Lateinamerikas Umgang mit Menschenrechtsverletzungen
Der demokratische Neubeginn nach Bürgerkriegen oder Diktaturen fand in Lateinamerika unter der Bedingung einer Amnestie für begangene Menschenrechtsverbrechen statt. Opfergruppen und Menschrechtsorganisationen haben das nicht akzeptiert und erreichen mit ihrer Beharrlichkeit, dass mehr und mehr Täter zur Rechenschaft gezogen werden.
von Annette Fingscheidt
Lateinamerika wird bis heute häufig mit dem Phänomen der Straflosigkeit (Impunidad) in Verbindung gebracht. Jahrzehntelange Versuche, die Menschenrechtsverletzungen gesellschaftlich und strafrechtlich aufzuarbeiten hatten nur begrenzten Erfolg, auch aufgrund ernsthafter Defizite im Justizapparat. In Peru und im immer noch kriegsgebeutelten Kolumbien ist der gesellschaftliche Umbruch noch nicht abgeschlossen, aber in den meisten lateinamerikanischen Staaten war es ab Mitte der achtziger Jahre gelungen, Militärdiktaturen und bewaffnete Auseinandersetzungen zu beenden.
Die lateinamerikanischen Erfahrungen sind eher ein Gegenbeispiel zum Begriff transitional justice, da dieser Vorstellungen von einer einmaligen - oft von externen Akteuren getragenen - Aufarbeitung einer belasteten Vergangenheit hervorruft. Trotz lückenhafter Aufarbeitungsprozesse und fortbestehender Straflosigkeit verfolgt dort aber die Zivilgesellschaft hartnäckig ihre Forderungen auf Verdad y Justicia (Wahrheit und Gerechtigkeit). Die Opfer müssen nach einer so einschneidenden Unrechtserfahrung eine Lebensperspektive entwickeln können. Für sie gilt das in Lateinamerika paradigmatische No hay perdon ni olvido: Vergeben und Vergessen gibt es nicht.
Als Zivilregierungen die Militärdiktaturen abgelöst hatten und die zentralamerikanischen Bürgerkriege mit Hilfe der Vereinten Nationen beigelegt waren, standen die neuen, demokratisch gewählten Regierungen vor dem Dilemma, wie sie mit den massenhaft begangenen Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen umgehen sollten. Einerseits stand die lückenlose Aufklärung und strafrechtliche Ahndung als moralischer Imperativ im Raum, andererseits durften der mühselig errungene Friede und die neu gewonnene Demokratie nicht durch die Sanktionierung einer der involvierten Parteien aufs Spiel gesetzt werden. Die neuen Regierungen mussten jedoch ihre Legitimität auch durch eine explizite Vergangenheitspolitik unter Beweis stellen; schließlich waren sie für den (Wieder-)Aufbau des Rechtsstaates gewählt worden.
Schonungslose Offenheit glaubte man sich nicht leisten zu können, war doch der Verzicht der Militärs auf die Ausübung der Regierungsmacht mit der Bedingung verknüpft, dass die Straffreiheit bei Menschenrechtsverletzungen garantiert würde. Eine Strafverfolgung kam also meistens nicht in Betracht. In Argentinien wurde nach Veröffentlichung des Berichts der "Nationalen Kommission für das Verschwindenlassen von Personen" (CONADEP) zwar einigen führenden Militärs der Prozess gemacht, diese wurden aber nur wenige Jahre später begnadigt, ein "Schlusspunktgesetz" schränkte die Strafverfolgung 1986 ein, ein "Befehlsnotstandsgesetz" legte 1987 die Gehorsamspflicht sehr weit aus. Ähnliche Amnestieregelungen zur Sicherung der Straflosigkeit wurden in allen betroffenen Ländern erlassen, falls die ehemaligen Machthaber dies nicht bereits - wie in Chile und Peru - zum eigenen Schutz getan hatten. In Uruguay wurde ein solches "Hinfälligkeitsgesetz" allerdings 1989 in einer Volksabstimmung knapp gebilligt. Erst jetzt, unter der vom Linksbündnis getragenen Regierung Tabaré Vásquez sind wieder einige Strafverfahren aufgenommen worden.
