In Indiens Gesellschaft überleben Formen sozialer Unterordnung, die anderswo längst verschwunden sind. Nach Schätzungen befinden sich immer noch sieben Prozent der Bevölkerung in Schuldknechtschaft und sklavenähnlichen Verhältnissen. Zwar ist das gesetzlich verboten, aber die Schuldknechtschaft wird traditionell in allen Gesellschaftsschichten akzeptiert, und die Regierung tut nichts gegen ihre Ursachen.
Die 14-jährige Yellamma und ihre 12-jährige Schwester Lakshmi arbeiten in einem Betrieb für das Zwirnen von Seide in Magadi bei Bangalore. Sie leben mit ihrer 35 Jahre alten Mutter Lakkamma in einem Slum. Diese und ihr Mann Siddaiah waren Steineklopfer in einem Steinbruch, bis Siddaiah vor über zehn Jahren starb und Lakkamma mit den Kindern allein zurückließ. Sie verdiente damals 20 bis 30 Rupien am Tag und konnte damit ihre Familie nicht ernähren (100 Rupien sind zur Zeit rund 2,40 Euro). Sie musste Yellamma, die nie zur Schule gegangen war, als Gegenleistung für einen Kredit über 5000 Rupien zur Arbeit in die Seiden-Zwirnerei schicken. Yellamma war damals sieben Jahre alt. Im gesamten ersten Arbeitsjahr verdiente sie 50 Rupien. Sie begann mit dem Spulen der Seide und lernte später Dublieren und Wiederaufspulen.
Lakshmi ging bis zum vierten Schuljahr in die Schule. Doch als Yellamma volljährig wurde, nahm ihre Mutter, um das feiern zu können, erneut einen Kredit von 5000 Rupien auf und ließ Lakshmi im selben Betrieb für das Zwirnen von Seide arbeiten, um den Kredit zurückzuzahlen. Lakkamma selbst arbeitet etwa alle 14 Tage einmal im Steinbruch. Sie leistet außerdem Gelegenheitsarbeiten oder arbeitet als Kuli für 50 Rupien am Tag (derzeit umgerechnet rund 1,20 Euro).
Yellamma und Lakshmi arbeiten von acht Uhr morgens bis halb neun abends. Die Arbeit ist nicht schwer, aber sie müssen die ganze Zeit stehen, da in der Zwirnerei nicht einmal Platz für einen Stuhl ist. Auch sonntags arbeiten sie bis elf Uhr; danach erhalten sie ihren Wochenlohn und werden nach Hause geschickt. Die beiden Mädchen können im Durchschnitt zusammen 150 Rupien in der Woche verdienen. Der Betrag hängt davon ab, wie lange der Strom in der Woche ausfällt, denn für diese Zeit werden sie nicht bezahlt. Ihr Stundenlohn beträgt je 2,50 Rupien, während andere in der Zwirnerei 3,50 Rupien erhalten. Die Differenz von 1 Rupie ist der Zinsabschlag für den Kredit. Der Zinssatz für den Kredit beträgt damit unfassbare 168 Prozent im Jahr. Wenn den beiden der staatliche Mindestlohn von je 65 Rupien am Tag für acht Stunden Arbeit gezahlt worden wäre, hätten sie in einem Jahr zusammen 65.000 Rupien verdient. Damit hätten sie den Kredit mit 15 Prozent Zinsen zurückzahlen können und immer noch 50.000 Rupien auf der Bank gehabt.
Auf die Frage, ob sie bereit sei, ihre Töchter auf eine Schule für frühere Kindersklaven zu schicken und sie nicht länger arbeiten zu lassen, beharrt Lakkamma darauf, dass sie das nur unter zwei Bedingungen tun würde: Wenn erstens die Regierung Vorkehrungen für einem anderen Lebensunterhalt für sie trifft und wenn zweitens entweder sie oder die Regierung den Kredit zurückgezahlt haben. "Die Fabrikbesitzer haben mir in der Stunde meiner Not geholfen. Uns wird in Zukunft nicht Gutes widerfahren, wenn wir sie jetzt im Stich lassen, ohne das zurückzuzahlen, was ihnen zusteht. Wir mögen arm sein, aber wir sind für Fair Play", sagt sie. Die Fabrikbesitzer gäben ihren Mädchen auch jedes Jahr eine Garnitur Kleidung. "Wenn ich die selbst kaufen müsste, würde mich das tausend Rupien pro Garnitur kosten. Ich muss ihnen für all das dankbar sein. Wir haben dank ihrer überlebt. Ich kann sie nicht betrügen", erklärt sie.
