Er ist ein stiller, nachdenklicher Mann. Nur wenn Zaher Howeida über sein Land spricht, erhebt sich seine sonore, bedächtige Stimme. Arm- und Handbewegungen unterstreichen dann seine Worte. Howeida ist Afghane und eine der letzten lebenden Musikerlegenden des Landes. Bald will er nach mehr als einem Jahrzehnt im Exil dorthin zurückkehren: Howeida plant für den Sommer ein Benefizkonzert im Kabuler Stadion, dort, wo unter den Taliban Menschen verstümmelt und hingerichtet wurden.
"Ich wünsche mir ein Konzert mit internationalen Musikern", sagt er. Viele Konzerte hat Howeida in den vergangenen Jahren gegeben, unter anderem in den USA, Kanada und ganz Europa. Nun scheint sein größter Traum, wieder in Afghanistan spielen zu können, Wirklichkeit zu werden.
Der Lebenslauf des Sängers, Harmoniumspielers und Komponisten ist schillernd und traurig zugleich. Geboren 1945 in Kabul, erweist sich der Sohn eines armen Angestellten früh als großes musikalisches Talent. Mit 19 Jahren geht er in die Sowjetunion und studiert am Moskauer Konservatorium klassische Musik. Dort arbeitet er auch als Opernsänger, bevor er 1975 nach Afghanistan zurückkehrt. Mit einer Mischung aus Wehmut und Stolz denkt Howeida an die Zeit in Russland zurück: "Ich kam von einer Monarchie in eine Republik, wo sich mir eine ganz neue Welt öffnete. Die Menschen, deren Lebensweise und der offene Umgang miteinander, das alles hat mich und meine Musik geprägt."
Neben dem Studium widmet sich der Musiker auch der Literatur. Die Belesenheit des hageren Baritons gibt sich zu erkennen, wenn er seine langen, wohl überlegten Sätze mit Zitaten von Tolstoi, Platon und Maulana Djalalledin Balkhi spickt, jenem einflussreichen afghanischen Dichter aus dem 13. Jahrhundert, der in der Türkei im Exil lebte und dessen Schriften noch Goethe inspirierten. "Unser Goethe" und "unser Brecht" seien wiederum für ihn künstlerische Vorbilder gewesen, erzählt Howeida. "Brecht hat den Menschen das wiedergeben, was Nietzsche ihnen genommen hat, nämlich Gott und den Glauben an das Gute."
Nach seiner Rückkehr aus Russland 1975 gibt Howeida in Afghanistan unzählige Konzerte und wird bald zu einem der populärsten Musiker am Hindukusch. "Meine Lieder waren damals Ausdruck politischen Protests, und meine Stimme war meine Waffe gegen die Regierung, gegen Gewalt und Ungerechtigkeit." Howeida sprach aus, was viele Menschen bewegte; seine Stimme galt vor allem denjenigen, die nicht Schreiben und Lesen konnten. In einer Gesellschaft, in der die Analphabetenrate nach Schätzungen der Vereinten Nationen bei etwa 64 Prozent liegt, sind Kino, Radio und Musik die wichtigsten Informationsquellen.
Aber nicht nur die Texte und seine unverwechselbare Stimme machten Howeidas Musik so beliebt. Wie nur wenige verstand er es, klassische Elemente mit folkloristischen zu verbinden und traditionelle Instrumente wie Tabla, Harmonium und Bantscho mit modernen wie Piano, Orgel und Gitarre zu kombinieren. Er entwickelte einen eigenen, moderneren Musikstil, der viele Musiker durch seine vielfältigen Rhythmen und ungewöhnlichen tonalen Variationen beeinflusste.
Aber der zunehmende Erfolg der modernen afghanischen Musik nimmt nur drei Jahre nach Howeidas Ankunft in Kabul ein jähes Ende, als die kommunistische Regierung unter Nur Ahmad Taraki, die durch einen blutigen Militärputsch an die Macht gekommen war, einen Bürgerkrieg auslöst, in den die Sowjetunion interveniert. Damit beginnt der Exodus afghanischer Künstler.