Als Ersatz für eine strafrechtliche Aufarbeitung wurden Wahrheitskommissionen zur öffentlichen Dokumentation des Geschehenen eingesetzt. Sie wurden zum prototypischen lateinamerikanischen Mittel zur Vergangenheitsbewältigung. Wie viel Wahrheit konnten sich die "Übergangsdemokratien" in bürgerkriegsversehrten Ländern angesichts des Ausmaßes der begangenen Menschenrechtsverletzungen leisten? In El Salvador und Peru ging die Gesamtzahl der Todesopfer in die Zehn-, in Guatemala gar in die Hunderttausende, so dass eine lückenlose Dokumentation einen beträchtlichen Zeitraum in Anspruch genommen sowie entsprechende finanzielle Mittel benötigt hätte. In Gesellschaften mit einem hohen Anteil indigener Bevölkerung wie Peru und Guatemala und/oder verbreitetem Analphabetismus erfordert die Vermittlung des Ausmaßes von erlittenem Unrecht besondere Konzepte und das nötige Geld dafür.
Der Bericht der chilenischen "Nationalen Kommission für Wahrheit und Versöhnung" enthält eine Liste aller registrierten Fälle der außergerichtlich Hingerichteten und "Verschwundenen" sowie eine minutiöse Darstellung der Funktionsweise der Repressionsstruktur, aber die Namen der Verantwortlichen sind nicht genannt. Reparationszahlungen durften lediglich von den Angehörigen der im Bericht genannten Opfer beantragt werden; Überlebende von Folterhaft gingen leer aus und wurden nicht als Diktaturopfer anerkannt. Die weitere Gültigkeit der 1978 dekretierten Amnestie wurde nicht in Frage gestellt. Erst 2003 setzte Präsident Ricardo Lagos eine "Kommission zur Untersuchung politischer Haft und Folter während der Militärdiktatur" ein, mit deren Bericht 28 459 Personen als Folteropfer anerkannt wurden. Ihnen wurden monatliche Entschädigungszahlen von umgerechnet 150 bis 160 Euro zugesprochen.
In Guatemala und El Salvador wurden die Wahrheitskommissionen aus Sicherheitsgründen, aber auch aufgrund der extremen politischen Polarisierung in der unmittelbaren Nachkriegszeit international besetzt. Ohne das Engagement der Vereinten Nationen wären die Kommissionen wahrscheinlich gar nicht eingesetzt worden. Eine international besetzte Wahrheitskommission kann aber den weiteren, generationsübergreifenden Versöhnungsprozess kaum beeinflussen. Dies ist ein großer Nachteil gegenüber nationalen Kommissionen, deren Mitglieder auch nach Beendigung ihres Mandats ihre Stimmen erheben können.
In beiden Abschlussberichten werden lediglich ausgewählte Fälle von Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen erwähnt. Etwas anderes wäre angesichts der festgelegten Zeitspannen von nur sechs Monaten unmöglich gewesen. Bei ernsthaftem Interesse der jeweiligen Regierungen hätten jedoch die jeweilige "Übergangswahrheit" als Grundlage zur weiteren Aufarbeitung wertvoll sein können. Dies war zweifelsohne nicht der Fall. In El Salvador rief der Bericht lautstarke Proteste vor allem vonseiten der Militärs hervor, da die Kommissionsmitglieder beschlossen hatten, Namen von Verantwortlichen für die dargestellten Fälle zu nennen. Eine zusätzliche Ad-hoc-Kommission empfahl die Entlassung von über hundert Offizieren, was aber nur schleppend und unvollständig geschah.
