Die Zuckerwürfel sind gefallen
Die Befreiung Kubas aus seiner Abhängigkeit vom Zucker war nach der Revolution 1959 ein wesentliches Anliegen der Regierung. Doch die Umstellung der Landwirtschaft scheiterte und so klebte die Insel weiterhin am Zuckerrohr als ihrem wichtigsten Exportschlager und Wirtschaftssektor. Knapp vierzig Jahre später wagt Castro einen neuen Umstrukturierungsversuch - notgedrungen und mit zweifelhaften Erfolgsaussichten.
von Knut Henkel
Aus dem Schornstein der Zuckerfabrik Pablo Noriega ist schon längere Zeit kein Rauch mehr aufgestiegen. Die stählernen Walzen, die dem Zuckerrohr den Saft abpressen, stehen still. Rost nagt an den Bahngleisen, die direkt ins Innere der riesigen Halle führen. Die altersschwache Mühle ist vor einigen Jahren aus der Produktion genommen worden. Reparatur- und Modernisierungsarbeiten sollten stattfinden, doch auch den Arbeitern war schon lange klar, dass ihre Mühle zu jenen gehören würde, die wegen Überalterung stillgelegt würden.
Lange hatte sich das municipio, die Gemeinde Quivicán, gegen die drohende Schließung der Zuckerfabrik gestemmt, war sie doch einer ihrer größten Arbeitgeber. Aber die Gerüchte um die bevorstehende Stilllegung einer ganzen Reihe von Zuckermühlen hatten sich im Laufe des Jahres verdichtet. Ende August trat Kubas Zuckerminister General Ulises Rosales del Toro dann vor die Presse und verkündete nicht nur die Schließung von knapp der Hälfte der Mühlen, sondern auch die Freigabe von 60 Prozent der für Zuckerrohr reservierten Anbaufläche. Kaum jemand hatte in Kuba mit einem so tiefem Einschnitt gerechnet. Was die Parteizeitung "Granma" den Lesern lapidar als "Umstrukturierung des Zuckersektors" präsentierte ist die größte Wirtschaftsreform der jüngeren kubanischen Geschichte.
Rund vier Jahrhunderte ist es her, seitdem die Zuckerproduktion in verschiedenen Regionen des Landes aufgenommen wurde. Kontinuierlich stieg die Produktion des "weißen Goldes", dessen Anbau so mühsam und dessen Geschmack so süß ist. Und immer wieder hatte es Boomphasen gegeben, in denen die kubanischen Zuckerbarone reichlich Kasse machten. Doch vom "Tanz der Millionen", wie der Nachfrageboom während des ersten Weltkrieges in den kubanischen Geschichtsbüchern genannt wird, profitierten nur wenige. Die macheteros, die Zuckerrohrschnitter, waren nicht darunter. Sie wurden miserabel für den Knochenjob bezahlt und ihre Familien hungerten oftmals während der "toten Jahreszeit", den Monaten in denen nicht geerntet wurde. "An jeder Tonne Zucker, die in Kuba produziert wird, klebt das Blut der macheteros", so hat es Ernesto Che Guevara zu Beginn der sechziger Jahre formuliert. Ziel der Revolutionäre um Fidel Castro, Che und Camilo Cienfuegos war es damals die Abhängigkeit zu brechen. Die Abhängigkeit vom Zucker galt als die eigentliche Ursache der Unterentwicklung, da waren sich die Revolutionäre einig, wie im "Manifest der Sierra" nachzulesen ist. Die süßen Kristalle dominierten nahezu die gesamte Wirtschaft des Landes und der Zuckerweltmarktpreis und das Ergebnis der zafra, der Zuckerrohrernte, bestimmten über Wohl und Wehe der gesamten Wirtschaft.
Diversifizierung und Industrialisierung hießen die beiden Schlüsselworte, die zu Beginn der sechziger Jahre in Havanna en vogue waren. Eine eigenständige Entwicklungsstrategie war das Ziel, die auch bei der europäischen Linken auf fruchtbaren Boden fiel. Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir gehörten zu den ersten, die Fidel und Che zur neuen Strategie gratulierten.
