Bei der Reform der chinesischen Berufsbildung spielen deutsche Erfahrungen eine zentrale Rolle
Anfang der achtziger Jahre richteten viele chinesische Politiker ihren Blick auf Deutschland und die duale Berufsbildung. Mit dem Beginn der Öffnungspolitik sollte das duale System die marode chinesische Wirtschaft in Schwung bringen, so die Idee. Die deutsche Seite erhoffte sich von der Entwicklungskooperation einen außenpolitischen Prestigegewinn und besseren Marktzutritt für deutsche Unternehmen. Nach fast zwanzig Jahren Zusammenarbeit zeigt sich, dass trotz zahlreicher Erfolge nicht alle mit dieser Kooperation verknüpften Erwartungen realisierbar waren.
von Hans-Günter Wagner
Anfang der achtziger Jahre gab es noch über 8000 verschiedene staatlich anerkannte Berufe in China, deren Ausbildungsprofile jeweils sehr eng geschnitten waren. Es gab weder eine freie Berufswahl noch irgendeine Form von Berufsberatung. Eine Reihe so genannter Produktionsschulen verbanden nach sowjetischem Vorbild das Lernen mit der praktischen Arbeit. Die Ausbildung an den meisten dieser Schulen war aber sehr theorielastig und praxisfern. Die fast ausschließlich praktizierte Unterrichtsform war der monotone Lehrervortrag vor Klassen mit über 50 Schülern. Zwar hatten die meisten Lehrer während der Kulturrevolution in der Produktion gearbeitet. Doch handelte es sich dabei überwiegend um wenig qualifizierte Hilfstätigkeiten, sodass den meisten Lehrern eine praktische Erfahrung in ihrem Fach fehlte. Daher vermittelten die Lehrer oft nur jenes theoretische Wissen, das sie selbst Jahre oder Jahrzehnte zuvor an ihren jeweiligen Bildungseinrichtungen erworben hatten.
Noch bevor die chinesische Regierung die Zusammenarbeit mit Deutschland und anderen Ländern aufnahm, leitete sie eine Reformbewegung mit dem Ziel ein, einige der sichtbaren Fehlentwicklungen zu korrigieren. Zu den wichtigsten dieser Maßnahmen gehörte, Elemente der beruflich-technischen Bildung in den Lehrplan der allgemeinbildenden Sekundarschulen zu integrieren. Dadurch sollten die Lerninhalte praxis- und anwendungsbezogener gestaltet und der Eintritt ins Berufsleben erleichtert werden. Die Umwandlung allgemeinbildender oberer Mittelschulen in berufliche Oberstufen zielte in die gleiche Richtung. Doch mussten dafür Lehrer für allgemeinbildende Fächer in Schnellkursen innerhalb weniger Jahre Berufsschullehrer werden. Zusätzlich wurde das staatliche Fenpei- System abgeschafft, nach dem allen Absolventen beruflicher Ausbildungsgänge ein Arbeitsplatz zugewiesen wurde, ohne groß nach den Präferenzen zu fragen. Die Berufsbildung sollte sich fortan nach der Marktnachfrage ausrichten.
Zu Beginn der Entwicklungszusammenarbeit zwischen der Volksrepublik China und der Bundesrepublik Deutschland flossen 80 Prozent aller Mittel in die Berufsbildung. In den ersten Vorhaben wurden Facharbeiter nach deutschen Standards in gewerblich-technischen Berufen ausgebildet. Zwei große Ausbildungszentren in Tianjin und Harbin im Osten des Landes zeugen bis heute von dieser deutschen Präsenz. Bald jedoch wurde klar, dass die wenigen Tausend gut ausgebildeten Fachkräfte im Millionenheer der chinesischen Arbeitskräfte nur einen winzigen Bruchteil ausmachten und allein keine bahnbrechenden Wirkungen entfalten konnten. Deshalb setzten die neuen Vorhaben in den neunziger Jahren verstärkt auf die Ausbildung von Multiplikatoren - von Lehrern und Fachpraxisausbildern. Daneben bemühte man sich, das Schulmanagement zu verbessern.