Immerhin identifizierten die "Übergangswahrheiten" die staatlichen Sicherheitskräfte als Hauptverantwortliche der begangenen Gräueltaten. Dies trug einerseits dazu bei, dass die Gesellschaft das Leid der Opfer offiziell zur Kenntnis genommen hat, andererseits hatte es aber auch zur Folge, dass die Regierung die Berichte ablehnte, was wiederum die Distanz zwischen Opfern und neuen Machthabern vergrößerte. Letztere nahmen die Veröffentlichung der Wahrheitsberichte zum Anlass, das Kapitel "Vergangenheitsbewältigung" abzuschließen. Damit schien in Lateinamerika ein Schlusspunkt, ein Punto Final, gesetzt zu sein.
Diese von oben diktierte Vergangenheitspolitik der Regierungen steht in diametralem Gegensatz zur Forderung nach Verdad y Justicia der Betroffenen. Besonders Angehörigen der als "verschwunden" geltenden Personen ist es gelungen, durch ihren ritualisierten Protest ein Symbol für das Fortbestehen der Straflosigkeit in der Öffentlichkeit zu verankern. Außerdem machten große Teile der Bevölkerung die Erfahrung, dass sich an ihrer sozialen und wirtschaftlichen Misere in den neuen Demokratien nichts änderte. Wachsende Enttäuschung und Desillusionierung vermischte sich mit der Erbitterung über herrschende Straflosigkeit und das Unvermögen, Menschenrechtsverbrecher zur Rechenschaft zu ziehen. Das führte Opfergruppen, Menschenrechtsorganisationen und Graswurzel-Initiativen zusammen.
Neben den beharrlichen Versuchen, Menschenrechtsverbrechen trotz bestehender Amnestieregelungen vor heimischen Gerichten einzuklagen, wurden alternative Methoden der gesellschaftlichen Aufarbeitung mit großem Erfindungsgeist umgesetzt: Ethische Tribunale, bei denen die Schergen der Militärdiktaturen moralisch verurteilt wurden, oder das hauptsächlich von Kindern und Enkeln von Diktaturopfern initiierte soziale Bloßstellen von Menschenrechtsverletzern, in Argentinien beispielsweise mittels escraches (ans Licht bringen, zum Beispiel durch eine Demonstration vor dem Täterhaus, bei der die Verbrechen verlesen werden) und in Chile mit der funa (die falsche Identität eines Täters auffliegen lassen, zum Beispiel, als ein ehemaliger Folterer von Demonstranten in seiner Zahnarztpraxis besucht wird).
Mit finanzieller Hilfe aus dem Ausland wurden ferner lokale Gedenkstätten errichtet, Dokumente veröffentlicht und auch alternative Wahrheitskommissionen eingesetzt, etwa REMHI, ein Projekt der guatemaltekischen katholischen Kirche, bei dem Tausende von Zeugenaussagen eingeholt und Hunderte von Massengräbern entdeckt wurden (vergl. "der überblick" Heft 3/1999). In El Salvador haben Nichtregierungsorganisationen jüngst eine Arbeitskommission zusammengesetzt, die eine vollständige Dokumentation der während des Bürgerkrieges begangenen Gräueltaten zum Ziel hat. Die offiziellen "Übergangswahrheiten" sollen so zu einer vollständigeren Wahrheit ergänzt werden. Bereits 1995 proklamierte die Interamerikanische Menschenrechtskommission in einem argentinischen Fall das Recht auf Wahrheit für Opfer von Menschenrechtsverletzungen und ihre Angehörigen.
Lateinamerikanische Menschenrechtsorganisationen und Opfergruppen haben sich angesichts der Straflosigkeit im eigenen Land zunehmend internationale Instrumente zunutze gemacht und haben so mit dazu beigetragen, dass sich eine universelle, weltweit gültige Strafgerichtsbarkeit entwickelt. Der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte, der die Mitgliedsstaaten der Organisationen der Amerikanischen Staaten (OAS) für Verletzungen der Amerikanischen Menschenrechtskonvention von 1969 belangen kann, erhielt eine wahre Flut von Petitionen von Seiten der Menschenrechtsorganisationen. In einem als historisch anzusehenden Urteil vom März 2001 im Falle des Massakers in Barrios Altos in Peru stellte der Gerichtshof fest, dass das 1995 vom Fujimori-Regime erlassene Amnestiegesetz gegen die Konvention verstoße und deshalb nicht anwendbar sei.
