Zauberwasser gegen Armut?
Wenn Mali als eines der ärmsten Länder der Welt mit den Industrieländern in der Informationstechnologie mithalten will, muss es viel aufholen. Aber braucht es das überhaupt und wozu? Ein Blick über den digitalen Graben.
von Claudio Zemp
Das Hôpital du Luxembourg liegt im Stadtviertel Hamdallaye im Osten der Hauptstadt Bamako. Man erreicht es über die üblichen holprigen und staubigen Quartierwege. Die Taxifahrt ist noch etwas ruppiger als sonst, weil soeben die ganze Unterseite des Armaturenbretts des 30-jährigen Renault 12 heruntergefallen ist, und das Gas seitdem nur noch sporadisch reagiert. Der Chauffeur nimmt es gelassen und umkurvt geschickt Gruppen von Schulkindern und freilaufenden Schafen sowie die zahlreichen Löcher und Abfallhaufen im Weg.
Durch das Eisentor, am dösenden Torwärter vorbei, gelangt man in den Hof und befindet sich bereits halb im Krankenhaus. Keine Türen, kein Spitalgeruch. Gleich um die Ecke der grün gestrichenen Wand trennt einen nur ein Vorhang vom Operationssaal. Auf einer Bank davor warten besorgt drei Frauen und ein Mann in farbigen, langen Kleidern. Gegenüber betet ein Mann mit Turban auf seinem Teppich. Im Gang steht verlassen ein alter Rollstuhl.
Nichts deutet darauf hin, dass sich hier das technische Herz des Telemedizinprojekts keneya blown befindet. Und doch: In einem gekühlten Kämmerchen hinter weißen Vorhängen blinken die Lämpchen der High-Tech-Computer-Server. Daneben leuchten die Augen des jungen Arztes Cheick Oumar Bagayoko, der seine Geräte vorstellt: eine Digitalkamera, eine Dokumentenkamera und ein Computer mit schwarzem Flachbildschirm, auf dem die Homepage www.keneya.net flimmert. Die Internetseite ist ein virtueller Vorlesungssaal, der auch Fernkonsultationen ermöglicht. So konnte sich die kleine Fanta aus Bamako ihren Wasserkopf von einem Neurochirurgen aus Genf untersuchen lassen. Und einmal pro Monat findet ein Fernkurs für Medizinstudenten statt.
Abwechselnd dozieren Experten aus Mali und Genf. Der digitale Austausch kommt auch den Schweizer Studenten zu Gute: Via Internet bekommen sie Krankheitsbilder zu Gesicht, die bei ihnen längst verschwunden sind. "Die Telemedizin ist die Medizin der Armen", schwärmt der stellvertretende Exekutivkoordinator Cheick Oumar Bagayoko und spricht vom Ziel, das immense Wissen dieses Gesundheitslexikons für alle Spitäler, Krankenzentren und Apotheken Malis zu öffnen. Es bräuchte dazu nur eine Internetverbindung. "Und die Gesundheitskosten würden sinken", fügt Bagayoko an, der wie alle Mitarbeiter des Projekts unbezahlt arbeitet.
"Telemedizin?", der sarkastische Unterton in der Stimme von Aminata Traore ist unüberhörbar. Die ehemalige Kulturministerin Malis empfängt mich in ihrem Gäste- und Kunsthaus Djenne in Bamako. "Wie viele Medizinstudenten haben weder Stipendien, noch Bücher, noch Arbeitsmittel? Wie viele Kranke haben Zugang zu einer simplen medizinischen Versorgung und den nötigsten Medikamenten?" Die Informationstechnologie ist eines der Lieblingsthemen der energischen Globalisierungskritikerin: Internet für alle? "Die Malier haben mit weitaus dringenderen Problemen zu kämpfen", findet Aminata Traore. Sie ziehe dem Internet einfache Lösungen vor, mit denen auch die nicht alphabetisierte Mehrheit der Bevölkerung umgehen könne. Zwar schätzt auch die vielreisende und oft befragte Autorin die Möglichkeiten von E-Mail und mobilem Telefon. Doch Traore wehrt sich gegen die großen Versprechen, mit welchen diese Instrumente als Zauberwasser gegen die Armut angepriesen werden. Und während die Gewinne aus den verkauften Geräten und Dienstleistungen in den Norden fließen würden, hätte Mali nur zu verlieren auch einen Teil der Identität und Unabhängigkeit, ist sie überzeugt.