Es ist schwer, Lakkamma zu überzeugen, dass die Fabrikbesitzer ihr keinen Gefallen damit getan haben, ihre Kinder zu beschäftigen, sondern diese in Wirklichkeit ausgebeutet haben. Auf die Erklärung, dass die Fabrikanten gegen das Gesetz verstoßen, wenn sie Kinder als Abzahlung von Krediten beschäftigen, und dass Lakkamma diese Schulden gemäß dem Gesetz über die Abschaffung der Schuldknechtschaft, dem Bonded Labour System (Abolition) Act (BLSA), nicht zurückzahlen muss, antwortet sie, sie habe von dem Gesetz nie gehört. Auf den Hinweis, dass sie ihre Kredite bereits mehrfach hätte zurückzahlen können, wenn ihre Töchter den staatlich festgelegten Mindestlohn erhalten hätten, und dass in Wirklichkeit die Fabrikbesitzer ihr Geld schuldeten, erwidert sie, sie kenne das Gesetz über den Mindestlohn nicht. Das Gesicht ihrer Tochter Yellamma glüht jedoch vor Staunen, als sie das hört.
"Indien ist ein Land, in dem Sozialformen, die anderswo längst der Vergangenheit angehören, überleben und an neue Funktionen angepasst werden. Die verschiedenen Formen der Unterordnung einer Klasse von Menschen unter eine andere sind hier nicht durch revolutionäre Umwälzungen beseitigt worden. Im Gegenteil, ihre Merkmale haben sich verbunden und manchmal unter den Auswirkungen des Kapitalismus gewandelt und so eine außerordentliche Mischung aus Modernem und Archaischem geschaffen", schreibt Utsa Patnaik in einer Einführung zu einem Buch über Schuldknechtschaft und Sklaverei in Indien mit dem Titel Chains of Servitude (Ketten der Knechtschaft). Patnaik zufolge wird Feudalismus "im Wesentlichen als Beziehung zwischen einer leibeigenen Bauernschaft, die wirtschaftliche Überschüsse abgeben muss, und einer Klasse von Herren bezeichnet, die Eigentum an Grund und Boden monopolisiert". In der Geschichte Indiens lässt sich das Agrarsystem der Mogulen-Zeit (1526-1857) als eine spezifisch indische Variante des Feudalismus betrachten. Ein Teil der von den Bauern erarbeiteten Überschüsse wurde von den örtlichen Herren als Pachtzins in Naturalien einbehalten, und das Übrige wurde als Steuereinnahmen an den Feudalstaat weitergeleitet.
Ein anderer Unterschied zwischen dem indischen und dem westeuropäischen Feudalismus bestand darin, dass es eine Klasse von landlosen Arbeitern gab, die in Erbknechtschaft lebten und zu Grundbesitzerfamilien gehörten. Sie durften keinen Grund und Boden besitzen und mussten in der Landwirtschaft arbeiten oder wurden mit Aufgaben beschäftigt, die als besonders niedrig galten. Als Gegenleistung erhielten sie gerade genug zum Überleben. Ihr Status als landlose Leibeigene entsprach einer besonderen Position in der Kastenhierarchie. Diese Arbeiter wurden als Kastenlose bezeichnet, und die bekannten Formen der Diskriminierungen des Kastensystems wurden gegen sie angewandt.
Die Institution der Kasten stammt aus der späten wedischen Zeit (als wedisches Zeitalter in Indien werden die Jahre 1500 bis 500 v. Chr. bezeichnet), als die Arier vom Hirtendasein zum Feldanbau übergingen. In dieser Phase wurden die noch als Jäger und Sammler tätigen anderen Stammesvölker in die neue, Nahrungsmittel erzeugende Wirtschaft als Shudras aufgenommen, das heißt als Heloten ausgebeutet. Diese ausbeuterische Assimilierung lässt sich bis heute in entlegenen ländlichen Gebieten beobachten, wo Stammesangehörige zu einer weiteren "minderwertigen" Subkaste in der Hindu-Hierarchie gemacht werden. "Kasten sind die typisch indische Ausdrucksform von institutionalisierter Ungleichheit", schreibt Utsa Patnaik.
