Zu Besuch im Deutschen Institut für Ärztliche Mission
von Frank Kürschner-Pelkmann
Lebenssinn wird nicht durch die Verlängerung des Lebens geschaffen." Wir sitzen im kleinen Kreis im schlichten Büro von Dr. Thomas Schlunk und sprechen über die letzten Tage im Leben von Menschen, wie groß die Angst vor einem langen Leiden ist und wie dankbar Menschen sind, wenn die Schmerzen gelindert und ein Sterben in Würde ermöglicht wird. Das "Tübinger Projekt" ist entstanden, um Schwerkranke und ihre Verwandten in der letzten Lebensphase mit einer Pflege rund um die Uhr zu unterstützen und so auch Zeit zu geben, voneinander und vom Leben Abschied zu nehmen.Es ist kein Zufall, daß dieses "Tübinger Projekt" der intensiven Pflege und Sterbebegleitung auf dem Gelände des "Deutschen Instituts für Ärztliche Mission" (DIFÄM) in Tübingen zu Hause ist. Die Erfahrungen mit Leiden und Sterben in der Geborgenheit der Familie und der örtlichen Gemeinschaft in der Dritten Welt ließ die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des DIFÄM umso schmerzlicher die Defizite im Umgang mit Leiden, Sterben und Tod in unserer Gesellschaft erkennen.
Das DIFÄM hat gemeinsam mit dem Universitätsklinikum der Universität Tübingen das "Tübinger Projekt" gegründet. Hier wird vorgelebt, wie eine Gesundheitsversorgung aussehen kann, die sich für kranke und sterbende Menschen Zeit nimmt, in der unnötiges Leiden vermieden wird und sinnlose Therapiemaßnahmen unterbleiben. Wenn irgend möglich, verbringen die Patienten ihre letzten Lebenstage zuhause, für den Notfall stehen Betten im Paul-Lechler-Krankenhaus bereit, das ebenfalls mit dem DIFÄM verbunden ist. Um die einzelnen Kranken kümmert sich jeweils vor allem eine Pflegekraft, so daß eine persönliche Beziehung und Nähe entstehen kann.
Während ich zuhöre, wie die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sich bemühen, den Kranken den Abschied vom Leben zu erleichtern, wie sie mit ihnen und ihren Ehepartnern über den nahen Tod sprechen, wie sie die Menschen ermutigen, bewußt voneinander Abschied zu nehmen, denke ich: Warum ist dies eigentlich ein "Modell", warum ist es nicht die übliche Art, Menschen ein würdiges Sterben zu ermöglichen? Wir sprechen über die Zwänge des gegenwärtigen Gesundheitssystems in einem der reichsten Länder der Welt, wo eine intensive Betreuung von Schwerkranken und Sterbenden nur sehr eingeschränkt erstattungsfähig ist, wo immer wieder neu versucht werden muß, die Finanzierungslücke durch Spenden, Zuschüsse des Landkreises etc. zu schließen. Das "Modell" lebt aber nicht primär von Pflegesätzen und Spenden, sondern durch die Arbeit und das Mitgefühl und Mitleiden der Menschen, die dieses Projekt tragen. Sie setzen damit das um, was das DIFÄM in seiner Beratungstätigkeit in aller Welt zu vermitteln versucht.
Das DIFÄM berät sowohl kirchliche Hilfsorganisationen wie Brot für die Welt als auch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Krankenhäusern und Gesundheitszentren im Süden und Osten der Welt. Ohne die Stellungnahme des DIFÄM bewilligen viele evangelische Hilfswerke keine Mittel für Gesundheitsvorhaben. Noch wichtiger und zeitintensiver ist aber die Beratung der Träger von Gesundheitseinrichtungen im Ausland.
Gegenwärtig bildet die Beratung beim Aufbau von Krankenversicherungen einen Schwerpunkt. Angesichts der vielerorts zurückgehenden staatlichen Zuschüsse und geringer Einkommen ist es für immer mehr Menschen im Süden der Welt unerschwinglich, sich von einem Arzt oder gar stationär im Krankenhaus behandeln zu lassen. Jetzt wird in verschiedenen ostafrikanischen Ländern versucht, ein preiswertes System von lokalen Krankenversicherungen aufzubauen, die darauf beruhen, daß die Familien nach der Ernte einen kleinen Betrag einzahlen und damit für ein Jahr versichert sind.
Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des DIFÄM werten die Erfahrungen solcher Projekte aus, beraten diese und versuchen dabei zu helfen, auch anderswo Krankenversicherungen zu schaffen, die für die Menschen finanzierbar sind und zugleich eine grundlegende Behandlung im Krankheitsfall ermöglichen.
Breiten Raum nimmt die Beratungstätigkeit im Umgang mit der Krankheit AIDS ein. Der DIFÄM-Grundsatzreferent Dr. Christoph Benn ist ein international anerkannter Fachmann auf diesem Gebiet und hat eine Studiengruppe des Ökumenischen Rates der Kirchen geleitet, die eine wegweisende Studie zum Umgang der Kirchen mit dieser Krankheit veröffentlicht hat (siehe Literaturhinweise). Zu erwähnen ist auch die Beteiligung des DIFÄM an den Gesprächen mit der Pharmaindustrie im Rahmen des Dialogprogramms der Kirchen.
