorräte nun bei 62 Millionen Tonnen liegen. Wenn wir das Bild von Jean Drèze bemühen, dann würden alle Getreidesäcke aufgereiht eine Länge von über einer Million Kilometern ergeben, das heißt, einmal zum Mond und zurück reichen. Heute könnten die Säcke eine Entfernung ausfüllen, die zum Mond und zurück reicht und dann nochmals zum Mond.
Es ist eine gute Nachricht, dass die indische Regierung einen kleinen Teil dieser großen Vorräte für verschiedene Hilfszwecke einsetzen will. Doch wird diese Hilfe den Nahrungsmittelberg kaum reduzieren und auch sein weiteres Anwachsen nicht verhindern - möglicherweise bald auf 75 oder gar auf 100 Millionen Tonnen. Der Ernährungsminister hat auch verschiedene Wege vorgeschlagen, regional gleichmäßiger verteilte Zuschüsse an die Bauern zu zahlen. Statt die Regierung zu verpflichten, Getreide zu den Mindeststützpreisen aufzukaufen, sollen Nahrungsmittel nun zu Marktpreisen verkauft werden. Die Regierung wird dann den Bauern den Unterschied zwischen den Marktpreisen und den Mindeststützpreisen ausgleichen. Die Bauern - sogar die Großbauern - werden zweifellos erleichtert sein, wenn sie hören, dass ihre "Interessen", wie es heißt, "geschützt werden". Natürlich werden auch die Vorräte weiter anwachsen, obwohl sie sich der vierfachen Menge der offiziellen "Puffervorräte"-Vorgaben nähern. Die öffentlichen Ausgaben für das Zuschuss-System, dessen Volumen vor kurzem erst auf atemberaubende 210 Milliarden Rupien (4,4 Milliarden Euro) jährlich geschätzt wurde, werden sich kaum nach unten bewegen. Wir sind allem Anschein nach entschlossen, einen hohen Preis dafür zu bezahlen, um eine Situation beizubehalten, in der Indien über die größten ungenutzten Nahrungsmittelreserven auf dem Globus verfügt und gleichzeitig die schlimmste Unterernährung weltweit herrscht.
Wie ist dieses seltsame Festhalten an einer kontraproduktiven Politik zu verstehen? Die unmittelbare Erklärung ist nahe liegend. Die massenhaften Vorräte resultieren daraus, dass sich die Regierung verpflichtet fühlt, unrealistisch hohe Mindeststützpreise für Getreide zu zahlen - dies gilt insbesondere für Weizen und Reis. Doch ein System allgemein hoher Preise trotz des Auseinanderklaffens von Ankaufs-und Einzelhandelspreisen führt zu einer Ausweitung des Ankaufs und drückt die Nachfrage. Das Bombengeschäft für die Erzeuger und die Verkäufer geht einher mit der Not der Konsumenten der Nahrungsmittel. Da das biologische Bedürfnis nach Nahrung nicht deckungsgleich ist mit dem, was sich die Menschen angesichts ihrer wirtschaftlichen Möglichkeiten und der Preise leisten können, ist es trotz der landesweit verbreiteten Unterernährung schwierig, die großen Vorräte abzubauen. Das Preissystem, das das erdrückendes Angebot erzeugt, hält die Hände - und die Münder - der ärmeren Verbraucher von den Nahrungsmitteln fern.
Doch hilft die Regierung der Situation nicht dadurch ab, dass sie die Nahrungsmittelpreise entsprechend dem Niveau der Beschaffungspreise stützt? Diese Maßnahme sollte doch sicherlich die Nahrungsmittelpreise für die Verbraucher niedrig halten? Nicht ganz. Jean Drèze und ich behandeln diese Frage eingehender in unserem demnächst erscheinenden Buch "India: Development and Participation". Ein wichtiger Teil der Antwort ist, dass mit einem Großteil der Zuschüsse die Kosten für die Haltung der riesigen Nahrungsmittelvorräte gedeckt werden, inklusive einer schwerfälligen Mammut-Verwaltung, zu der auch die Food Corporation of India zählt. Die Bauern werden durch die Zuschüsse veranlasst, mehr zu produzieren, anstatt bestehende Vorräte zu niedrigeren Preisen an die Verbraucher zu verkaufen. Das geschieht zwar, doch nur in begrenztem Ausmaß und ist auf bestimmte Bevölkerungsgruppen beschränkt. Insgesamt wird durch die Nahrungsmittelzuschüsse Geld an die Bauern transferiert, statt deren Erzeugnisse an die unterernährten indischen Verbraucher zu geben.