Mit der Eroberung des Landes durch die Briten und der Einverleibung von Britisch-Indien in ein weltweites System der kolonialen Wirtschaft nahm die Kaste der landlosen Arbeiter erheblich zu. Viele der zuvor quasi Leibeigenen wanderten in andere Teile des Reiches, wo neue Bergwerke und Plantagen alternative Arbeitsmöglichkeiten boten. Damit untergruben sie die traditionellen Formen der erblichen Schuldknechtschaft. Doch gleichzeitig führte die Politik des Kolonialstaates - freie Einfuhr von billigen Waren, hohe Steuerbelastungen, rigorose Eintreibung von Steuern in Bargeld, Anwendung der Gesetze über die Beschlagnahmung von Grundeigentum und Inhaftierung von säumigen Schuldnern - einerseits zu einer massenhaften Entwurzelung von Handwerkern. Andererseits verelendeten große Teile der verschuldeten ärmeren Bauernschaft und verloren ihr Land. Weil alternative Arbeitsangebote aufgrund der sehr geringen Industrialisierung in der Kolonialzeit nur ungenügend zunahmen, stieg die Unterbeschäftigung. Gleichzeitig wurden aber zunehmend die traditionellen Formen der Knechtschaft durch die geldbezogene Form ersetzt, die Schuldknechtschaft: Ein mittelloser Arbeiter oder verelendeter Bauer nahm einen Kredit auf und verpfändete dafür seine eigene Arbeitskraft und die seiner Nachkommen.
Nach der Entlassung Indiens in die Unabhängigkeit wurden umfassende Bodenreformprogramme beschlossen unter dem Slogan "das Land dem, der es bebaut". Aber angesichts der Klassenzusammensetzung des Landes war der tatsächliche Inhalt der Gesetze das genaue Gegenteil davon. Erstens bedeutete "Abschaffung der feudalen Besitzverhältnisse" nicht, dass auch das System des Grundherrentums abgeschafft wurde oder auch nur das Monopol aufgrund und Boden in den Händen einiger weniger beendet wurde. Die Feudalherren konnten nämlich große Ländereien behalten, indem sie diese als "persönlich bebautes Land" bezeichneten. Das bedeutete allerdings nicht, dass sie nun selbst Hand anlegten. Vielmehr zwangen sie diejenigen, die ihr Land als Erbpächter bearbeiteten, zur Räumung, nahmen selbst das volle Eigentum an dem Land in Anspruch und gingen zum direkten Anbau mit angeheuerten Arbeitskräften über. Für die ärmeren Bauern hatte die massenhafte Zwangsräumung zur Folge, dass sie zu landlosen Landarbeitern wurden.
Die meisten Erbpächter waren arm oder relativ arm, doch es gab auch eine dünne Schicht von reichen Bauern, die zusätzlich zu ihrem Erbpacht-Land, wo sie selbst angeheuerte Arbeitskräfte ackern ließen, eigenen Grund und Boden besaßen. Diese Schicht widersetzte sich nicht nur mit Erfolg der Räumung, sondern konnte, weil sie Geldmittel oder Zugang zu Krediten besaß, zusätzlich Grund und Boden kaufen, den die Regierung von den reichen Grundherren übernommen hatte. So führten die Pachtgesetze dazu, dass die Ärmsten zur Räumung gezwungen wurden und sich in die Reihen der landlosen Arbeiter einreihten, während die bessergestellten Pächter Grund und Boden kauften und ihren Grundbesitz vermehrten.
