Neue öffentliche Bibliotheken in Kairos Armenviertel
Kaum auf die Bedürfnisse der Bevölkerung ausgerichtet, gilt Ägyptens öffentliches Bibliothekssystem nicht unbedingt als Inbegriff der Kundenfreundlichkeit. Bücher werden vor allem gehortet und kaum zum Lesen angeboten. Eine in Kairo mit Unterstützung der "Bertelsmann-Stiftung" nach einem ursprünglich in Deutschland entwickelten Ansatz gegründete Bibliothek fördert dagegen die Lesekultur. Inzwischen entstehen nach ihrem Vorbild neue Stadtteilbüchereien.
von Thomas Veser
Die Kultur eines Volkes ist messbar. Man erkennt sie an der Dicke des Staubes auf den Bücherrücken in den öffentlichen Bibliotheken , spottete einmal John Steinbeck. Was sich in zahllosen Büchereien Europas beobachten lässt, trifft auch für das Land am Nil zu. Ägyptische Bibliotheken sind in aller Regel etwas düster wirkende Orte mit staubüberzogenen Büchern, bewacht von einer bisweilen beachtlich großen Zahl schlecht bezahlter Angestellter, die zudem für diesen Beruf nicht ausgebildet sind. Wer sich dort hineinwagt, um zu arbeiten, benötigt Geduld und stabile Nerven. Denn bis bestellte Bücher eintreffen, können Stunden verstreichen, und selbst dann ist ungewiss, ob es sich tatsächlich um die benötigten Titel handelt.
Da es an öffentlichem Geld für Neuanschaffungen mangelt, bleiben Bücher so lange in den Regalen, bis sie durch häufige Benutzung aus dem Leim gehen. Zu glauben, dass man in öffentlichen Büchereien Bücher, Kassetten oder CDs nach Hause ausleihen könnte, wäre ein Trugschluss. Bibliothekare müssen nicht zurückgebrachte Medien aus eigener Tasche ersetzen und daher hüten sie den Bestand wie ihren Augapfel. Nach wie vor orientiert sich Ägyptens Bibliothekskultur am klassischen Begriff der Maktaba, der ehrwürdigen Bücherei. Deren edelste Aufgabe besteht darin, Bücher und Schriften zu verwahren.
Das beflügelt nicht eben die Leselust der Bevölkerung, die der jüngsten Unesco-Studie zufolge zur Hälfte des Lesens und Schreibens unkundig ist. Bei Frauen liegt diese Quote sogar bei annähernd 60 Prozent. Die allgemeine Lesefähigkeit zu steigern und mehr Ägypter ans Lesen heranzuführen, ist denn auch das Ziel der gemeinnützigen nichtstaatlichen Organisation Integrated Care Society unter dem Vorsitz der Präsidentengattin Suzanne Mubarak.
Sie förderte in den vergangenen Jahren den Aufbau einer für ägyptische Verhältnisse ungewöhnlichen Bibliothek, deren Grundidee und Anschubfinanzierung die gemeinnützige Gütersloher "Bertelsmann-Stiftung" lieferte. Die Kairoer Mubarak Public Library (MPL) hat ihr Angebot auf die Bedürfnisse und Interessen von Familien zugeschnitten. Auf wenige, oft nachgefragte Themengebiete beschränkt, erlaubt die Stadtteilbücherei ohne verwirrenden Zettelkasten leichten Zugang zu den Beständen. Die Angestellten bitten Besucher um Kritik und Anregungen und passen das Angebot den sich ändernden Wünschen an. Um die Benutzer stärker an die Bibliothek zu binden, schuf man ein Spielzimmer für Kleinkinder sowie eine Cafeteria. Regelmäßig finden Vorträge, Konzerte und Workshops für Literatur, Tanz und Theater statt. Sieben Jahre nach Gründung der Bibliothek gehört die MPL nicht zuletzt dieses Zusatzangebotes wegen zu den best frequentierten Kulturzentren der Metropole am Nil.
Wie mit der ägyptischen Regierung vereinbart, hatte die Gütersloher Stiftung vor zwei Jahren ihre Finanzhilfe eingestellt, berät aber weiterhin in konzeptionellen Fragen. Das Jahresbudget der Bibliothek von rund 450.000 Euro hingegen zahlt nun zu zwei Dritteln das Kulturministerium. Den Rest bestreitet man aus den Zinserträgen einer Kapitalanlage der Integrated Care Society. Ein Verwaltungsrat, in dem diese nichtstaatliche Organisation, die Regierung und die "Bertelsmann-Stiftung" paritätisch vertreten sind, entscheidet über die Zukunft der öffentlichen Bibliothek, die Kulturminister Farouk Hosny bei ihrer Eröffnung euphorisch als "Leuchtturm der nationalen Kultur" gepriesen hatte.