In der Folge wurde nicht nur das peruanische Amnestiegesetz abgeschafft, sondern das Urteil diente ebenfalls als rechtliche Grundlage für die Annullierung der argentinischen Amnestiegesetze im Juni 2005, die wiederum den Stein der strafrechtlichen Verfolgung vor heimischen Gerichten ins Rollen brachte. Dieselbe Strategie wendet zurzeit eine salvadorianische Organisation an, um mittels einer Klage im Fall des im Dezember 1981 begangenen Massakers von El Mozote die Abschaffung der Generalamnestie zu erreichen. In anderen Ländern wie Chile, Uruguay und Guatemala sind trotz bestehender Amnestien Verfahren anhängig. Deren Gültigkeit wird zunehmend auch von der heimischen Justiz diskutiert. Die ersten, nach jahrelangen Bemühungen errungenen Erfolge haben einen Schneeballeffekt ausgelöst.
Auch bei der Wahrheitsfindung hat es Fortschritte gegeben. Der 2003 fertiggestellte Abschlussbericht der national besetzten peruanischen Wahrheits- und Versöhnungskommission (CVR) umfasst mehrere Tausend Seiten und empfiehlt explizit die Strafverfolgung der begangenen Menschenrechtsverletzungen. Zu diesem Zweck wurden der Generalstaatsanwaltschaft 47 Fälle zur Ermittlung überreicht. Die CVR hatte öffentliche Anhörungen in ehemaligen Kriegsgebieten im zentralen Andenhochland abgehalten, bei denen die indigenen Betroffenen in ihrer eigenen Sprache Zeugnis ablegen konnten - ein innovativer Schritt.
Die noch tätige Comision de Verdad y Justicia in Paraguay trägt statt "Versöhnung" den Begriff der Gerechtigkeit beziehungsweise Strafverfolgung im Namen. Bemerkenswert ist auch ihre Zusammensetzung: Neben jeweils einem Repräsentanten aus Regierung und Parlament besteht die Mehrheit der neunköpfigen Kommission aus Vertretern von Opfergruppen und Organisationen der Zivilgesellschaft. Ihr Mandat ist umfassend: Sie soll einen Zeitraum von fast 50 Jahren (1954-2003) sowie sämtliche begangene Menschenrechtsverletzungen untersuchen. Der Abschlussbericht wird voraussichtlich in diesem Jahr veröffentlicht.
Die lateinamerikanische Erfahrung lehrt, dass gesellschaftlich-politische und strafrechtliche Aufarbeitung einander nicht ersetzen können. Es muss eine ausgewogene Wechselwirkung herrschen. Sie zeigt ferner, dass Übergangsprozesse in Postkonflikt- oder Postdiktaturphasen von der jeweiligen Zivilgesellschaft mitgetragen werden müssen. Wenn internationale Initiativen die Demokratisierung und den (Wieder-)Aufbau staatlicher Institutionen betreiben, sollten sie deshalb die Zivilgesellschaft des betroffenen Landes in den politischen Entscheidungsprozess einbeziehen. Eine dritte Erkenntnis scheint noch wichtiger: In der organisierten Zivilgesellschaft Lateinamerikas werden Verdad y Justicia als Voraussetzungen für eine nationale Versöhnung angesehen. Das sollte bei aktuellen Debatten über den Zwiespalt zwischen Versöhnung und transitional justice, wie das Modewort für Gerechtigkeit und Rechtsprechung lautet, beachtet werden.
aus: der überblick 01/2007, Seite 88
AUTOR(EN):
Annette Fingscheidt
Annette Fingscheidt ist Sozialanthropologin und Mitglied der bundesdeutschen "Koalition gegen Straflosigkeit".
Sie ist vor allem dem lateinamerikaweiten Netzwerk von Angehörigen "Verschwundener" FEDEFAM verbunden.