Im Zuge der Landreform wurden ferner Obergrenzen für die Größe des Grundbesitzes je Eigner festgelegt. Diese Obergrenzen waren zunächst sehr hoch, und weil sie nur auf den Einzelbesitzer bezogen waren, ermöglichten sie den Grundherren eine fiktive Aufteilung und Übertragung an andere Familienmitglieder, sodass die Familien ihr Monopol über Grund und Boden behalten konnten. Der Anteil des Landes, das die Regierung im Rahmen der Gesetze über die Obergrenze übernahm, war deshalb sehr gering, und nur ein sehr kleiner Teil davon wurde an die Landlosen verteilt.
Selbst nach der Grünen Revolution der sechziger Jahre und dem inflationären Anstieg der Preise für Agrarerzeugnisse in dieser Zeit waren die Verlierer der Jahre 1963-75 die Landarbeiter. Deren Reallöhne sanken (bis zu 25 Prozent bei Männern und 15 Prozent bei - geringer bezahlten - Frauen), während Grundherren und reiche Bauern ihre Gewinne stark steigern konnten. Die Quote der Gewinne der Grundherren bezogen auf ihre Lohnkosten war mit durchschnittlich 330 Prozent äußerst hoch.
Der Beschäftigungsstand der Arbeiter verschlechterte sich in dieser Zeit ebenfalls. Die jährliche Beschäftigung von Arbeitern in allen Branchen (die zweieinhalb Monate Untätigkeit für Männer und fünf Monate Untätigkeit für Frauen bedeutete) ging in der Zeit zwischen 1963-64 und 1973-75 weiter zurück. Weil diese Statistik sich auf den Durchschnitt in allen Branchen bezog, war der Rückgang in den rückständigeren Gebieten des Landes vermutlich noch dramatischer. So mussten die Arbeiter, deren ursprüngliches Einkommen bereits kaum das Überleben sicherte, Kredite aufnehmen, wenn ihre Einkommen so stark zurückgingen. Die reale Schuldenlast hatte sich zwischen den Jahren 1963-64 und 1974-75 verdoppelt. Somit ist die Verschuldung praktisch in den Arbeitsvertrag eingebaut; sie entsteht, weil dem Arbeiter absichtlich ein so niedriger Lohn gezahlt wird, dass dieser für sein Überleben nicht ausreicht, sagt Utsa Patnaik. Die Arbeiter sind zur Kreditaufnahme gezwungen.
Artikel 21 der indischen Verfassung garantiert das Recht auf Leben und Freiheit. Das Oberste Gericht Indiens hat dieses Recht so interpretiert, dass dazu unter anderem auch das Recht auf Freizügigkeit, das Recht auf Freiheit von unmenschlicher und erniedrigender Behandlung, das Recht auf Integrität und Würde des Menschen und das Recht auf Inanspruchnahme der Arbeitnehmerschutzgesetze zählen. Artikel 23 verbietet die Zwangsarbeit. Die Schuldknechtschaft verstößt gegen fast alle dieser verfassungsmäßigen Rechte.
Selbst nach der Annahme der Verfassung im Jahre 1950 hielt das System der Schuldknechtschaft noch recht lange uneingeschränkt an. Zwar gab es vereinzelte symbolische Versuche mehrerer Bundesstaaten, das Problem in Angriff zu nehmen, doch diese Maßnahmen erwiesen sich als Fehlschlag, da ihre Umsetzung der Bürokratie überlassen wurde, die keine Sympathien für die in Schuldknechtschaft lebenden Arbeiter hatte. Auch die eigentlichen Ursachen der Schuldknechtschaft wurden nicht angepackt.
Erst 25 Jahre später kam das Thema Schuldknechtschaft erneut auf die politische Tagesordnung, als es in das 20-Punkte-Wirtschaftsprogramm der damaligen Ministerpräsidentin Indira Gandhi aufgenommen wurde. 1976 wurde schließlich ein "Gesetz über die (Abschaffung der) Schuldknechtschaft" (BLSA), verabschiedet, um Artikel 23 der Verfassung in die Praxis umzusetzen. Im Wesentlichen setzt das Gesetz alle in Schuldknechtschaft lebenden Arbeiter frei, streicht ihre noch verbleibenden Schulden, verbietet den Abschluss neuer Vereinbarungen über Schuldknechtschaft und ordnet die wirtschaftliche Entschädigung der freigesetzten Arbeiter durch den Staat an. Das Gesetz sieht Strafen für die Beibehaltung der Schuldknechtschaft und die Einrichtung von Überwachungsausschüssen auf Distrikt- und Kreisebene zur wirksamen Kontrolle und Durchführung des Gesetzes vor. Bundesstaaten wurden aufgefordert, Untersuchungen vorzunehmen und alle in Schuldknechtschaft lebenden Arbeiter ausfindig zu machen und freizusetzen.
