Die Vermeidung von Konstruktionsfehlern
Jahrhundertelang galt rund ums Mittelmeer eine Formel: Körperlich schön ist jemand, dessen Proportionen dem göttlichen Idealmaß nahekommen. Im 19. Jahrhundert machte der Naturforscher Charles Robert Darwin auf seinen Reisen eine andere Erfahrung: Schönheit entsteht erst in den Augen des Betrachters. Doch das Schönheitsempfinden von Menschen ist nicht nur eine Laune, es stellt zugleich ein Gesundheitszeugnis aus, das für die Evolution schädliche Mutationen zu vermeiden sucht.
von Armand Marie Leroi
Schönheit ist das, was wir sehen (oder hören oder berühren oder riechen) und was uns Freude bereitet, und als solches sind ihre Formen unendlich verschieden - oder zumindest hat es den Anschein. Mir geht es an dieser Stelle allein um körperliche Schönheit.
“Schönheit”, sagt die Philosophin Elaine Scarry, “fördert die Zeugung von Kindern: Wo das Auge etwas Wunderbares sieht, möchte es der ganze Körper reproduzieren”. Platon, betont sie, hatte dieselbe Idee. Im Symposion erzählt Sokrates, wie er von Diotima, einer Frau aus Mantinea, in der Kunst der Liebe unterwiesen wurde und sich mit ihr über das Wesen von Liebe und Schönheit unterhielt. “‘Ich will es einfacher ausdrücken’, sagte Diotima. ‘Es gilt nämlich der Eros nicht dem Schönen, wie du glaubst, Sokrates’, sagte sie. ‘Aber wem sonst?’ ‘Der Zeugung und Fortpflanzung im Schönen.’ ‘Nun ja’, sagte ich. ‘Ganz gewiss’, erwiderte sie.”
Darwin selbst hätte es nicht besser formulieren können. Ein großer Teil seiner “Abstammung des Menschen” ist der Untersuchung von Präsenz, Wahrnehmung und Zweck des Schönen gewidmet. “Der Fall bei dem männlichen Argusfasan ist außerordentlich interessant”, schrieb er, “weil er einen guten Beleg dafür bietet, dass die raffinierteste Schönheit nur als Reizmittel für das Weibchen dienen kann und zu keinem anderen Zweck.” Er dachte an die Schwanzfedern des männlichen Argusfasans mit seinen geometrisch angeordneten Augenflecken. Doch Fasanen und Fidschiinsulaner sind sich, was Psychologie angeht, in Wahrheit sehr ähnlich. Für Darwin ist die Liebe zum Schönen eine allgegenwärtige evolutionäre Kraft, die, was ihre Macht angeht, nur von der natürlichen Selektion übertroffen wird. Die natürliche Welt verdankt viel von ihrem Überfluss Geschöpfen, die Generation um Generation das Schöne wählten. [...] Und sie schenkte der menschlichen Spezies ihre Vielfalt.
Faszinierend an Darwins Darstellung des Schönen ist, dass er ohne Bezugnahme auf Kunst oder Philosophie eine Position auf dem großen Themenmarkt der Ästhetik bezieht. Er will wissen, ob Schönheit allgemeingültig oder etwas Besonderes ist, ob sie häufig oder selten ist, ob sie einem Zweck dient oder nicht. Auf all diese Fragen gibt Darwin eine eindeutige Antwort. Körperliche Schönheit, stellt er fest, ist nicht allgemeingültig, sondern liegt in den Augen des Betrachters. Verschiedene Menschen in verschiedenen Teilen der Welt haben jeweils eigene Vorstellungen von Schönheit. Und Schönheit ist selten. Schön zu sein, heißt, sich von allen anderen wenig zu unterscheiden. Sie ist auch ohne Zweck. Unser Gehirn nimmt aus welchem Grund auch immer einige Dinge als schön wahr, und zwar ungeachtet der anderen Eigenschaften, die diese Dinge haben mögen. Schönheit bezweckt nichts. Sie existiert um ihrer selbst willen.