Doch die hatte ihre Tücken. Mit den USA, die die kubanische Zuckerimportquote als Reaktion auf die erste Landreform strichen, fiel der wichtigste Abnehmer aus. Zwar sprang die Sowjetunion als Abnehmer ein, aber die Erntemenge ging zwischen 1958 (knapp 6 Millionen Tonnen) und 1963 (3,8 Millionen Tonnen) empfindlich zurück. Parallel dazu fiel auch die Produktion bei den Grundnahrungsmitteln wie Reis, Süßkartoffeln, Yuca und Gemüse zurück, so dass bereits 1962 die Rationierungskarte, Libreta, eingeführt wurde. Das Diversifizierungsprogramm in der Landwirtschaft war gescheitert. Die fehlende Koordinierung, ein Mangel an Fachleuten und die überstürzte Umsetzung waren die wesentliche Ursachen. Man hatte nicht bedacht, dass die vom Zuckerrohr strapazierten Böden sich erst regenerieren mussten und dass die Neuanpflanzungen nicht sofort befriedigende Ernteergebnisse bringen würden. Zudem war die Agrarstruktur nahezu landesweit umgestellt worden. Schließlich zwang das rasant steigende Defizit in der Außenhandelsbilanz und die sich verschärfende Liquiditätskrise die revolutionäre Regierung der barbudos, der Bärtigen, Ende 1963 zur Änderung ihrer Wirtschaftspolitik.
Daran hatte auch die sowjetische Regierung ihren Anteil. In einem weit reichenden Handelsabkommen mit dem sozialistischen Bruderstaat garantierte sie die Abnahme der kubanischen Zuckerproduktion. Der zuvor verfluchte Zucker sollte zum Motor der Entwicklung werden. Das Ziel der zuckerzentrierten Entwicklung wurde ausgegeben und die Zeit der heroischen Ernteschlachten, teilweise unter Beteiligung prominenter europäischer Linker, begann. Hans Magnus Enzensberger war einer von ihnen, der seinen Beitrag im Rahmen der von Che Guevara propagierten "freiwilligen Arbeit" leistete. Die erreichte in der historischen Ernteschlacht von 1970 ihren Höhepunkt und gleichzeitig ihr Ende. Zwar wurden immerhin 8,5 Millionen Tonnen Zucker produziert, aber eben 1,5 Millionen Tonnen weniger als anvisiert, obwohl Abertausende von Arbeitern, Studenten und Lehrern in die Zafra zogen und die Produktion anderer Güter vernachlässigt wurde. Die großen Hoffnungen waren enttäuscht worden, statt Voluntarismus wurde nun Planwirtschaft gepredigt.
Die funktionierte jahrzehntelang verhältnismäßig gut, dank sowjetischer Abnahmegarantie zu Preisen zumeist über dem Weltmarktniveau, so Pedro Monreal, Wirtschaftswissenschaftler an der Universität Havanna. Monreal gehörte zu Beginn der neunziger Jahren zu jener Gruppe von kubanischen Sozialwissenschaftlern, die für moderate Reformen auch im Zuckersektor eintraten. "Nicht weniger als 25 Prozent der Produktionskosten im Zuckersektor entfallen auf Ausgaben für den Straßenbau, für Kindergärten und so weiter. In fast allen municipios ist Zucker der wichtigste Wirtschaftsfaktor und die einzige Geld-und Materialquelle". Die wollten die Gemeinden nicht verlieren und so wurde die "notwendige Strukturanpassung mit allen erdenklichen Mitteln von unten blockiert". Doch auch auf höchster politischer Ebene schob man die Reform lange Zeit vor sich her, denn alternative Arbeitsplätze in den betreffenden ländlichen Regionen zu schaffen, ist alles andere als einfach.
Daran hat sich bis heute nichts geändert. Aber angesichts konstant niedriger Weltmarktpreise, stagnierender Produktionsquoten zwischen drei und vier Millionen Tonnen und der relativen Erfolglosigkeit aller Reformansätze, zog die Regierung Castro vor wenigen Monaten die Reißleine. In einem ersten Schritt wurde im Juni die Stilllegung von 71 der 156 Zuckermühlen des Landes bekannt gegeben. Ein Schritt, der von Monreal begrüßt wird, denn "einige der Mühlen wurden in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts errichtet und an eine rentable Produktion ist dort schon lange nicht mehr zu denken", erklärt er. In vielen Standorten sei die Entscheidung deshalb auch nicht sonderlich überraschend gekommen, sagt Dario Piñeiro. Der 44-Jährige hat vierzehn Jahre lang in der Pablo Noriega-Mühle, etwa 45 Kilometer südlich von Havanna, gearbeitet und zum Schluss habe die Belegschaft für den Erhalt der Mühle gekämpft. Genutzt hat es nichts, denn die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache: "Bei der letzten Ernte produzierten sieben der moderneren Mühlen 1,8 Millionen Tonnen Zucker und damit mehr als die Hälfte der Gesamtmenge", so Monreal.