Nach den ersten entsprechenden Bemühungen gab es nach 1980 jedoch in den meisten Bundesstaaten kaum noch neue Versuche, in Schuldknechtschaft lebende Arbeiter ausfindig zu machen. So behaupten viele Distriktverwaltungschefs, dass es in ihren Distrikten keine in Schuldknechtschaft lebende Arbeiter mehr gebe oder dass das Gesetz eine zeitlich begrenzte einmalige Angelegenheit oder gegenstandslos geworden sei.
Immer wieder musste das Oberste Gericht der Zentralregierung und den Regierungen der Bundesstaaten Anweisungen zu neuen Untersuchungen geben. Die Bundesstaaten fühlten sich jedoch nicht angesprochen oder reagierten mit der Feststellung, in ihrem Staat würden nur noch vereinzelte Fälle von Schuldknechtschaft beobachtet. Das liegt weitgehend daran, dass der Begriff Schuldknechtschaft eng ausgelegt wird. Viele Distriktverwaltungschefs glauben immer noch, dass nur mit Ketten gefesselte Personen oder solche, die über Generationen hinweg Schulden abzahlen, als in Schuldknechtschaft lebende Arbeiter zu betrachten seien. Für das Berichtsjahr bis Ende März 1993 etwa hatten die Regierungen der Bundesstaaten berichtet, dass sie insgesamt nur 251.424 solcher Arbeiter ausfindig gemacht und befreit hätten, von denen 227.404 entschädigt worden seien.
Die Definition von Zwangsarbeit oder Schuldknechtschaft wurde mit einem Richterspruch des Obersten Gerichts erheblich ausgeweitet in einem Rechtsstreit, der juristisch als der Präzedenzfall "Asiad-Arbeiter" bekannt wurde. Laut dem Gerichtsurteil ist allein die Zahlung von geringeren Löhnen als dem gesetzlichen Mindestsatz ein eindeutiger Verstoß gegen Artikel 23 der Verfassung, selbst wenn es keine Beweise für die Vergabe eines Kredits oder eines Vorschusses oder für eine Schuldknechtschaft gibt. Das hat den betroffenen Arbeitern große Hoffnungen gemacht, hat sich aber als bloße Theorie erwiesen, da die meisten zuständigen Beamten, die die Durchführung des Gesetzes zu beaufsichtigen haben, dieses Urteil gar nicht kennen. Wenn sie darauf aufmerksam gemacht werden, tun sie es mit den Worten ab, dass das Gesetz "unpraktikabel und nicht durchführbar" sei. Sie meinen, die Arbeiter sollten sich glücklich schätzen, dass sie in diesen schwierigen Zeiten überhaupt eine Arbeit haben.
Nicht nur die gesetzlichen Definitionen von Schuldknechtschaft werden missachtet, sondern auch fast alle anderen Bestimmungen. Zum Beispiel die über die Einrichtung von Überwachungsausschüssen. Von den 7000 Strafverfahren, die im Rahmen des BLSA-Gesetzes eingeleitet wurden, führten nur 700 zu einer Verurteilung. Ferner ist bei der Auszahlung der Entschädigungen Korruption im Spiel; häufig werden Personen entschädigt, die sich niemals in Schuldknechtschaft befunden haben.
Ein weiterer juristischer Meilenstein war der Präzedenzfall, den Swami Agnivesh von Bandhua Mukti Morcha (Front zur Befreiung von Schuldknechtschaft) eingebracht hatte. Diese Organisation hatte eine Untersuchung über die Arbeits- und Lebensbedingungen von Arbeitern in den Steinbrüchen im Distrikt Faridabad im Bundesstaat Haryana durchgeführt. Fast keiner dieser Arbeiter hatte Zugang zu Trinkwasser. Fünf oder sechs Personen lebten in Strohhütten, die ein mal zwei Meter groß waren, zitterten im Winter vor Kälte und hatten häufig nicht einmal eine Bodenmatte. Viele litten unter Tuberkulose, andere unter blutigem Durchfall, und viele wiesen infolge der gefährlichen Arbeitsbedingungen ernste Verletzungen auf.
