Meditation über die Offenbarung des Johannes 20,4
"Und ich sah die Seelen derer, die enthauptet waren um des Zeugnisses von Jesus und um des Wortes Gottes willen, und die nicht angebetet hatten das Tier und sein Bild und die sein Zeichen nicht angenommen hatten an ihre Stirn und auf ihre Hand; diese wurden lebendig und regierten mit Christus tausend Jahre."
Als man des achtzigsten Geburtstags von Dietrich Bonhoeffer gedachte, vor zwanzig Jahren in Berlin, da stand zum Schluss der Gedenkveranstaltung der ungarische Pfarrer Ference Lehel auf, er hatte bei Bonhoeffer studiert er stand auf, hatte die Bibel in der Hand und sagte: Ich habe in meiner Bibel einen einzigen Vers angestrichen; auf diesen Vers hat uns Dietrich Bonhoeffer aufmerksam gemacht, immer wieder hat er das getan. Dann las Bruder Lehel die Offenbarung des Johannes.
von Christian Gremmels
Dietrich Bonhoeffer ist 17 Jahre alt, als er im Sommer 1923 seinen ersten "Lebenslauf" schreibt, er wird das später noch öfter tun, aber dies ist der erste "Lebenslauf" und dessen erster Satz lautet so: "Am 4. Februar 1906 erblickte ich mit meiner Zwillingsschwester zum ersten Mal in Breslau das Licht der Welt". Fünf Wochen später, am 18. März 1906 wird er in dieser Stadt in der damaligen Lutherkirche getauft. So hat es vor hundert Jahren angefangen.
Dietrich Bonhoeffer evangelischer Pfarrer, Leiter des Predigerseminars der Bekennenden Kirche in Finkenwalde bei Stettin, Mitglied des militärischen Widerstands, konspirativ an dem Versuch beteiligt, Hitler zu töten und dem Regime der Mörder ein Ende zu setzen, von einem SS-Standgericht wegen politischen Hochverrats zum Tode verurteilt und im Morgengrauen des 9. April 1945 im Konzentrationslager Flossenbürg ermordet: Dietrich Bonhoeffer wird heute in der weltweiten Christenheit zu den Märtyrern des 20. Jahrhunderts gezählt: Pater Maximilian Kolbe, der in Auschwitz sein Leben gab Märtyrer im Land der Opfer; Pfarrer Dietrich Bonhoeffer Märtyrer im Land der Täter.
Das Wort "Märtyrer" erst recht das Wort "Heilige" klingt in evangelischen Ohren ungewohnt. Wir Protestanten haben weithin vergessen, dass die reformatorischen Bekenntnisschriften das Gedenken der "Heiligen" und Märtyrer" nicht nur kennen, vielmehr sie fordern dazu auf, es zu vollziehen. In der Apologie der Augsburgischen Konfession heißt es: "In unserer Confession leugnen wir nicht, dass man die Heiligen ehren soll".
Was hat uns dazu gebracht, dies vergessen zu können? Zu vergessen, dass die Wahrheit unseres Glaubens sich in der Welt nicht durch Bücher, nicht durch Argumente, auch nicht durch die Macht der Kirche erhält, sie erhält sich durch das Zeugnis von Männern und Frauen, die, was sie geglaubt, auch gelebt haben und die, gerade weil sie den Glauben ganz in ihr Leben gezogen haben, sich durchaus von den Heiligen unterscheiden, die wir aus der Geschichte des Christentums zu kennen meinen. Nicht Heilige der Vollkommenheit, wie auf Goldgrund gemalt, makellos und rein, sondern Menschen, die der Erde treu sind, die in der vollen Diesseitigkeit ihren Glauben leben ein Glaube, der die Ratlosigkeiten des Lebens nicht überspielt, der angesichts der Widrigkeiten des Lebens sich nicht wegträumt in eine bessere Welt; ein Glaube, der uns dazu anhält, das Rechte zu tun und das Beliebige zu meiden; ein Glaube, der ermutigt, weil er weiß: Gott legt uns nicht mehr auf, als wir tragen können.
Vorbilder des Glaubens werden Menschen für uns nicht durch die Entscheidungen, die sie in ihrer Zeit gefällt haben (denn in unserer Zeit sind wir es, die die Entscheidungen treffen müssen), auch nicht durch die Antworten, die sie gegeben haben (denn für die Antworten, die wir zu geben haben, sind wir selbstverantwortlich). Wodurch aber wirken sie dann? Wodurch nehmen sie Einfluss auf uns? Vorbilder sind sie einzig durch die "Macht der Beschämung", die von ihnen, den mächtigen Toten, ausgeht.