Wenn es je einen klaren Fall gab, in dem mit einer radikalen Klassenanalyse die Linke die Rechte so richtig in die Pfanne hauen konnte, dann dürfte er hier vorliegen. Sicher haben manche gesellschaftlichen Gruppen dagegen protestiert und den Obersten Gerichtshof in Fragen fundamentaler Rechte angerufen. Doch ist die systematische Kritik dieses Problems aus der Perspektive der Klassenungleichheit bisher erstaunlich gedämpft und ruhig ausgefallen. Der Protest, den wir vernehmen, ist seltsam zersplittert und geht einher mit der fast religiösen Formel, dass die Nahrungsmittelpreise zum Nutzen der Bauern und derer, die das Land bestellen, hoch gehalten werden müssen. Warum ist das so?
Als die Politik des Nahrungsmittelankaufs eingeführt wurde und man damit begann, Nahrungsmittel zu hohen Preisen von den Bauern einzukaufen, rechnete man mit vielfältigem Nutzen. Das ist nicht völlig von der Hand zu weisen und wird einem gewissen Anspruch auf Gleichbehandlung durchaus gerecht. Zunächst ist der Aufbau von Vorräten bis zu einem bestimmten Punkt sinnvoll, um die Versorgung sicherzustellen - sie ist sogar notwendig, um Hungersnöte zu verhindern. Demnach wäre es gut, umfangreiche Vorräte bis zu einem bestimmten Punkt zu lagern, vielleicht sogar bis hin zu einem Vorrat von etwa 20 Millionen Tonnen. Es ist allerdings ein kostspieliger Fehler zu glauben, da es ja sinnvoll sei, bestimmte Vorräte aufzubauen, müsse es noch besser sein, wenn man noch größere Vorräte anlegt.
Eine weitere Argumentationslinie stützt scheinbar die Notwendigkeit hoher Nahrungsmittelpreise. Sie scheint ebenfalls begründet und erweist sich schließlich doch als kontraproduktiv. Gewiss gehören zu denen, die unter niedrigen Nahrungsmittelpreisen leiden, auch einige weniger Wohlhabende - es sind die Kleinbauern, die einen Teil ihrer Ernte direkt verkaufen. Die Interessen dieser Gruppe vermengen sich also mit den Interessen der Großbauern, und dies führt dann zu einem fatalen Durcheinander in der Nahrungsmittelpolitik. Während die einflussreiche Lobby der privilegierten Bauern auf höhere Beschaffungspreise und öffentliche Mittel drängt, um diese hoch zu halten, werden die Interessen der ärmeren Bauern, die auch von den hohen Preisen profitieren, von deren politischen Gruppen vertreten. Geschichten von der Not dieser Menschen spielen eine wichtige Rolle nicht nur im verbalen Eintreten für hohe Nahrungsmittelpreise, sie entsprechen auch der aufrichtigen Überzeugung vieler Aktivisten, die für mehr Gleichheit eintreten, dass hohe Nahrungsmittelpreise den Menschen helfen werden, denen es wirklich schlecht geht. Das mag sein, doch sicher ist auch, dass dies den reichen Bauern noch viel mehr nützt und deren Lobbygruppen entgegenkommt, während die Interessen der viel größeren Gruppe von Menschen, die Nahrungsmittel eher kaufen als verkaufen, schmählich auf der Strecke bleiben.