Das Oberste Gericht gab im Jahr 1984 im Urteil zu diesem Fall 21 genaue Anweisungen für die wirksame Umsetzung der Sozial- und Arbeitsgesetze in Steinbrüchen. Unter anderem verlangte es die Umsetzung des BLSA-Gesetzes von 1976, die Durchsetzung von Mindestlöhnen, wirksame Maßnahmen gegen Verschmutzung, die Bereitstellung von Trinkwasser, medizinischen Einrichtungen und Mutterschaftsleistungen, die Bereitstellung eines Rechtsbeistands für Arbeiter in den Steinbrüchen und regelmäßige Besuche von Inspektoren. Doch obwohl das Urteil für die Steinbruchunternehmer wie ein Schock wirkte und von Steinbrucharbeitern als Sieg begrüßt wurde, war ihr Triumph nur kurzlebig. Behördenvertreter und Unternehmer missachteten die Anweisungen des Gerichts.
Ein dritter Meilenstein war die Klage von Neeraja Chaudhary gegen den Staat Madhya Pradesh. Diese Journalistin hatte das Schicksal von Arbeitern aus den Steinbrüchen von Faridabad untersucht, die aus der Schuldknechtschaft freigesetzt worden waren. Das Ergebnis: Die Meisten von ihnen waren überhaupt nicht entschädigt worden, wie es das Gesetz vorschrieb, sodass mehrere von ihnen wieder in die Schuldknechtschaft zurückgefallen waren. Das Oberste Gericht bekräftigte 1984 die Verpflichtung zur Entschädigung der zuvor in Schuldknechtschaft lebenden Arbeiter und rief soziale Bürgerinitiativen zur Hilfe auf, solche ausfindig zu machen.
Trotz all dieser bahnbrechenden Urteile, trotz der großen Bedeutung, die Indien der Raum- und Kernforschung und der Informationstechnologie beimisst, trotz des Traumes, durch die Beteiligung am Globalisierungsprozess den westlichen Lebensstandard zu erreichen, leben nach Schätzungen immer noch sieben Prozent der Bevölkerung in Schuldknechtschaft und in sklavenähnlichen Verhältnissen. Die erinnern eher an das Mittelalter als an Fortschritt.
Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) hat 1996 schwere Vorwürfe gegen die indische Regierung erhoben. In einem Bericht über die Schuldknechtschaft von Kindern in Indien mit dem Titel "Die kleinen Hände der Sklaverei" führt sie als Beispiel ein gescheitertes Programm zur Freisetzung und Entschädigung von in Schuldknechtschaft lebenden Kindern in der Bidi-Industrie an (Bidis sind handgerollte Zigaretten). Im Distrikt Nord-Arcot des Bundesstaates Tamil Nadu in Südindien, so der Bericht,. hatte der Distriktverwaltungschef 1995 Child Labour Abolition Support Scheme (CLASS) eingeleitet, in dessen Rahmen angeblich 1455 Kinder aus der Schuldknechtschaft befreit worden sind. Doch HRW stellte fest, dass 30 Prozent aller angeblich freigesetzten Kinder immer noch in Schuldknechtschaft lebten. Statt die Schulden zu streichen, wie es das BLSA-Gesetz vorschreibt, hatte der Verwaltungschef den Arbeitgebern angeboten, ihnen die Hälfte des ursprünglichen Kredits zurückzuzahlen, wenn sie dafür die in Schuldknechtschaft lebenden Arbeiter freisetzten. So kam es, dass etwa Mani, ein 13-jähriger Junge, der seit dem Alter von 6 Jahren in Schuldknechtschaft lebte, zwar im Rahmen von CLASS vermeintlich freigesetzt worden ist. Dann wurde ihm jedoch vom Agenten des Unternehmers gesagt, dass er diesem noch 1000 Rupien schulde, die er abarbeiten oder zurückzahlen müsse. Mani arbeitete deshalb drei Stunden vor und drei Stunden nach der Schule, um 1000 Bidis am Tag für einen Lohn von 5 Rupien (0,12 Euro) zu rollen.