Dann konzentrierte sich das chinesische Interesse mehr und mehr auf internationale Methoden der Arbeitsmarkt- und Qualifikationsforschung. Dazu gehörte auch, wer die Ausbildungsgänge standardisieren sollte und wie diese zertifiziert werden könnten. So kam es schließlich zur Gründung eines Zentralinstitutes und zweier Regionalinstitute für Berufsbildung, die sich vor allem an Erfahrungen des deutschen Bundesinstituts für Berufsbildung (BIBB) orientierten. Die große Mehrzahl der Vorhaben wurde aus Mitteln des "Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit" (BMZ) gefördert; mit ihrer Durchführung wurden die "Deutsche Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit" (GTZ) sowie die "Hanns-Seidel-Stiftung" betraut.
Im Mittelpunkt der Kooperation stehen Projekte, in denen Experten Wissen und Fertigkeiten über längere Frist und in Schnellkursen vermitteln. Außerdem wird chinesischen Fach- und Führungskräften eine Ausbildung in Deutschland und in Drittländern angeboten. Die Unterstützung der technischen Ausrüstung chinesischer Bildungseinrichtungen spielte dagegen eine geringere Rolle.
Das Hauptproblem bei der Reform des Berufsbildungssystems war für die in den achtziger Jahren als erste für längere Zeit eingereisten Experten das äußerst komplizierte Geflecht von Zuständigkeiten und Interessen: Verschiedene Ministerien und Ämter teilten sich die Verantwortung für die berufliche Bildung. Die Lehrpläne legen sowohl die theoretischen Inhalte als auch die zu erlernenden Fertigkeiten fest. Die einzelnen Schulen prüfen nur die Inhalte im Bereich der allgemeinbildenden Fächer und der Fachtheorie, dagegen werden die Normen der praktischen Prüfung von den jeweiligen Arbeitsbehörden festgelegt.
Viele Experten überraschte das recht hohe Maß an Dezentralisierung der beruflichen Bildung. Man hatte eine zentrale sozialistische Kommandowirtschaft erwartet. Aber diese relative Autonomie hat auch ihre Schattenseite: Es gibt große Abstimmungsprobleme. Während jede einzelne Schule relativ frei über die Fächerstruktur entscheiden kann, steht es nicht so gut um die Koordinierung zwischen lokalen Bildungskommissionen und Industrieämtern, wenn es um die praktischen Anforderungen in den Fächern geht.
Ein weiteres Problem war und ist die einseitige Spezialisierung der beruflichen Bildung. Es fehlt das für das deutsche Dualsystem so typische Modell einer breiten Grundbildung. Als Folge fehlen chinesischen Facharbeitern weit gefächerte Grundfertigkeiten; sie beherrschen zumeist nur eine bestimmte industrielle Arbeit und sind nicht hinreichend flexibel. Chinesische Betriebe waren zudem bisher nur in sehr geringem Umfang bereit, an der Berufsbildung mitzuwirken.
Zu den Erfolgen der Entwicklungszusammenarbeit gehört die Verbesserung der Qualifikation von Facharbeitern und Multiplikatoren. Durch die stärkere Praxisorientierung der Ausbildung sowie des Einsatzes von modernen Lehr- und Lernmethoden sind die Fachkräfte aus solchen Projekten wesentlich besser qualifiziert als herkömmlich ausgebildete. In Schanghai ist untersucht worden, in welchen Berufen Schulabgänger eine Arbeit gefunden hatten. Dabei hat sich gezeigt, dass praxisnah ausgebildete Absolventen von ihren unmittelbaren Vorgesetzten wesentlich besser bewertet wurden als herkömmlich geschulte - insbesondere hinsichtlich der Selbständigkeit, Eigeninitiative und Fähigkeit, Probleme zu lösen.
Gleichwohl ließen sich die erfolgreichen Modelle in China nicht leicht verbreiten. So wurden etwa die Strukturen eines erfolgreichen Pilot-Ausbildungsganges kaum in allgemeinverbindliche Ausbildungsordnungen oder Rahmenlehrpläne umgesetzt. Vielmehr wird zunächst diskutiert, wo und unter welchen Bedingungen der Versuch wiederholt und weitere Erfahrungen gesammelt werden können. Und nach jedem weiteren durchgeführten Modellversuch wird ebenso verfahren, bis sich diese neue Form der Ausbildungsorganisation und -durchführung allmählich immer mehr bewährt und schrittweise verbreitet. Die Koexistenz konkurrierender rechtlicher Regelungstatbestände über einen langen Zeitraum wird in China in Kauf genommen und nicht als Problem gesehen.