Darwins Ansichten über Schönheit sind, wie für ihn typisch, sehr originell. So enthält “Die Abstammung des Menschen” beispielsweise nichts über das klassische Schönheitsideal, das vom archaischen Kouros bis zum finsteren Blick des Antonius reicht und Jahrhunderte lang rund ums Mittelmeer ständig wiederholt wurde, als gäbe es dafür eine Formel. Und es gab sie, eine Formel, die bis zur Renaissance zu einer Theorie der menschlichen Schönheit geworden war, in der Proportionen göttlich waren, eine Theorie, die sich im 18. Jahrhundert in einen Standard verwandelte, an dem die ganze Menschheit gemessen wurde. Es war dieses Ideal, das J. J. W. Winckelmann zu der Behauptung veranlasste, die alten Griechen seien das schönste aller Völker gewesen (auch wenn er die modernen Neapolitaner ebenfalls recht ansehnlich fand), das Camper veranlasste, den Kopf einer griechischen Statue an das eine Ende seiner Skala von Gesichtswinkeln zu stellen, das Buffon veranlasste, zwischen dem 20. und dem 35. nördlichen Breitengrad eine “Zone der Schönheit” auszumachen, die sich vom Ganges bis nach Marokko erstreckte und Perser, Türken, Tscherkessen, Griechen und Europäer einschloss, und das Bougainville veranlasste, die Inselbewohner bei seinem Eintreffen auf Tahiti (1768) mit Begriffen zu preisen, die der klassischen Idylle eines Watteau-Gemäldes angemessen gewesen wären. Darwin vermeidet all dies. Er sagt uns nicht, was er für schön hält; vielmehr versucht er herauszufinden, was andere denken. Er sammelt Berichte von Reisenden. Indianer, so erfährt er, sind der Ansicht, weibliche Schönheit zeichne sich durch ein breites, flaches Gesicht, kleine Augen, hohe Wangenknochen, eine niedrige Stirn, ein breites Kinn, eine Hakennase und Brüste aus, die bis zur Taille hängen. Manchu-Chinesen bevorzugen Frauen mit riesigen Ohren. In Cochin-China haben schöne Frauen einen runden Kopf, in Siam auseinander strebende Nasenlöcher, und Hottentotten mögen es, wenn ihre Frauen einen derart großen Fettsteiß haben, dass sie nicht wieder aufstehen können, wenn sie sich einmal hingesetzt haben.
Darwin fragt sich nach der Zuverlässigkeit seiner Daten und damit hat er sicherlich Recht. Generell ist er jedoch davon überzeugt, dass unterschiedliche Menschen Schönheit auf unterschiedliche Weise wahrnehmen. Seine Sicht ist ansprechend. Per molto variare la natur è bella - die Schönheit der Natur liegt in ihrer Vielfalt; das könnte Darwins Motto sein und auch das von Benetton (tatsächlich war es aber das von Elisabeth I.). Angesichts der rasch wechselnden Modeströmungen kann man kaum daran zweifeln, dass die Liebe zum Schönen häufig die besondere Liebe zu seltenen und bedeutungslosen Dingen ist. Unter Wissenschaftlern, die das Schöne studieren - und das Studium des Schönen ist selbst zunehmend in Mode gekommen -, gelten Darwins Ansichten jedoch als ziemlich altmodisch. Heutzutage gehen die meisten Forschungen zu diesem Thema davon aus, dass der Schönheitsstandard universell ist, dass Schönheit ziemlich häufig und dass sie keineswegs zwecklos ist, sondern eine Menge zu sagen hat.
Die Allgemeingültigkeit des Schönheitsstandards ist ebenso selbstverständlich wie seine Besonderheit. Der scheinbare Widerspruch löst sich auf, wenn wir erkennen, dass es einige Dinge gibt, bei denen die Geschmäcker verschieden sind, und einige, für die das nicht gilt. Was die Vorlieben für Merkmale wie Behaarung (von Kopf, Gesicht und Körper), Pigmentierung (von Augen, Haar und Haut) und vielleicht sogar Körperform (Verhältnis von Hüft- zu Taillenumfang) angeht, so scheinen sie sich von Mensch zu Mensch, von Ort zu Ort und von Zeit zu Zeit mehr oder minder stark zu unterscheiden. Doch was die Vorliebe für relative Jugend - zumindest, wenn Männer Frauen beurteilen - betrifft, gilt dies nicht. Und auch nicht für die Vorliebe für eine gewisse Art von Gesichtern. Durchschnittsgesichter werden anscheinend überall auf der Welt als attraktiver empfunden als die meisten, wenn nicht sogar alle abweichenden Gesichter. Symmetrie wird Asymmetrie vorgezogen. Das sind einige der Ergebnisse aus einer großen Zahl von Artikeln, in denen es darum geht herauszufinden, wer was wann schön findet. Viele davon zeigen das Offensichtliche. Würde ein Stammeskrieger aus Papua-Neuguinea in die Londoner Nationalgalerie gebracht und hätte die Wahl zwischen Botticellis Venus (derjenigen in “Mars und Venus”) und Massys’ “Porträt einer hässlichen Frau” als Partnerin, wäre er vielleicht von beiden wenig beeindruckt, aber wir können sicher sein, wen er wählen würde.