Suzanne Mubarak hatte Stiftungsgründer Reinhard Mohn Anfang der 1990er Jahre um eine Modellbücherei gebeten und dazu eine große Villa im Stadtteil Gizah angeboten. Wie Bibliotheken der öffentlichen Hand ohne großen Kapitalaufwand in gut besuchte Einrichtungen verwandelt werden können, hatte die Stiftung bereits bei der Gütersloher Stadtbibliothek vorgeführt und dieses Modell später nach Katalonien exportiert.
Mohn bekräftigt, dass auch bei einer Bücherei "die Leistung messbar" sein müsse. Die Bibliothek bekommt deshalb jährlich steigende Vorgaben für die Zahl der Besucher und ausgeliehenen Medien. Und nach Mohns Leitsatz "Köpfe ans Denken" erhielten die Mitarbeiter der unteren Ebene mehr Verantwortung und die Entscheidungsfreiheit, auf welche Weise sie die Planziele erreichen wollen.
Die "Kundenorientierung", die der Stifter aus Ostwestfalen forderte, ist inzwischen offenbar verwirklicht. Da lesen junge Mütter dem Nachwuchs aus Büchern vor, Väter machen ihre Sprösslinge mit dem Computer vertraut. Wollen sich die Erwachsenen selbst ungestört in die Lektüre vertiefen, liefern sie die Kinder im Spielraum ab.
Ursprünglich mit vier Computern ausgestattet, besitzt die MPL mittlerweile hundert Geräte. Einige davon stehen im Internet-Cafâ der Bibliothek und Benutzer, die eine Jahreskarte für die Bücherei gekauft haben, können dort ohne zusätzliche Kosten im World Wide Web surfen. Neu erschienene Bücher werden in den Lesesälen optisch auffallend angeordnet. "Bücher, die keinen Zuspruch finden, nehmen wir nach einer gewissen Zeit aus dem Angebot", erläutert Direktor Maurice Mikhail, der zuvor im wissenschaftlichen Verlagswesen tätig war. Am häufigsten werden Bücher zu den Gebieten Gesundheit, Ernährung, Freizeit, Informationstechnologien und Mode nachgefragt. Große Hoffnungen setzt Mikhail auf den gut frequentierten Internet-Raum."Der wirkt vor allem auf die Jugendlichen wie ein Magnet und veranlasst sie, sich später mit den Bücherbeständen zu befassen", vermutet er.
Die Medizinstudentinnen Sarah (21) und Fatma (24) schätzen die MPL, weil sie in der Nähe ihrer Wohnung liegt und dort im Gegensatz zur Universitätsbibliothek "ruhige Arbeitsatmosphäre herrscht". Sie beteiligen sich an Workshops in der Bücherei und wollen die Donnerstagssitzungen des Literaturclubs inzwischen nicht mehr missen. Abdel Achmed, der die Pädagogenlaufbahn anstrebt und an der angesehenen Al-Azhar-Universität Islamstudien betreibt, fahndet in der Belletristikabteilung nach Romanen, liest Theaterstücke und lernt Englisch mit Hilfe von Videokassetten. Dem 22-jährigen Studenten imponiert die Möglichkeit, dass man in der MPL eigene Standpunkte zu aktuellen Fragen öffentlich darstellen kann. Dazu gibt es in einem Raum eine Wandzeitung, an deren Gestaltung er mitwirkt.
Öffentliche Bibliotheken müssen sich auch bei uns stärker zur Außenwelt hin orientieren. Ihre Rolle als Kultur-und Begegnungszentrum gibt ihnen eine neue Daseinsberechtigung , glaubt Maurice Mikhail. Er verweist auf die Alexandriner Großbibliothek, in deren Konzeption diese Aufgabe deutlich festgeschrieben wurde.
Welche Titel angeboten werden, entscheidet nicht, wie in Ägypten üblich, einzig und alleine der Direktor, sondern ein Komitee, in dem sich unter Maurice Mikhails Vorsitz Vertreter der Bibliothek, des Kulturministeriums und der Integrated Care Society einigen müssen. Rund 80 Prozent der 130.000 Titel sind in arabischer Sprache verfasst, der Rest in Englisch und Französisch.
