Vielleicht wird sich der Zukunftskongress der EKD in Wittenberg im Rückblick einmal als maßgebliche Zäsur in der Entwicklung der evangelischen Kirche erweisen, als entscheidender Impuls für eine erfolgreiche Neuorientierung. Vielleicht wird man aber auch in ein paar Jahren im Rückblick auf Wittenberg die Wunden diverser Reformkontroversen lecken und wieder einmal feststellen, dass außer Spesen nicht viel gewesen sei. Gleich welches dieser Szenarien Wirklichkeit wird - der Kongress in Wittenberg bot gerade für einen katholischen Beobachter viel Anschauungsunterricht für einen Vergleich der eigenen Kirche mit der evangelischen Schwesterkirche.
von Ulrich Ruh
Zuallererst machte Wittenberg einen ein wenig neidisch. Schließlich gab es bisher in der katholischen Kirche der Bundesrepublik keine vergleichbare Veranstaltung zu Zukunftsfragen, die für das Leben der Kirche entscheidend sind. Es wäre aber gut, wenn sich auch auf katholischer Seite Bischöfe, Priester, Ordensleute und Laien einmal zusammensetzen würden, um gemeinsam zu überlegen, wie es mit ihrer Kirche weitergehen soll. Sie würden dabei zum Teil wenigstens die gleichen Themen behandeln, die jetzt beim EKD-Zukunftskongress auf der Tagesordnung standen: das Verhältnis von Hauptamtlichen und Ehrenamtlichen, die Entwicklung der Kirchenfinanzen, Bildungsarbeit und Diakonie als wichtige kirchliche Handlungsfelder, Veränderungen bei den Pfarrgemeinden.
Allerdings würde sich ein katholischer Zukunftskongress von den Bezugsgrößen her vom evangelischen unterscheiden. Man würde sich bei der katholischen Veranstaltung immer wieder auf das Zweite Vatikanische Konzil beziehen, das prägende Ereignis für die katholische Weltkirche im 20. Jahrhundert, und man würde regelmäßig den Papst zitieren. Das gehört sozusagen zum selbstverständlichen katholischen Ritual.
Demgegenüber wurde der reformatorische Bezugsrahmen für den EKD-Kongress bewusst hergestellt. Man tagte trotz damit verbundener logistischer Probleme in Wittenberg, der "Lutherstadt". Auch der Ratsvorsitzende setzte in seinem Hauptvortrag entsprechende Signale: Lutherzitate, Erinnerung an Paul Gerhardt, dessen Gedenkjahr 2007 zur reformatorischen Profilierung genutzt werden soll.
Katholiken - auch die in Deutschland - haben klare Vorgaben für das, was ihre Kirche ausmacht. Ein einheitliches Amt, eine gesamtkirchlich geregelte Feier des Gottesdienstes, ebenso gesamtkirchlich geltende Rechtsnormen. Dass es innerhalb dieses Rahmens regionale und nationale Varianten gibt, dass im übrigen auch immer ein Unterschied zwischen pays légal und pays réel besteht, ändert daran im Grundsatz nichts.
Demgegenüber sind Protestanten weniger festgelegt, haben einen größeren Spielraum für Veränderungen in den Strukturen ihrer Kirche. Das zeigt sich im Impulspapier des Rats der EKD etwa daran, mit welcher Selbstverständlichkeit es die Zahl der Landeskirchen in Frage stellt, die Relation zwischen Parochialgemeinden und Profilgemeinden zugunsten letzter verschieben will oder auf ausstrahlungskräftige evangelische "Begegnungsorte" und "Kompetenzzentren" setzt.
In wichtigen Grundlinien des für die evangelische Kirche mit dem Impulspapier und mit dem Zukunftskongress angezielten Reformprozesses könnten sich Katholiken und Protestanten problemlos verständigen. Beide Kirchen sollten darum nicht nur den weiter schrumpfenden Bestand erhalten, sondern offensiv und gleichzeitig sensibel auf die Menschen "draußen" zugehen. Beide sollten die Chancen nutzen, die ihnen das teilweise gewandelte gesellschaftliche Klima ("Wiederkehr der Religion" ist das Stichwort dafür) bietet.
Beim Kongress in Wittenberg wurde in verschiedenen Diskussionsbeiträgen an die unverzichtbare spirituelle Dimension aller Reformprozesse erinnert, an die Bedeutung der geistlichen Beheimatung nicht zuletzt als Element der Aus- und Fortbildung von Pfarrerinnen und Pfarrern. Diese Seite kirchlicher Erneuerung würde für die katholische Seite von vornherein eine größere Rolle spielen, jedenfalls in programmatischen Formulierungen. Im katholischen Deutschland gibt es sozusagen flächendeckend ein Netz von Geistlichen Zentren, nicht zuletzt in Verbindung mit Klöstern, das im evangelischen Deutschland keine Entsprechung hat oder zumindest schwächer ausgeprägt ist.
Wolfgang Huber hatte in seinem Vortrag bei der Eröffnung des Kongresses in Wittenberg betont, die evangelische Kirche sei von Haus aus ökumenisch ausgerichtet; die angezielte Stärkung des evangelischen Profils entspringe nicht der Lust an der Abgrenzung gegenüber anderen Kirchen und Konfessionen. Die ökumenische Dimension war aber auf dem Zukunftskongress wenig präsent, sieht man von einer Abendveranstaltung ab, auf der der Präses der Protestantischen Kirche in den Niederlanden mit einer Reaktion auf das EKD-Impulspapier zu Wort kam. Auch einige Rednerinnen und Redner während der Plenumsveranstaltung wiesen darauf hin, es lohne sich, beim Thema Kirchenreform auch einmal über den deutschen Tellerrand hinauszuschauen.
Dabei war allerdings an erster Linie an reformatorische Kirche in anderen europäischen Ländern gedacht. Die katholische Kirche als wichtigster ökumenischer Partner im eigenen Land kam beim Zukunftskongress kaum in den Blick, übrigens auch nicht im Impulspapier. Wäre das bei einem katholischen Zukunftskongress wesentlich anders? Darüber kann man nur spekulieren, aber ich glaube, dass bei katholischen Überlegungen zur Zukunft der Kirche der Horizont auch nicht sehr viel über den eigenen "Laden" hinausgehen würde.
Die beiden großen Kirchen hierzulande sind derzeit in hohem Maß mit sich selbst beschäftigt. Dazu kommt, dass jede sehr spezifische Probleme hat, die die andere nicht direkt betreffen. Auf katholischer Seite sind das beispielsweise der Priestermangel und die Zukunft der Orden oder auch der weitere Weg des Verbandskatholizismus, zu dem es kein evangelisches Pendant gibt. Die katholische Seite kennt dafür nicht die Sorgen der evangelischen um eine konfessionelle Profilierung. Die "Marke evangelisch definieren und profilieren", heißt es in der Zusammenfassung zum einem der Foren des Zukunftskongresses. Überspitzt gesagt: Die "Marke katholisch" steht - wenn auch nicht ganz so sicher, wie es manche glauben machen wollen!
aus: der überblick 01/2007, Seite 143
AUTOR(EN):
Ulrich Ruh
Ulrich Ruh ist katholischer Theologe und Chefredakteur der Zeitschrift "Herder Korrespondenz".