In den achtziger Jahren lag die Quote etwa doppelt so hoch, allerdings bei garantierten Abnahmepreisen. Der chronische Mangel an Dünge- und Schädlingsbekämpfungsmitteln ist eine der Ursachen des erdrutschartigen Produktionseinbruchs. Selbst Benzin für die kolossalen Erntemaschinen stand nie in ausreichender Menge zur Verfügung. Den Verfall des wichtigsten Wirtschaftssektors des Landes, in dem offiziellen Zahlen zufolge 430.000 Menschen, immerhin zehn Prozent der Erwerbstätigen, arbeiten, konnte auch der Minister im Generalsrang nicht stoppen. Usiles Rosales del Toro, rechte Hand von Verteidigungsminister Ra l Castro, wurde im Oktober 1997 ins Zuckerministerium versetzt um die Seele der kubanischen Wirtschaft wieder flott zu machen. Knapp fünf Jahre später musste der Zuckergeneral sein Scheitern eingestehen.
Sechzig Prozent der Zuckeranbaufläche von 1,61 Millionen Hektar werden aus der Produktion genommen, erklärte der Minister am 22. August in Havanna. Auf den frei werdenden Flächen sollen Gemüse, Reis und Bohnen angebaut werden, um die Nahrungsmittelversorgung der Bevölkerung zu verbessern. Ein sinnvoller Ansatz angesichts der immensen Kosten von einer Milliarde Euro, die die Insel alljährlich für Lebensmittelimporte ausgibt. Doch die Umstellung wird sich nicht wie anvisiert in zwei Jahren vollziehen lassen, denn die Zuckerrohrböden gelten als ausgelaugt und müssen sich erst regenerieren.
Mit niedrigen Ernteergebnissen ist somit zumindest in den ersten Jahren zu rechnen. Dies umso mehr, da auch die Umschulung der Arbeiter, die del Toro zugesichert hat, nicht so schnell vonstatten gehen wird. Mit 100.000 Arbeitern, die fit für die gewöhnliche Landwirtschaft gemacht werden müssen, rechnet das Ministerium. Dies erscheint ausgesprochen knapp kalkuliert angesichts der großen Flächen, die freigegeben werden. Allein 70.000 Zuckerrohrschnitter werden bis 2004 entlassen. Bis dahin soll die gesamte kubanische Ernte, die dann zwischen zwei und drei Millionen Tonnen liegen soll, von Erntemaschinen eingebracht werden. Realistischer ist es deshalb von rund 200.000 Entlassenen auszugehen, denen ein neuer Arbeitsplatz angeboten werden muss. Das nämlich hat das Ministerium den Angestellten im Zuckersektor zugesichert.
Zwei Jahre hat der Minister für den Übergang von der zucker- zur lebensmittelzentrierten Landwirtschaft veranschlagt. Mehr Zeit ist angesichts fehlender Ressourcen nicht drin, denn der Preis für das amerikanische Pfund (453 Gramm) Rohzucker ist auf mickrige 5,8 Cent gefallen. 476 Millionen Euro wird der Verkauf der diesjährigen 3,2 Millionen-Tonnen-Ernte den Kubanern bringen, rund 75 Millionen Euro weniger als im Vorjahr und gerade ein Achtel der Einnahmen von 1990. Der Reformdruck ist entsprechend groß und Zeit für einen graduellen Übergang nicht mehr vorhanden.
So manche Reformidee verstaubte auch in den Schubladen. Ökologisch produzierter Zucker wird erst seit kurzem in Kuba hergestellt, obwohl der Absatz seit Mitte der neunziger Jahre weltweit kontinuierlich gestiegen ist. Viermal mehr wird für den Ökozucker bezahlt als für das herkömmliche Produkt. Gleichwohl werden derzeit nur etwa 7500 Tonnen davon produziert, gerade zwei Promille der Gesamtproduktion. Innovation hat es schwer in Kuba. Das beste Beispiel dafür ist das von Che Guevara initiierte Institut für die Erforschung der Abkömmlinge des Zuckerrohrs (ICIDCA). 45 Produkte auf Zuckerrohrbasis wurden seit 1963 dort entwickelt: Wachse, Enzyme, chemische Grundstoffe, aber auch biologische Waschmittel, Viehfutter, Spanplatten oder Papier werden in Pilotfabriken hergestellt. Doch nie wurde ausreichend Kapital bewilligt, um den Sprung zur industriellen Produktion zu gewährleisten, klagt Agustín Cabello, Wissenschaftler am Institut. So hatte beispielsweise schon zu Beginn der neunziger Jahre das UN-Entwicklungsprogramm die kubanische Technologie zur Entwicklung von Papier aus Zuckerrohrabfall finanziell unterstützt. Doch schon für den nächsten Schritt war wieder kein Geld im Regierungstopf. "Diese mangelnde Weitsicht kommt uns noch teuer zu stehen", sagt Cabello. Der Mann könnte Recht behalten.
aus: der überblick 04/2002, Seite 96
AUTOR(EN):
Knut Henkel:
Knut Henkel ist freier Journalist mit Schwerpunkt Lateinamerika und schreibt für die »Neue Zürcher Zeitung«, »die tageszeitung« und andere Medien.