Zur selben Zeit werden die völlig überfüllten Flüchtlingslager im Iran in einem Zustand ständiger Trauer gehalten. Die Bedingungen in den Auffanglagern sind katastrophal; immer wieder gibt es Tote oder es treffen Nachrichten über Todesfälle aus Familien und Freundeskreisen ein. Da der Islam nach dem Tod eine Trauerzeit vorsieht, in der keine Musik gespielt werden darf, verstummt bald die Musik in den Lagern. John Baily, Musikwissenschaftler und renommierter Kenner afghanischer Musik, vermutet, dass hier die Wurzeln des späteren Musikverbotes unter den Taliban liegen und dass die Unterdrückung von Musik nicht in den Glaubensvorstellungen des Islam verankert ist.
Ende der achtziger Jahre geriet Howeida zunehmend unter Druck. "Als Künstler mit einer besonderen politischen Verantwortung versuchte ich, gegen eine Regierung zu kämpfen, die Krieg gegen das eigene Volk führte", erzählt er. "Natürlich stellte ich damit eine besondere Bedrohung für die Diktatur dar. Zunehmend fürchtete ich um die Sicherheit meiner Familie. Ich hatte Angst, dass meine Frau vergewaltigt und meine Kinder verschleppt würden." Einflussreiche Freunde rieten Howeida zur Flucht. Im Februar 1989, fünf Tage, bevor die letzten sowjetischen Soldaten aus Afghanistan abzogen, verlässt Howeida mit seiner Familie das Land. Seither lebt er in Hamburg und hat Afghanistan nicht wieder gesehen.
In Afghanistan wird es unter Präsident Rabbani (1992-1996) für Musiker immer schwieriger, öffentlich zu spielen - auch auf Ramadan-Konzerten, Hochzeiten und anderen Festen, die bis dahin ein regelmäßiges Einkommen garantiert haben. Die Besetzung Kabuls 1996 durch die Taliban versetzt der afghanischen Kultur endgültig den Todesstoß. Jede Form von Musik, ebenso wie Tanz, Kino und Fernsehen, werden verboten. Hört jemand trotzdem Musik, drohen drakonische Gefängnisstrafen. "Die Menschen wurden gezwungen zuzusehen, wie im Kabuler Stadion Musikkassetten und Instrumente mit Benzin übergossen und verbrannt wurden", erzählt Howeida. Musikarchive wurden zerstört, auch die meisten der Aufnahmen von Howeida; heute existieren nur noch qualitativ schlechte private Kopien, die im Internet kursieren. Musiker wurden systematisch verfolgt, verhaftet oder ermordet. Die meisten flohen ebenso wie Schauspieler, Dichter und Intellektuelle aus dem Land. Einzig die Lieder der Taliban waren erlaubt: Choräle sowie Loblieder auf gefallene Märtyrer. Sie wurden ohne Instrumente gesungen und galten daher in den Augen der Taliban nicht als Musik.
Im Unterschied zur afghanischen Literatur, die über Jahrhunderte in schriftlicher Form erhalten geblieben ist, wurde Musik in Afghanistan über Jahrhunderte mündlich von Generation zu Generation weitergegeben. Eine formalisierte Musikausbildung hat sich nie entwickelt. Was passiert mit einer Gesellschaft, in der Musik eine einzigartige soziale und politische Funktion hat und der plötzlich die Möglichkeit musikalischen Ausdrucks genommen wird? Wie bei allen oralen Traditionen kann ein Bruch der Kontinuität zu einem Verlust einer ganzen Kultur beitragen. An einen solchen Bruch will Howeida jedoch nicht glauben: "Ich gehe davon aus, dass Musiker ihre Instrumente versteckt hielten und im Verborgenen weiter Musik komponiert und gespielt haben. Und diese Musik wird eines Tages Zeugnis ablegen über den schrecklichen Geschichtsabschnitt unseres Landes."