Sinn und Zweck von Schönheit sind umstrittener. An dieser Stelle möchte ich nur einer Idee nachgehen: dass Schönheit etwas mit dem physiologischen Zustand zu tun hat, dass sie in der Tat so etwas wie ein Gesundheitszeugnis darstellt. In ihrer einfachsten Form ist die Richtigkeit dieser Idee ebenfalls ganz selbstverständlich. Eine reine Haut, strahlende Augen und weiße Zähne sind deutliche Zeichen von Schönheit und Gesundheit. Es ist kein Zufall, dass brasilianische Männer, wenn sie eine wunderschöne Carioca-Tänzerin sehen, “Que saude” seufzen - welche Gesundheit. Ob bestimmte Gesichtsproportionen und Symmetrie Gesundheit signalisieren, ist allerdings weniger offensichtlich. Untersuchungen mit computergenerierten Gesichtern zeigen, dass wir schöne Gesichter als gesunde Gesichter wahrnehmen. Bei realen Menschen hat die Suche nach einer Korrelation zwischen Schönheit und Gesundheit jedoch nur schwache und uneinheitliche Effekte erbracht.
Vielleicht ist das so, weil Schönheit nicht mehr das ist, was sie einmal war. Die gesamte menschliche Geschichte hindurch hing schlechte Gesundheit mit Ernährung und Parasiten zusammen - zu wenig von dem einen, zu viel von dem anderen. Schönheit war ein Indikator für eine gesunde Umwelt oder, anders formuliert, für die Fähigkeit, den Wechselhaftigkeiten der Umwelt zu widerstehen. In dem Maße, in dem dies zutrifft, muss zumindest in den am weitesten fortgeschrittenen Industrienationen die Streuung der Schönheit abnehmen, selbst wenn ihr Mittelwert zunimmt. Kröpfe und Kretinismus mögen noch immer weite Teile der Welt plagen, aber sie sind in der Schweiz kein Problem mehr. Überall sind die Pockennarben verschwunden. Selbst in England behalten nun die meisten Menschen bis ans Lebensende ihre Zähne. Man fragt sich, ob sich die Krankheiten - Filariose, Malaria und Schlafkrankheit, ganz zu schweigen von Unterernährung in ihren vielen Formen -, unter denen so viele Kinder dieser Welt leiden, aus der Symmetrie und den Proportionen ihres Gesichts ablesen lassen, falls sie bis ins Erwachsenenalter überleben. Ohne Zweifel verlangt Reichtum der Schönheit einen Preis ab - in Form von Fettleibigkeit, Karies und Stress. Doch wenn sich Reichtum alles in allem eher positiv auswirkt, und das muss der Fall sein, dann enthält jeder Hörsaal mit amerikanischen und europäischen Studenten so viel Schönheit, wie es sie in der menschlichen Geschichte nie zuvor gegeben hat.
Das mag unwahrscheinlich klingen, aber nur, weil wir wenig Gespür für den Vormarsch der Schönheit haben. Schönheit ist wie Wohlstand. Sie nimmt im Lauf der Zeit zu, bleibt aber ungleichmäßig verteilt. Gleichgültig, wie viel wir haben, es hat immer den Anschein, als habe jemand anderes mehr davon. Das liegt zum Teil daran, dass Schönheit als Folge von Gesundheit auch eine Folge von Wohlstand ist. Aber angenommen, es existiert eine Gesellschaft, die so wohlhabend und egalitär ist, dass alle, was Ernährung und Pathogene angeht, gleich gesund sind - eine Gesellschaft von der Art, wie ihr die Niederlande nahe kommen (von der Großbritannien und die USA aber leider noch weit entfernt sind), in der sich der sozioökonomische Hintergrund eines Kindes nicht schon an seinem Aussehen ablesen lässt. Wären in einer solchen Gesellschaft alle gleichermaßen schön? Würden Schönheitsunterschiede verschwinden? Ich bezweifle es. Wie schön sich der durchschnittliche Niederländer auch finden mag, einige seiner Landsleute werden noch schöner sein. Ich vermute, es gibt bei Schönheit einen Rest an Streuung, den selbst die kontrolliertesten Bedingungen des Heranwachsens nicht ausmerzen können. Einen Rest, der in unseren Genen liegt.