Anfangs lag der arabischsprachige Anteil bei 60 Prozent. "Damals herrschte jedoch Mangel an Belletristik in arabischer Übersetzung, daher wurde mehr fremdsprachige Literatur aufgenommen", informiert Richard Asbeck von der "Bertelsmann-Stiftung". Man wolle in Zukunft darauf achten, dass die Kulturkreise im Literaturangebot "möglichst ausgeglichen" vertreten seien. Nicht immer verlaufe die Auswahl spannungsfrei, "der Anteil an religiöser Literatur ist größer, als wir ursprünglich wollten", fügt Richard Asbeck hinzu.
Rund 40 Prozent der Bücher erwirbt die Bibliothek auf der Kairoer Buchmesse im Herbst. "Wir kaufen nur auf dem einheimischen Büchermarkt, vor allem aus finanziellen Gründen", erläutert Mikhail. Und damit beantwortet er auch schon die Frage, nach welchen Titel man in seiner Einrichtung gar nicht erst suchen muss: "Was die Zensur verbietet, ist auch bei uns nicht erhältlich."
Dass dieses Modell nicht nur im bürgerlichen Viertel Gizah funktioniert, wollte die Stiftung vor drei Jahren beweisen. Damals eröffnete man die erste MPL-Zweigstelle im Stadtteil Zeytoun. Zeytoun ist eine ärmliche Wohngegend mit etwa einer halben Million Einwohner, die Hälfte davon bekennt sich als Kopten zum christlichen Glauben. Wie die Stiftung zuvor ermittelt hatte, liegt der Anteil der unter 15-jährigen Jugendlichen stadtweit am höchsten. Sie hatten bis zur Eröffnung der Zweigstelle weder Zugang zu Literatur noch anderweitige Begegnungsmöglichkeiten.
Als die Bücherei ihre Pforten öffnete, "gingen die Bewohner auf Distanz", erinnert sich der 33-jährige Filialleiter und Historiker Osama Ghaieb. "Viele Menschen mutmaßten, sie würden genötigt, Dinge zu lesen, mit denen sie zuvor nichts zu tun hatten", fügt er hinzu. Allerdings überwanden sie ihre Skepsis, als sie sahen, dass ihr Nachwuchs dort bei Theater-Workshops, Malkursen und Tanzveranstaltungen betreut wurde. Inzwischen liegt die Besucherzahl dieser Bücherei für die Kinder des Viertels bei jährlich 5.000 Benutzern, die überwiegend zwischen 12 und 24 Jahre alt sind.
Einmal wöchentlich verbringt dort auch die 25-jährige Emen einige Stunden; sie erwartet ein Kind und hat sich Literatur zum Thema Schwangerschaft geholt. Am gleichen Tisch hat der 33-jährige Mathematiklehrer Hesham Platz genommen. Er schätzt das Angebot an Tageszeitungen und verbessert mit Hilfe von Fachliteratur, die er sich mit dem kargen Lohn nicht kaufen könnte, seine Computerkenntnisse. Seit diesem Sommer erhält auch diese Filiale kein Gütersloher Geld mehr, ihre Verantwortlichen können nur hoffen, dass das Kulturministerium sein Budgetversprechen einhält. Unterdessen ist es Maurice Mikhail gelungen, weitere Gelder einzuwerben: Die US-amerikanische Ford-Foundation stiftete 140.000 US-Dollar, womit die audiovisuelle Abteilung erneuert wird. Mit der "Deutschen Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit" (GTZ), die im Auftrag der Bundesregierung Kooperationsprojekte realisiert, vereinbarten Bibliothek und Kulturministerium eine privat-öffentliche Ausbildungspartnerschaft. Seit April bietet die MPL für höhere Angestellte aller Kairoer Bibliotheken sporadisch Qualifikationskurse an.
Auch Suzanne Mubaraks Integrated Care Society ist nicht untätig geblieben. Sie eröffnete im Stadtgebiet kleinere Büchereien nach dem MPL-Modell. Diese haben bereits regen Zulauf und bestätigen offenbar Suzanne Mubaraks Erkenntnis, die sie bei der Zweigstellen-Eröffnung vor zwei Jahren geäußert hatte: "Wie eine Bibliothek effizient verwaltet und attraktiv gestaltet werden kann, ist nicht etwa eine Kunst, sondern eine Wissenschaft", bekräftigte die First Lady damals. "Und die", so fügte sie hinzu, "kann man von Grund auf erlernen".
aus: der überblick 04/2002, Seite 58
AUTOR(EN):
Thomas Veser:
Thomas Veser ist freier Journalist und schreibt für mehrere Zeitungen und Zeitschriften in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Er ist spezialisiert auf Afrika.