Haltet den Dieb!
Es ist Samstagmittag, die Sonne scheint, die einkaufende Bevölkerung strömt über den Berliner Breitscheidplatz. "Hilfe! Hilfe! Haltet den Dieb!", schreit plötzlich eine Frau. Ein junger Mann mit langen blonden Haaren sprintet über den Platz. Die Menschen mit den Einkaufstüten stutzen, bleiben stehen — vor einem riesigen Transparent mit der Aufschrift "Erlassjahr 2000 — Entwicklung braucht Entschuldung". Und sind mittendrin in einer Straßentheater-Aktion.
von Eberhard Schäfer
Der Dieb und die bestohlene Frau gehören zu den Darstellern der Straßentheater-Truppe, die jetzt vor dem Erlassjahr-Transparent beginnt, eine stumme, nur von Tangomusik begleitete Tanz-Theaterszene zu spielen. Friedliche Menschen, so versteht man, verscherbeln ihre schönen Tücher, tauschen sie ein gegen Coladosen, Barbiepuppen und Dollarnoten. Es geht um koloniale und neokoloniale Ausbeutung, um geschäftstüchtige Herrschaften aus Europa und Nordamerika, die auf Kosten der Menschen in den Ländern des Südens eine schnelle Mark machen.
Das Straßentheater-Projekt zum Thema "Entwicklung braucht Entschuldung" gehört zu den Aktivitäten der Projektstelle für entwicklungspolitische Jugendbildung. Diese ist angesiedelt in der Jugendbildungsstätte Hirschluch der Evangelischen Kirche in Berlin und Brandenburg. Seit Anfang 2000 gehört es zu meinen Aufgaben als Projektstellenleiter, der entwicklungspolitischen Jugendbildungsarbeit im Bereich der Arbeitsgemeinschaft der Evangelischen Jugend in Deutschland (aej) neue Impulse zu geben. Mit dem Straßentheater-Projekt wurde versucht, theaterpädagogische mit entwicklungspolitischer Bildung zu verbinden und jungen Menschen eine kreative Beschäftigung mit entwicklungsbezogenen Themen zu ermöglichen.
Hierbei kooperierte die Projektstelle mit Arndt von Massenbach, dem Referenten für Bildungs- und Öffentlichkeitsarbeit beim INKOTA-Netzwerk e.V., einer entwicklungspolitischen Nichtregierungsorganisation. Sie wurde bereits zu DDR-Zeiten gegründet und ist vor allem in den neuen Bundesländern aktiv. Neben INKOTA und Hirschluch haben die aej und das Amt für evangelische Kinder- und Jugendarbeit in Berlin und Brandenburg das Projekt verwirklicht. Als Förderer war der Ausschuss für entwicklungsbezogene Bildungsarbeit und Publizistik (ABP) des EED beteiligt.
Drei Szenen über Armut und Reichtum, Verschuldung und Entwicklung und die Rolle des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank hat die siebzehnköpfige Theatertruppe während zweier intensiver Wochenend-Workshops unter Anleitung der Regisseure Fritz Letsch, Harald Hahn und Till Baumann erarbeitet. Die gebärden sich jedoch nicht als große Zampanos. Sie orientieren sich an der Methodik des "Theaters der Unterdrückten", das von dem brasilianischen Bürgerrechtler Augusto Boal zur Zeit der Militärdiktatur entwickelt wurde, um der Opposition größere Handlungsfähigkeit zu verschaffen. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer sind aufgefordert und werden ermutigt, den Ablauf der Szenen selbst zu gestalten und immer wieder aufs Neue Alternativen zu entwickeln. Das Theater der Unterdrückten bietet die Möglichkeit, zivilgesellschaftliches Engagement zu organisieren und ihm eine kreative Ausdrucksform zu geben.
Die jungen Menschen aus Ost- und Westberlin, Sachsen und Nordrhein-Westfalen (einige stammen aus Nicaragua, den USA und Neuseeland) haben beispielsweise eine Szene entwickelt, die sie "Pflaster-Theater" nennen. Teilnehmerinnen und Teilnehmer repräsentieren Länder des Südens wie Sambia oder Nicaragua, die bei einer gestrengen Person mit Zylinder vorstellig werden, die den Internationalen Währungsfonds würdig verkörpert.
Nicaragua braucht Krankenhäuser, Sambia braucht Schulen, beide und viele andere Länder brauchen vor allem Entschuldung als Voraussetzung für Entwicklung. Doch vom IWF bekommen die Länder Pflaster. Pflaster, die die Wunden bedecken, aber nicht heilen. Ländern, die ihren Mund zu weit aufsperren, um ihren Unmut kundzutun, klebt der Herr vom IWF einfach ein großes Pflaster über den Mund.
Das Publikum mit den Einkaufstüten von H&M, Karstadt und Esprit bleibt stehen, es ist Bewegung da und Musik, "Money" von ABBA tönt aus der Verstärkeranlage, Regisseur Till Baumann trommelt laut und kraftvoll. Wer ein paar Minuten bei der Aufführung ausharrt — und das sind nicht wenige — versteht, dass es um Kritik am Internationalen Währungsfonds und an der Weltbank geht, die den armen Ländern neue "Strukturanpassungsmaßnahmen" verordnen, die die Theatergruppe als Pflaster persifliert hat.
Zur allseitigen Überraschung kommt keinerlei Ablehnung aus dem Publikum. Unmutsbekundungen oder gar lautstarker Protest — Fehlanzeige. Dagegen wenden sich nicht wenige Zuschauer mit Fragen an die Projektleiter oder beschäftigen sich mit dem Material auf dem Info-Tisch. Einige füllen gleich eine Protest-Postkarte an Finanzminister Eichel aus.
Auch das Fernsehen ist vor Ort. Der Sender Freies Berlin produziert einen Beitrag für die Sendung "Kirchplatz", die Nachrichtensendung von ARTE ("ARTE-Info") bringt einen ausführlichen und ausgewogenen Beitrag über die Aktivitäten der Währungsfonds- und Weltbank-Kritiker in Deutschland und Frankreich, dem die Bilder über die Straßentheater-Aktion Farbe und Bewegung verleihen.
Drei Tage lang führt die Theatertruppe ihre Szenen auf, mehr als fünf Stunden täglich. Am Ende sind alle erschöpft und glücklich. "Es war wirklich klasse", "Lass uns weiter machen", so lautet der Tenor beim Auswertungstreffen. Was zunächst als einmaliges Kurzzeitprojekt mit "Eventcharakter" gedacht war, wird fortgesetzt: Als Nächstes will die Gruppe Szenen über die unwürdigen Arbeitsbedingungen in der globalen Textilindustrie einstudieren. Und, natürlich, auf der Straße aufführen.
Hinweis:
Wer sich für Straßentheater in der Jugendbildungsarbeit
interessiert, kann sich an Eberhard Schäfer, Projektstelle für
entwicklungspolitische Jugendbildung, wenden.
e-mail:
eberhard.schaefer@freenet.de Tel.: (033678) 69514.
Infos über das Theater der Unterdrückten im Internet:
www.fritz-letsch.de
aus: der überblick 02/2001, Seite 112
AUTOR(EN):
Eberhard Schäfer:
Eberhard Schäfer ist Leiter der Projektstelle für entwicklungspolitische Jugendbildung der Evangelischen Kirche in Berlin und Brandenburg.