Dass Freisetzungsprogramme weitgehend fehlschlagen, liegt laut HRW erstens daran, dass die Schuldknechtschaft traditionell in allen Gesellschaftsschichten akzeptiert wird. Ein zweiter Grund sei, dass die Verwaltungschefs selbst an dem System teilhaben und Arbeitgeber nur zögernd anzeigen, die Kinder trotz eines gesetzlichen Auftrags nicht direkt freisetzen. Gegenüber den Herren der in Schuldknechtschaft lebenden Arbeiter nähmen sie eine konziliante Haltung ein. Das gehe so weit, dass sie die Schuldknechtschaft als gültig und rechtmäßig behandelten. HRW hat festgestellt, dass die in Schuldknechtschaft lebenden Arbeiter meistens arm und ungebildet sind und den niedrigeren Kasten angehören, während ihre Herren, die Behördenvertreter und häufig auch die Mitglieder von Überwachungsausschüssen reich und gebildet sind, den höheren Kasten angehören und Beziehungen untereinander pflegen. Daher sei es nicht überraschend, dass die Herren für Einschüchterung und Schikanierung ihrer in Schuldknechtschaft lebenden Arbeiter und für Drohungen und Gewalt gegen diese nicht bestraft werden und die Polizei und Behördenvertreter sogar offen für die Herren Partei ergriffen, wenn die Opfer versuchten, sich zu organisieren.
In einem Fall im Jahre 2000 im Distrikt Mandya in Karnataka, der das ganze Land erschütterte, wurden fünf in Schuldknechtschaft lebende Arbeiter mit Ketten an den Füßen gefesselt vorgefunden, ganz wie im 18. Jahrhundert. Die Regierung des Bundesstaates äußerte ihre große Empörung über den Fall, entschädigte die fünf Arbeiter und steckte den betreffenden Arbeitgeber ins Gefängnis. Der Fall war imageschädigend für Karnataka, das sich rühmt, das Silicon Valley Indiens zu sein. Doch der Fall zeigte auch, dass Landesregierungen nur Fälle mit körperlichem Zwang wie Anketten als Schuldknechtschaft betrachten. Sie ignorieren völlig, dass es unsichtbare Ketten gibt: Wer weder Grundbesitz noch Produktivvermögen besitzt, keinen Mindestlohn erhält, weder eine sichere Beschäftigung noch ein Minimum an sozialer Sicherheit hat, gerät leicht in chronische Verschuldung und quasi in Schuldknechtschaft. Das kann ebenso entwürdigend sein wie sichtbare Ketten. Wer keine Vermögenswerte hat, der hat keinen Zugang zu formellen Krediten, wird abhängig von Mittelsmännern und Geldverleihern, die so hohe Zinsen verlangen, dass die Menschen über Generationen verschuldet bleiben.
Bei Anwendung der von der Verfassung festgelegten wirtschaftlichen Rechte müssten die große Mehrheit der Arbeiter in Indien und nicht nur 7 Prozent als in Schuldknechtschaft lebend gelten, denn die meisten erhalten nie den vorgeschriebenen Mindestlohn. Wenn alle Arbeitgeber, die Vorschüsse und Kredite zu nicht genannten Zinssätzen geben und Kinder zu weniger als dem Mindestlohn auf unbestimmte Zeit beschäftigen, als Herren von in Schuldknechtschaft lebenden Arbeitern betrachtet würden, dann müssten die meisten Arbeitgeber im Gefängnis sitzen und nicht nur die wenigen wegen Schuldknechtschaft inhaftierten. Die Regierung jedoch ist ganz auf die magische Formel von Liberalisierung, Privatisierung, Globalisierung und freien Märkten fixiert, sodass sie die unerledigte Aufgabe einer wirksamen Bodenreform und Landverteilung an die Landlosen völlig vergessen hat.