Wie sich schlechte Ernährung und Infektionen in der Kindheit auf das Gesicht auswirken, mag ungewiss sein, doch die Auswirkungen von Mutationen sind es nicht. Wenn klinische Genetiker die Symptome ihrer Patienten zu klassifizieren versuchen, sehen sie ihnen zuerst ins Gesicht. Sie sind Experten darin, die subtilen Veränderungen zu erkennen, die oft das einzige äußere Zeichen einer tiefer gehenden Störung sind: eine flache Rinne in der Mitte der Oberlippe, tief sitzende Ohren, eine aufgebogene Nase, eng oder weit stehende Augen. Viele, vielleicht sogar die meisten der Störungen, die ich in diesem Buch diskutiert habe - von der Achondroplasie (Kleinwuchs mit verkürzten Armen und Beinen) bis zur Pyknodysostose (Kleinwuchs durch gestörtes Knochenwachstum) -, lassen sich vom Gesicht ablesen.
Offenbar reagiert unser Gesicht sehr empfindlich auf Mutationen. Oder vielleicht sind wir auch nur sehr geübt darin, die Auswirkungen von Mutationen davon abzulesen. So oder so ist es wahrscheinlich, dass uns die Auswirkungen von Mutationen ins Gesicht geschrieben stehen - nicht nur in die Gesichter von Menschen mit einer nachgewiesenen klinischen Störung. [...]
Aber es handelt sich dabei um nicht mehr als begründete Vermutungen. Sie ziehen überdies die relativen Kosten einer jeden Mutation nicht in Betracht: Es ist so, als wollte man Spielverluste durch Zählen der Chips abschätzen, die an die Bank gehen, ohne auf ihren Wert zu achten. Wahrscheinlich sind die Kosten der meisten Mutationen recht gering. Sie rufen kleinere Beschwerden hervor, wie einen schlimmen Rücken oder schwache Augen. Ich vermute, ihnen verdanken wir auch schiefe Zähne, Knollennasen und asymmetrische Ohren. Wenn das tatsächlich so ist, dann liegt die wahre Bedeutung von Schönheit in der relativen Seltenheit von genetischen Irrtümern. [...]
Was macht also körperliche Schönheit so attraktiv? Was versetzt sie in die Lage, uns zu überraschen, uns zu hindern, sie mit Gleichgültigkeit zu betrachten, egal, wie übersättigt wir von der Welt der Reklame und des schönen Scheins sind, die sich die Schönheit angeeignet und uns argwöhnisch gegenüber ihrer Macht gemacht hat? Wenn an der Antwort, die ich skizziert habe, etwas Wahres ist, dann geht es bei jedem Bild von einem vollkommenen Körper oder einem schönen Gesicht in Wirklichkeit nicht um das Thema, um das es zu gehen scheint, sondern darum, was nicht ist. Es geht um die Unvollkommenheiten, die nicht da sind: die Konstruktionsfehler, die aus der Launenhaftigkeit von Gebärmutter, Kindheit, Reife und Alter erwachsen und über unseren ganzen Körper geschrieben stehen und die so allgegenwärtig sind, dass wir, wenn wir jemandem begegnen, der ihnen anscheinend - wie flüchtig auch immer - entkommen ist, innehalten, um voller Freude zu staunen. Schönheit, sagt Stendhal, ist nur das Versprechen von Glück. Vielleicht. Aber sie ist gleichermaßen die Erinnerung an Leid.
aus: der überblick 04/2004, Seite 9
AUTOR(EN):
Armand Marie Leroi:
Dr. Armand Marie Leroi lehrt Evolutions- und Entwicklungsbiologie am "Imperial-College" in
London. Dieser Artikel ist ein Auszug aus seinem Buch "Tanz der Gene", © Elsevier GmbH,
Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg 2004.