Als Folge solcher Verfahrensweise ist der Verbreitungsgrad erfolgreicher Modelle nach wie vor recht gering. Hinzu kommt, dass viele Schulen und Einrichtungen, die über fortgeschrittenes Unterrichts-Know-how verfügen, nicht gewillt sind, dieses kostenlos weiterzugeben. Man befürchtet, damit den eigenen Vorsprung wieder zu verlieren.
Dass es keine einheitliche rechtliche Grundlage gibt, betrachteten viele Fachleute zu Beginn der Zusammenarbeit als den größten Mangel des chinesischen Berufsbildungssystems. Geprägt vom deutschen Erfahrungshintergrund strebte man zunächst an, das berufliche Bildungssystem zu vereinheitlichen und auf eine rechtliche Grundlage zu stellen. Deshalb wurden verschiedene Vorhaben im Rahmen der System- und Politikberatung darauf ausgerichtet, ein landesweit zuständiges Kooperations- und Planungsorgan und einen einheitlichen Gesetzesrahmen für die Berufsbildung zu schaffen.
Das chinesische Berufsbildungsgesetz von 1996, das wichtige deutsche Erfahrungen aufgreift und in Gesetzesrichtlinien fasst, war ein erstes deutliches Ergebnis der deutschen Beratung. So sind unter anderem gemäß Artikel 20 die Betriebe aufgefordert, entsprechend ihren jeweiligen Verhältnissen Berufsbildungsmaßnahmen durchzuführen. Ihnen ist zudem auferlegt, die Berufsbildungskosten der eigenen Mitarbeiter zu tragen. Eine Regelung sieht sogar vor, dass von Betrieben, die keine Berufsbildung durchführen, eine Ausbildungsabgabe erhoben werden kann. Allerdings sind bis heute keine wirksamen Durchführungsbestimmungen zu dieser Klausel des Gesetzes erlassen worden. Die Regierung und die Verwaltungsbehörden sahen sich außerstande, die ohnehin finanzschwachen Staatsbetriebe noch mit einer weiteren Abgabe belegen.
Das eigentliche Problem aber liegt im chinesischen Rechtsverständnis und in der chinesischen Rechtstradition. Viele der neuen chinesischen Rechtvorschriften bringen derzeit eher einen Gestaltungswillen und eine Gestaltungsrichtung zum Ausdruck, als dass sie einen durchsetzbaren Anspruch formulieren. So ist in China die Zusammenführung von Rechtsgestaltung und Rechtswirklichkeit ein sehr langwieriger Prozess.
Bisher konnten Maßnahmen umgesetzt werden, die auf eine Ausbildung mit breiterer Grundlage abzielen, um von der Schmalspurausbildung wegzukommen. Heute gibt es bereits 88 breit angelegte Kernberufe und für ausgewählte Berufe ein einheitliches System von Zeugnissen für Bildungsgänge und Nachweise über berufliche Qualifikationen. Die Zersplitterung der Berufe und die einseitige Spezialisierung ist damit schon ein gutes Stück abgebaut worden. Weil dieses Vorhaben jedoch in die Zuständigkeit verschiedener Behörden fällt, gibt es nach wie vor größere Abstimmungsprobleme. Auf einer nationalen Bildungskonferenz im Juli 2002 ermahnte Ministerpräsident Zhu Rongji die beteiligten Ministerien ausdrücklich, die Zusammenarbeit zu verbessern.
Dabei zeigt sich in der Beratungsarbeit bis heute stets das gleiche Grundproblem: Es mangelt an einer national und regional umfassenden Datenerfassung, -verarbeitung und -analyse, welche Fach- und Arbeitskräfte, auch im Hinblick auf zukünftige Entwicklungen, gebraucht werden. Nur in Ansätzen konnten sich empirische Forschungsmethoden durchsetzen, mit denen die Veränderungen von Qualifikationsanforderungen und eine branchenübergreifende Nachfrage nach Arbeitskräften untersucht werden. Politische Schönfärberei rangiert noch immer vor tatsachengestützten Forschungsergebnissen, die oft eine eher triste Wirklichkeit zu Tage fördern. Viele wichtige Daten werden entweder nicht erhoben, oder - sofern sie verfügbar sind - als Verschlusssache behandelt und nicht weitergegeben. Wenn es um die Stabilität der politischen Herrschaft geht, hat bis heute (noch) die Hierarchieorientierung Vorrang vor dem Leistungsdenken.