Die von der Regierung festgelegten Mindestlöhne folgen auch nicht den Kriterien des Obersten Gerichts, denen zufolge die Mindestlöhne so hoch sein sollten, dass eine Arbeiterfamilie mit zwei Kindern ihren Grundbedarf an Nahrung, Kleidung, Wohnung, medizinischer Versorgung, Ausbildung der Kinder und Freizeitgestaltung decken kann. Ausbildung, Beschäftigung und Befähigung sind gewiss die besten Mittel gegen Ausbeutung, aber eine Ausbildung, die zur Befähigung und Beschäftigung führen könnte, ist weder kostenlos noch im ganzen Land obligatorisch. Das lässt die Frage aufkommen: Versucht das Gesetz über die (Abschaffung der) Zwangsarbeit von 1976 die Schuldknechtschaft zu beseitigen, ohne die grundlegenden Ursachen anzupacken, die das System der Schuldknechtschaft verewigen? Wenn ein ungerechtes kapitalistisches Wachstum angestrebt wird, schreibt Utsa Patnaik, dann ist "die sporadische und rituelle Freisetzung von in Schuldknechtschaft lebenden Arbeitern völlig wirkungslos gegenüber der unerbittlichen wirtschaftlichen Logik."
Gestohlene KindheitSechs Jahre Arbeit ohne LohnDer 12-jährige Venkatesh aus Anekal Talu im Bundesstaat Karnataka wurde im Alter von fünf Jahren an eine reiche Grundbesitzerfamilie im Dorf Somalapura für einen Kredit von 7000 Rupien (etwa 162 Euro) in Schuldknechtschaft gegeben. Der Kredit war für die Hochzeit seiner Schwester aufgenommen worden. Sein Vater war ein landloser Arbeiter, der 20 Rupien am Tag verdiente. Seine Mutter Anjanamma arbeitete in verschiedenen Häusern, wo sie ragi, eine Hirseart, siebte. Dafür wurde sie stets in Naturalien bezahlt: drei muddes (gekochte Knödel aus Ragi-Mehl) und eine Handvoll Linsen für einen Tag Arbeit. Venkateshs Eltern starben, als er sich noch in der Schuldknechtschaft befand. Die Kinder nahmen neue Kredite auf, um die Beerdigungskosten ihrer Eltern zu bezahlen. Dem Grundbesitzer wurden für diesen Kredit Erdnüsse zugesagt, die auf anderthalb Morgen Land des Großvaters angebaut wurden - Venkateshs Großvater besaß 20 Morgen. Bald war alles Land der Familie an Grundbesitzer als Rückzahlung für Kredite verpfändet. Venkatesh hat niemals Geld für seine Arbeit erhalten, sondern sein Lohn wurde gegen den Kredit aufgerechnet. Er stand um 4.30 Uhr auf und reinigte als Erstes den Büffelstall. Dann schnitt er Gras, mit dem er die acht Büffel auf der Farm fütterte. Als Nächstes bewässerte er die Felder, auf denen Gemüse und Erdnüsse angebaut wurden. Um 8 Uhr molk er drei Büffel, fütterte die Kälber und brachte die Milch zur Molkerei. Um 9 Uhr nahm er sein Frühstück ein, das aus mudde und Curry bestand. Um 18 Uhr kam er zurück, molk erneut die Büffel und brachte die Milch zur Molkerei. Um 22 Uhr aß er Abendbrot, wieder mudde mit Curry. Er schlief auf der Veranda, da er einer niedrigen Kaste angehörte und das Haus des Herren nicht betreten durfte. Dass er auch nach über sechs Jahren den Kredit von 7000 Rupien noch nicht abgearbeitet hatte, lässt erkennen, wie stark er ausgebeutet wurde. Wenn ihm nur der normale Zinssatz von 15 Prozent berechnet worden wäre, hätte er seine Schulden fast sechsmal zurückgezahlt. Kathyayini Chamaraj |
Kathyayini Chamaraj ist freie Journalistin in Bangalore, Indien. Sie arbeitet zu Themen wie ungeschützte Arbeitsverhältnisse, Kinderarbeit und Schulbildung von Kindern. Sie hat mehrere Journalistenpreise gewonnen, darunter den "Journalism for Human Rights Award".
aus "der überblick" Heft 1/2002