"Und ich sah die Seelen derer, die enthauptet waren um des Zeugnisses von Jesus [ ] willen", heißt es in diesem Bibeltext. Welches Zeugnis haben sie abgelegt? Sie haben nicht angebetet das Tier, den römischen Staat; sie haben nicht angebetet sein Bild, das Bild des Kaisers, das jeder römischen Münze eingeprägt war; sie haben sich nicht "zeichnen" lassen an ihrer Stirn mit einem Malzeichen, wie es Tyrannen ins Fleisch ihrer Untertannen brennen lassen zum Zeichen "Du gehörst mir".
Diese uns auf den ersten Blick so fremde Welt ist die Welt des römischen Kaisers Domitian und wir befinden uns in der Zeit um das Jahr 100 nach Christus, in der die Offenbarung des Johannes als letztes Buch der Bibel entstanden ist eine Zeit der Christenverfolgungen: nicht systematisch verordnet, aber zu jeder Zeit und an jedem Ort möglich, immer wieder und überall - Im Jahr 113 schreibt Plinius einen Brief an den Kaiser Trajan, er berichtet, wie er als Statthalter von Bitynien mit Christen umgegangen ist, die den Kriegsdienst verweigert hatten, er schreibt: "Diejenigen, die leugneten, dass sie Christen waren [ ], ließ ich laufen, wenn sie die Götter anriefen [ ], wenn sie euer Bild [ ] mit Weihrauch [ ] verehrten und besonders, wenn sie Christus verfluchten."
Eine fremde Welt? Mag sein für uns, die wir in friedlicheren Zeiten leben; nicht aber zu Bonhoeffers Zeit, nicht, als der zur Macht kam, dessen Bild millionenfach verbreitet, dessen Zeichen allerorten aufgerichtet wurde: Der, den man mit "Heil" grüßte, dem religiöse Verehrung entgegengebracht wurde von denen, die das Malzeichen der "Runen" auf ihren Uniformen trugen; die ihr Gewissen dem übertragen hatten, dessen gewissenslosen Befehlen sie "gewissenhaft" folgten.
Wir können das in Dietrich Bonhoeffers Ethikbuch nachlesen; sie sind ja ausdrücklich erwähnt, die gesagt haben: "Mein Gewissen ist" (Ich will den Namen nicht nennen. Ihr wisst ja, von wem die Rede ist). Und Bonhoeffer hat dann hinzugefügt: "Wenn der andere in die Funktion meines Erlösers tritt", dann ist das "der prägnanteste Widerspruch zur christlichen Wahrheit." Und eben dies hat er von Anfang an gesagt; am 25. Februar 1933 predigt er in der Berliner Dreifaltigkeitskirche, Bonhoeffer sagt: "Wir haben in der Kirche nur einen Altar und das ist der Altar des Allerhöchsten [ ]. Wer etwas anderes will als dies, der bleibe fern, der kann nicht mit uns im Hause Gottes sein [ ]. Wir haben in der Kirche auch nur eine Kanzel, und von dieser Kanzel aus wird vom Glauben an Gott geredet und sonst von keinem Glauben."
Auch die Christen und Christinnen in der Zeit der Unterdrückung durch den Kaiser in Rom haben ihren Glauben an den einen Gott bekannt, nur ihm, keinem anderen Gott haben sie Glauben geschenkt: Sie sind ohnmächtig und rechtlos, sie erleiden Verfolgung, sie werden in den Arenen des Kaisers getötet. In dieser Situation richtet sich ihre Hoffnung auf Gott auf einen Gott, der mächtiger ist als die Macht des Kaisers, auf Gott, den Allmächtigen. Niemals sonst ist im Neuen Testament von Gott, dem Allmächtigen, die Rede, nicht in den Evangelien, nicht bei Paulus, nur hier in der Offenbarung des Johannes. Das letzte Buch der Bibel will trösten und ermutigen und es ist gerade der Begriff des "allmächtigen Gottes", durch den die Offenbarung dies tut: Das, was ist, ist nicht alles, lautet die Botschaft. Mächtiger als die Macht des Kaisers zu Rom ist die Macht unseres Gottes, er ist der Allmächtige. Aus der Bedrängnis der römischen Christenheit erklingt eine Stimme, hell und siegesgewiss über die Jahrhunderte hinweg. Johannes hat dieser Stimme Ausdruck verliehen im 19. Kapitel, im 6. Vers seiner Offenbarung hören wir sie sprechen: "Halleluja! Denn der Herr, unser Gott, der Allmächtige, hat das Reich eingenommen."