Grundsätzlich herrscht in China großes Interesse an neuen Lehr- und Lernformen. Und die Lehrer und Lehrerinnen sind zumeist spontan bereit, solche Methoden auszuprobieren, wenn hierfür ein geeignetes Umfeld geschaffen und entsprechende Unterstützung gewährt wird. Überall wo dies nicht der Fall ist, hängt die Verbreitung neuer Lehrmethoden ganz von der Frustrationstoleranz und dem Engagement der Lehrer ab. Im Rahmen der deutsch-chinesischen Entwicklungszusammenarbeit wurden zahlreiche Seminare zur Lehrerfortbildung mit handlungsorientierten Lernformen durchgeführt. Fachkräfte waren für entsprechende kurze oder längere Einsätze in Schulen und Betrieben tätig, Schulleiter und Bildungsplaner konnten sich im Rahmen von Bildungs- und Informationsreisen von entsprechenden deutschen Erfahrungen inspirieren lassen. In den deutsch-chinesischen Kooperationsprojekten läuft die Arbeit mit neuen Lernmethoden dort am besten, wo die Leitungsebenen diesen Prozess aktiv unterstützen und die Lehrkräfte für entsprechende Fortbildungsmaßnahmen freistellen.
Die deutsche Berufsbildungskooperation mit China hat jedoch nicht zu einer Verbreitung des dualen Systems im Reich der Mitte geführt. Dieses Ziel war von politischem Wunschdenken geprägt und von Beginn an unrealistisch. Eine solche grundlegende Transformation hat bisher auch in keinem anderen Schwellenland stattgefunden. Inzwischen beteiligen sich die Betriebe zwar stärker an der beruflichen Bildung als früher, aber einen wirklichen Durchbruch hat es nicht gegeben.
Wesentlich erfolgreicher war die Zusammenarbeit in der Verbreitung handlungsorientierter Lehr- und Lernformen. Insbesondere die Ausbildung zur Mündigkeit und Entscheidungsreife, nicht nur im beruflich-fachlichen Bereich, kann künftig größere Wirkung zeigen. Zwar haben in deutsch-chinesischen Projekten empirische Forschungsmethoden Einzug gehalten, wie etwa Qualifikationsanalysen und Absolventenverbleibsstudien, aber Ideologien und Schönfärberei spielen noch immer eine dominierende Rolle.
Die neu geschaffenen Ausbildungsmodelle wirken sich schon in vielen Bereichen vorteilhaft aus, wenngleich das Gesamtergebnis bezogen auf das riesige Land noch recht bescheiden ist. Möglicherweise ist die Verbreitung neuer Denkweisen und Handlungsformen das wichtigste Ergebnis gewesen. Wo Menschen in der Zusammenarbeit einander nicht nur fachlich näher gekommen sind und ihr Verständnis für die Partner gewachsen ist, wird man die Wirkungen noch spüren, wenn die konkreten Projekte längst ausgelaufen sind.
Berufliche Bildung in ChinaWechselnde AusrichtungAufgrund der erst spät einsetzenden Industrialisierung hat die chinesische Berufsbildung im Vergleich zu Europa eine ganz andere Vorgeschichte. In den konfuzianisch geprägten Dynastien führte die Berufsbildung im Glanz einer auf Literatur und Kunst gegründeten kaiserlicher Beamtenbildung ein klägliches Schattendasein. Mit der bürgerlichen Revolution von 1911 endete die Jahrtausende alte feudalistische Herrschaft, und seit diesem Zeitpunkt lernt China von westlichen Erfahrungen, einschließlich solchen auf dem Gebiet der Pädagogik und beruflichen Bildung. Zwischen den Weltkriegen war die chinesische Berufsbildung in China vor allem an den USA orientiert. Mit der sozialistischen Revolution von 1949 kam es zu einer radikalen Kehrtwende. In den fünfziger Jahren wurde schrittweise das sowjetische System mit seiner großen Anzahl von Ausbildungsberufen und einem entsprechend hohen Spezialisierungsgrad eingeführt. Nach dem Ende der Kulturrevolution und dem Beginn der Öffnungspolitik (1978) kam es erneut zu einem Richtungswechsel und seither orientiert sich das Land an westlichen Berufsbildungssystemen. Hans-Günter Wagner |
aus: der überblick 01/2003, Seite 38
AUTOR(EN):
Hans-Günter Wagner:
Dr. Hans-Günter Wagner ist Leiter des Geschäftsbereiches Berufsbildung und Qualifizierung der "Deutsche Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit" (GTZ) in Peking. Dort arbeitet er auch als Langzeitberater am Zentralinstitut für Berufsbildung.