Im Exil habe sich seine Musik verändert, meint Howeida: "Früher habe ich gegen Krieg und Unterdrückung gesungen. Im Exil wurden meine Lieder dann melancholischer, bekamen eine nostalgische Färbung und waren weniger anklagend. Heute singe ich aus dem Leben der Menschen, von Liebe, Schmerz und Hoffnung." Begriffe wie Heimat und Fremdheit haben für ihn nur untergeordnete Bedeutung.
Das Thema Exil behandelt auch der Film "The Crossing" von Nora Hoppe, für den Howeida den größten Teil der Musik komponiert hat. "The Crossing" kam letztes Jahr in die deutschen Kinos und erzählt von einem afghanischen Exilanten, der weitgehend isoliert in seiner neuen Umgebung lebt, bis ihn seine Vergangenheit einholt. In einer Szene ist Howeida Harmonium spielend in einer Kneipe zu sehen. "Die Zusammenarbeit mit Zaher Howeida war wunderbar. Es ist ihm hervorragend gelungen, seine Lieder der zum Teil traumgleichen Atmosphäre des Film anzupassen", erzählt die gebürtige Amerikanerin Nora Hoppe.
Howeida glaubt, dass die Musik dazu beitragen kann, die Afghanen wieder zusammenzuführen. "Wenn sich neue Berufsmusiker herausbilden und professionelle Musiker, die heute im Exil über die ganze Welt verteilt leben, nach Afghanistan zurückkehren, habe ich die Hoffnung, dass sich im Vielvölkerstaat Afghanistan in naher Zukunft eine identitätsstiftende Musik entwickeln wird", sagt er.
Solch eine Musik wäre auch vom Exil beeinflusst. Während Musik in Afghanistan aus der Öffentlichkeit nahezu verschwand, florierte afghanische Exilmusik in Pakistan, Iran, Europa und Nordamerika. Dadurch konnte ein Teil der afghanischen Musiktradition weitergegeben werden. Doch Musiker der jüngeren Generation benutzen heute, gewollt oder aus der Not heraus (viele traditionelle Instrumente wie die zwölfseitige Rubab sind in Deutschland nur schwer zu bekommen), zunehmend moderne Instrumente wie Orgel, elektrische Gitarre und Synthesizer. Sie entdecken neue Wege, bewahren aber gleichzeitig das musikalische Erbe Afghanistans. Die Einflüsse sind vielfältig: iranische und indische Musik sowie die gesamte Bandbreite der afghanischen Folklore mit ihren usbekischen, turkmenischen, Paschtun-, Harasi-, Nuristani-, Herati- und Baluchi-Wurzeln.
Zu hören waren solche Klänge jüngst in der Hochschule für Musik und Theater in Hamburg. Musiker aus dem Libanon, Palästina, Irak und Afghanistan waren zu Gast, ebenso der algerische Schriftsteller und Dichter Hamid Skif. Musikalischer Höhepunkt des Abends: Zaher Howeida. Während das Ensemble, darunter zwei von Howeidas Söhnen, bereits Platz genommen hat, tritt Howeida kraftlos wirkend und in sich gekehrt vor das Publikum. Er sei gerade operiert worden und könne leider nicht stehen. Leise erfüllt das einzigartige Timbre des Sängers den Raum, als er zu singen beginnt. Das erste Stück, aus der Titelmusik des Films "The Crossing", ist ein langsames, melancholisches Lied, aber voller Hoffnung. Danach mischt Howeida wie ein Maler die dunklen und hellen Schattierungen seines Baritons. Schwermütige Melodien machen eindringlichen folkloristischen Rhythmen Platz, und langsam löst sich die Spannung im Saal. Am Ende hält es ihn doch nicht auf dem Stuhl, ans Klavier gelehnt und für jeden sichtbar singt Howeida im Stehen weiter. Noch mehr will er sich verausgaben, wenn er im Sommer wieder in Kabul auftritt: "Dort möchte ich zehn Minuten reden und dann so lange singen, bis ich bewusstlos werde."
Jens Rabbe
Jens Rabbe ist Soziologe mit dem Schwerpunkt Konfliktforschung und Politik in Krisen. Er lebt und arbeitet in Hamburg.
aus "der überblick Nr. 2/2002 Seite 72