Gott lässt es zu, dass die Machtlosen ihn auf seine Macht anreden. Wie sollte er es nicht zulassen, wenn die Leidenden in ihm, dem leidenden und mitleidenden Gott ihre letzte Hilfe sehen? Aus dem Gefängnis schreibt Bonhoeffer am 16. Juli 1944 an Eberhard Bethge: "Die Bibel weist den Menschen an die Ohnmacht und das Leiden Gottes"; "nicht kraft seiner Allmacht, sondern kraft seiner Schwachheit, seines Leidens (hilft Christus)." Und dann taucht hinter der Gestalt des leidenden Christus eine andere Gestalt auf, es ist die des leidenden Gottesknechts, von dem der Prophet Jesaja im 53. Kapitel spricht: "Er ist um unserer Missetat willen verwundet und um unserer Sünde willen zerschlagen. [ ] Als er gemartert ward, litt er doch willig und tat seinen Mund nicht auf wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird; und wie ein Schaf, das verstummt vor seinem Scherer, tat er seinen Mund nicht auf."
Bonhoeffer zitiert diese Stelle - und dann geschieht es. Bonhoeffer sagt, "dass Jesaja 53 nun erfüllt (wird)!", der leidende Gottesknecht stirbt jetzt, er wird in den Ofen der Vernichtung verbrannt. Bonhoeffer spricht nicht von "Holocaust" oder "Shoa", diese Worte kannte er noch nicht, er sagt: "nur der leidende Gott kann helfen." Dieser Satz ist nicht einfach ein theologischer Satz unter anderen theologischen Sätzen; erst recht ist er kein über Gott belehrender Satz, sondern: "Nur der leidende Gott kann helfen", das ist ein zu Gott betender Ruf: Möge Gott seinem Volk in seinem Untergang zur Hilfe kommen, denn jetzt kann nur der leidende Gott noch helfen. Wir, die christlichen Kirchen, haben es nicht einmal versucht. Dies ist der Grund, warum Dietrich Bonhoeffer von der Schuld seiner Kirche gesprochen hat.
Der obige Bibeltext sagt nicht nur, was denen angetan wurde, die standhaft blieben, die sich der Verehrung der falschen Götter entzogen hatten; unser Text sagt auch, was die Zeugen des Wortes Gottes erwartet: Jesus bekennt sich zu denen, die sich zu ihm bekannt haben, denn: "diese wurden lebendig und regierten mit Christus tausend Jahre".
Bonhoeffer selbst hat über diesen Johannestext nicht gepredigt; aber es gibt aus dem Jahr 1935 einen Predigtentwurf von ihm, da geht er auf unseren Text ein, er sagt: "Nicht unsere Seele geht zu Christus in den Himmel, er kommt zu uns auf die Erde, bleibt der Erde treu! Wir werden mit ihm herrschen und richten auf Erden."
Wir kennen die Vorstellung, mit dem Tod von der Erde in den Himmel zu kommen, so wie wir es bei Mattbias Claudius, dem Dichter, lesen können: "und wenn du uns genommen, lass uns in den Himmel kommen"; so verhält es sich bei Bonhoeffer nicht, bei ihm ist es anders: Der Himmel kommt auf die Erde. Wenn das geschieht, "wenn das Himmelreich herabkommt, so hat er es in seinem Buch "Nachfolge" formuliert, "dann wird die Gestalt der Erde erneuert werden [ ]. Gott verläßt die Erde nicht. Er hat sie geschaffen. Er hat seinen Sohn auf die Erde gesandt. Er baute seine Gemeinde auf Erden. So ist der Anfang schon in dieser Zeit gemacht."