Es besteht ein Bedarf an genaueren Analysen zu den Auswirkungen dieser Politik auf die verschiedenen Schichten, insbesondere auf die extrem Benachteiligten der Gesellschaft. Sie sind neben ihrer Not in anderen Bereichen - hierzu zählen insbesondere niedrige Einkommen, schlechte Gesundheitsversorgung und nicht ausreichender Zugang zu Schulbildung - auch besonders unterernährt. Für Gelegenheitsarbeiter, Slumbewohner, arme städtische Arbeiter, Wanderarbeiter, Handwerker auf dem Land, nicht in der Landwirtschaft tätige Bewohner ländlicher Gebiete und Landarbeiter, die ihre Löhne in bar erhalten, wirken sich hohe Nahrungsmittelpreise direkt auf ihren Speiseplan aus. Insgesamt werden von den hohen Nahrungsmittelpreise viele der Menschen, die am schlechtesten dran sind, am härtesten getroffen. Auch wenn sie Teilen der auf Bauernhöfen tätigen armen Bevölkerung zugute kommen, ist die Wirkung auf die Nahrungsmittelverteilung doch schädlich. Natürlich wird von der Seite der Bauernorganisationen unerbittlich Lobbyarbeit für hohe Nahrungsmittelpreise betrieben. Die wenigen auf Bauernhöfen lebenden Armen, die von dieser Politik profitieren, tragen zum Gesamtbild jedoch nur geringfügig bei. Dennoch führt dies zu der Verwirrung, mit der behauptet wird, dass hohe Nahrungsmittelpreise generell den Armen zugute kämen, wenngleich die Gesamtwirkung dem nicht entspricht.
Man sagt, dass ein bisschen Wissen gefährlich sei. Ebenso verhält es sich mit einem bisschen Gleichheit, wenn das Engagement dafür zu krasser Ungerechtigkeit für die breite Masse der Unterprivilegierten führt.
Nicht nur das Fortdauern der Unterernährung in Indien - die dort viel verbreiteter ist als in anderen Weltregionen - an sich ist schon außergewöhnlich, ebenso außergewöhnlich ist das Schweigen, mit der diese toleriert wird. Nicht zu reden von der Leichtfertigkeit, mit der sie zuweilen abgetan wird.
In unserem demokratischen System ist nichts wichtiger als zu einem besseren Verständnis für die Ursachen des Mangels und der genauen Auswirkungen der Methoden zu kommen, die diesen Mangel angeblich lösen sollen. Zu gesellschaftlichem Handeln gehört nicht nur, was der Staat für die Öffentlichkeit tut, sondern auch was die Öffentlichkeit für sich selbst tut. Dazu zählt auch, was Menschen erreichen können, wenn sie Abhilfe fordern und die Verantwortung der Regierungen einklagen. Ich bin schon in der Vergangenheit dafür eingetreten, einer genaueren Untersuchung zu unterziehen, welche schichtenspezifischen Auswirkungen eine staatliche Politik hat, die Unsummen kostet und doch die Chancen und Interessen der gesellschaftlich Benachteiligten außer Acht lässt - sie zuweilen sogar verschlechtert. Es gab lange Zeit gute Gründe, dagegen vorzugehen, dass alte Benachteiligungen weiter andauern. Doch hinzu kommt die Herausforderung, neuen negativen Entwicklungen entgegenzutreten, die von einer Politik herrühren, die angeblich die Herstellung von Gleichheit zum Ziel hat und doch viel dazu beiträgt, genau diese Gleichheit zu untergraben. Es besteht reichlich Anlass, die staatliche Politik und ihre konkreten Auswirkungen genau unter die Lupe zu nehmen. Der Bedarf an Protest, an einem lautstarken Aufbegehren, ist kaum geringer.
aus: der überblick 03/2002, Seite 102
AUTOR(EN):
Amartya Sen:
Amartya Sen ist Rektor des "Trinity College" in Cambridge, England. Für sein Werk zu Hunger, Armut, sozialen Wahl- und Zugangsmöglichkeiten erhielt er 1998 den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften. Wir übernehmen diesen Artikel mit freundlicher Genehmigung aus "The little Magazine", Delhi,Indien.