Dem UN-Weltgipfel über die Informationsgesellschaft im Dezember 2003 in Genf blickt Aminata Traore mit großer Skepsis entgegen: "Angesichts von Aids, Analphabetismus und Hunger in unseren Ländern kann man sich fragen, ob dieser Gipfel wirklich eine Priorität darstellt." Zeichen des Fortschritts wie Auto, Radio und Strom hätten schließlich auch ohne Gipfel ihren Weg gemacht. Doch nun werde künstlich eine Nachfrage nach Computern geschaffen.
Benjamin Poudiougo kümmert es wenig, woher sein Bedürfnis kommt: Er wünscht sich sehnlichst ein Handy. Der Rechtsstudent verdient sich sein Leben als Touristenführer in seinem Heimatdorf Sangha im Dogonland im östlichen Zentralmali. Dort steht auf dem Dorfplatz eine Antenne mit Telefonhütte. Es ist das einzige Telefon für 52 Dörfer und über 20.000 Einwohner. Die große Mehrheit der Dogons kann damit gut leben. Mit oder ohne Telefon muss ihr Abschnitt des Zwiebelfeldes täglich vom Brunnen her von Hand bewässert werden. Und die Frauen sind es gewohnt, mit einem Topf voll Hirsebier auf dem Kopf drei Stunden lang über steile Felswege zum Markt zu marschieren.
Für Benjamin Poudiougo und seine Kollegen liegt die Sache etwas anders. Während der Öffnungszeiten der Kabine (nachts, mittags und an Wochenenden ist der Kabinenwart nicht da), stehen die Führer Schlange, um mit Kunden, Reisebüros und Hotels Kontakte zu knüpfen. Die Bewohner von Sangha selbst sind telefonisch schlecht erreichbar. Einmal durchkommen reicht nicht. Die gewünschte Person sollte auch noch in Reichweite sein und die Leitung dann immer noch frei. Ein Handy würde Benjamin Poudiougo das Leben also erleichtern. Einmal abgesehen davon, dass er sich kein Gerät leisten kann. Außerdem ist die Anzahl der Handynummern in Mali beschränkt und die Nummern sind entsprechend gesucht. Die Ankunft eines zweiten, privaten Mobilfunk-Anbieters hatte sich immer wieder verzögert. Mit dem Erwerb der teuren Konzession hat sich die Tochterfirma von France Telecom verpflichtet, innerhalb eines Jahres die fünf am stärksten besiedelten Gebiete Malis abzudecken. Auch Timbuktu, die einst für Europäer unerreichbare Wüstenstadt im Norden Malis, ist seit 2001 mit dem weltweiten Netz verknüpft. Das Telecentre Communautaire Polyvalent (TCP) befindet sich an der einzigen geteerten Straße der Stadt. Obwohl diese zum Flughafen und zum Hafen führt, verkehren hier mehr Kamele und schwer beladene Esel als Autos. Gleich vis-a-vis des Einganges stampft eine Frau in ihrem Mörser Hirse zwischen den nackten Mauern eines nie zu Ende gebauten Hauses.
Für die Touristen in Timbuktu ist das TCP einfach ein Internet-Café, wie es sie in Bamako mittlerweile zu Dutzenden gibt. Allenfalls auch eine Oase der Erholung vor bettelnden Kindern, aufdringlichen Schmuckverkäufern und der Wüstenhitze. Im TCP werden aber auch Informatikkurse für Einheimische angeboten, und alle 14 Tage wird hier ein kleines, farbiges Info-Magazin produziert. Weil sonst kaum Zeitungen bis nach Timbuktu gelangen. Die jungen Malier, die es sich leisten können, nutzen das Internet nicht nur fürs Geschäftliche. Beliebt sind auch Flirtseiten wie www.amour.fr. Ein teurer Spaß: Eine Stunde baden im Infomeer kostet 1000 Francs CFA (etwa 1,50 Euro). Mit diesem Geld lebt die Mehrheit der Malier ein paar Tage lang. Und gleich viel kostet ein Arztbesuch im lokalen Gesundheitszentrum.
Websites
Alles über das Telemedizinprojekt "keneya blown" in Mali steht auf der Internetseite www.keneya.net
Das Aktuellste über den UN-Weltgipfel zur Informationsgesellschaft im Dezember 2003 in Genf ist auf der Website www.geneva2003.org zu finden.
aus: der überblick 04/2003, Seite 59
AUTOR(EN):
Claudio Zemp:
Claudio Zemp ist freier Journalist und arbeitete zwei Monate in Mali bei der Zeitung "l'Essor". Dies ist die vom Autor aktualisierte Fassung eines Artikels, der im Juni 2003 in der Schweizer Zeitschrift "eine welt" erschienen ist. Wir drucken ihn mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.