Nüchtern und ohne Illusion, kein tausendjähriges Reich, das von uns zu errichten wäre, keine falsche Hoffnung auf Vollendung, aber auch keine ebenso falsche Resignation, derart, dass wir ja doch nichts machen können, nein: Der "Anfang [ ] in dieser Zeit" ist "schon [ ] gemacht." Es ist nicht so, dass wir den Anfang machen müssen, er ist bereits gemacht. Und dieser Anfang hat Folgen für uns, die wir erkennen, wenn wir Bonhoeffers Worte nachsprechen: "Das Leben Jesu Christi ist auf dieser Erde noch nicht zu Ende gebracht. Christus lebt es weiter in dem Leben seiner Nachfolger" und Nachfolgerinnen.
Auf seinem letzten Weg hält der Gefangene in der Schule von Schönberg seine letzte Andacht; es ist Sonntag, der 8. April 1945. Bonhoeffer legt seinen Mitgefangenen die Losung dieses Tages aus; sie ist dem 53. Kapitel des Jesajabuches entnommen. Ein letztes Mal spricht er über den Gottesknecht des Alten Testaments, dieses Mal aber spricht er nicht von seinen Leiden, sondern davon, was durch dieses Leiden für uns erbracht wurde, Jesaja 53, Vers 5: "Durch seine Leiden sind wir geheilt." Wenige Monate zuvor hatte er das Gedicht " Von guten Mächten" geschrieben, die zweite Strophe lautet: "Und reichst Du uns den schweren Kelch, den bittren, des Leids, gefüllt bis an den höchsten Rand, so nehmen wir ihn dankbar ohne Zittern aus Deiner guten und geliebten Hand".
"Durch seine Leiden sind wir geheilt". Von Schönberg aus geht der Weg nach Flossenbürg; Bonhoeffer gelingt es noch, einem Mitgefangenen eine Botschaft für Bischof Bell in England aufzutragen. Dies ist die Botschaft: "Mit ihm glaube ich an die Grundlagen unserer weltweiten christlichen Bruderschaft, die alle nationalen Hassgefühle übersteigt, und daran, dass unser Sieg gewiss ist."
Wie ein leuchtendes Zeichen erreicht uns diese Botschaft; wir erkennen, dass diese christliche Bruder- und Schwesternschaft im Wachsen ist: Von Dänemark bis Italien, von England bis nach Polen erstrecken sich heute die Orte der Erinnerung an Dietrich Bonhoeffer, unter denen Wroclaw (Breslau) einen besonderen Rang einnimmt. In dem "Stadtviertel der gegenseitigen Achtung", in dem eine katholische Kirche, eine evangelische Kirche, eine orthodoxe Kirche und eine Synagoge Nachbarn sind, erkennen wir das Zeichen einer Religion wechselseitiger Achtung und Anerkennung. Ohne Anerkennung, ohne die Verpflichtung, einander nicht zu demütigen, wird das gemeinsame Haus Europa nicht gebaut noch von dem Geist inspiriert sein, für den diese Stadt heute steht: Wroclaw - das ist die Geburtstadt der katholischen Ordenschwester Edith Stein, die in Auschwitz ermordet wurde, die Stadt der evangelischen Vikarin Katharina Staritz, die sich an der Rettung von Juden und Jüdinnen beteiligte und es ist die Stadt, in der vor hundert Jahren in der heutigen Ulica Bartla Dietrich Bonhoeffer zur Welt kam, der als Zeuge Jesu Christi unter seinen Brüdern und Schwestern in den Tod ging. Edith Stein, Katharina Staritz, Dietrich Bonhoeffer: Haben sie nicht alle, als sie noch lebten, jenen mittelalterlichen Torbogen durchschritten, dessen lateinische Inschrift auch als Bekenntnis unseres gemeinsamen Glaubens gelesen werden kann? Mors ianua vitae, der Tod ist die Tür zum Leben. Seltsam, seltsam, überaus seltsam, denn nicht anders lautet das letzte Wort, das uns von Dietrich Bonhoeffer überliefert ist: "Dies ist das Ende für mich der Beginn des Lebens".
aus: der überblick 01/2006, Seite 116
AUTOR(EN):
Christian Gremmels
Dr. Christian Gremmels
ist Professor für Systematische Theologie an der Universität Kassel und erster Vorsitzender der Internationalen Bonhoeffer-Gesellschaft, Sektion Bundesrepublik Deutschland.
Diese Meditation beruht auf einer Predigt, die er anlässlich des 100. Geburtstag Dietrich Bonhoeffers in Wroclaw, Polen, gehalten hat.