Einen weiteren Schwerpunkt in der Arbeit des DIFÄM bildet die Durchführung von internationalen Tagungen. In die Geschichte der ökumenischen Bewegung eingegangen sind zwei Tagungen in den 60er Jahren, bei denen Christinnen und Christen aus der weltweiten Ökumene gemeinsam über Fragen von Heil und Heilung reflektiert und mit dem Konzept einer gemeindenahen Gesundheitsarbeit den Weg zu Basisgesundheitsdiensten gewiesen haben.
Damit die meisten Krankheiten im eigenen Dorf oder Stadtviertel behandelt werden können und eine intensive Aufklärung und Prävention stattfinden können, werden lokale Gesundheitshelferinnen und -helfer ausgebildet. Sie sind in ihrer Gemeinschaft verwurzelt und genießen das Vertrauen der Menschen. In Notfällen weisen sie Kranke in das nächste Provinzkrankenhaus ein. Diese Basisgesundheitsdienste haben sich bewährt, sind aber kein Patentrezept in einer Zeit, in der unter dem Druck sinkender Gesundheitsbudgets selbst solch preiswerte Formen der Gesundheitsarbeit gefährdet sind.
Dr. Rainward Bastian, der Direktor des Instituts, stellt zu den Folgen von sinkenden Budgets und Verarmung fest: "Der Gesundheitszustand seiner Bevölkerung, diese Erfahrung machen wir im DIFÄM immer wieder, ist ein empfindlicher Indikator für den wahren Wohlstand eines Landes. Oder negativ ausgedrückt: Staatsverschuldung einerseits, Krankheit und vorzeitiger Tod andererseits sind meist unauflösbar miteinander verkettet. Aufgrund von Wirtschaftskrise und Schuldendienst ist man in Simbabwe gezwungen, bei den Vorsorgeuntersuchungen für Schwangere Gebühren zu erheben. Die unmittelbare Folge: Viele Frauen gehen nicht mehr zu dieser wichtigen Untersuchung. Ihr Risiko, bei der Entbindung zu sterben, erhöht sich dadurch um das Fünffache!"
In diesem Oktober fand im DIFÄM eine interreligiöse Konsultation zu Fragen der Medizinethik statt, bei der es auch um den Umgang mit einer globalen Situation ging, in der vielen Millionen Menschen das Recht auf Gesundheit verwehrt wird (siehe den Bericht von Bernd Ludermann auf den nächsten Seiten). Diese Konsultation wurde, wie auch die übrige Arbeit des DIFÄM, in enger Zusammenarbeit mit dem Ökumenischen Rat der Kirchen geplant und durchgeführt. Da der ÖRK aus Finanzgründen sein Engagement in Gesundheitsfragen einschränken muß, wachsen die Aufgaben des DIFÄM noch. So wird das Institut noch stärker zu einem Zentrum der ökumenischen AIDS-Studienarbeit und - Beratung und beteiligt sich an der Herausgabe der ökumenischen Gesundheitszeitschrift "Contact", für die der ÖRK bisher allein verantwortlich war. Die erste gemeinsame Ausgabe hat den Titel "Facing Death: Discovering Life?". Es geht um die Bemühungen von kirchlichen Gesundheitseinrichtungen in verschiedenen Teilen der Welt, Sterbende zu begleiten und Hoffnung zu schaffen im Wissen um den Tod.
Um praktische Kenntnisse in der Tropenmedizin und die Konzepte christlicher Gesundheitsarbeit zu vermitteln, führt das DIFÄM mehrmals im Jahr Kurse für Ärzte, Ärztinnen und Krankenschwestern durch, die mit Entwicklungsorganisationen und Missionswerken nach Übersee ausreisen. Es geht in den mehrwöchigen Kursen u.a. um Fragen der Labordiagnostik und das Konzept der Basisgesundheitsdienste. Schwester Dorothea Harms, die die Kurse leitet, versichert mir, daß sie diese Kurse selbst sehr schätzt, weil Menschen kommen, die sehr motiviert seien, etwas zu lernen.
Oft bleibt der Kontakt bestehen, wenn die Kursteilnehmerinnen und -teilnehmer in Übersee sind und wissen, daß es in Tübingen Leute gibt, mit denen sie Fachfragen klären können und die ihre alltäglichen Sorgen und Probleme nachvollziehen können und an sie denken. In Briefen und bei Besuchen werden die beglückenden Erfahrungen im ärztlichen Dienst geschildert, aber auch die Verzweiflung, wenn Krieg und Bürgerkrieg ein ganzes Land verwüsten und alle bisherige Aufbauarbeit zunichte machen.
Neben dem Rat des DIFÄM ist auch die ganz praktische Hilfe gefragt, wenn ein wichtiges medizinisches Gerät ausfällt oder lebensnotwendige Medikamente fehlen. Die "DIFÄM-Arzneimittelhilfe" feiert in diesem Jahr ihr 40jähriges Bestehen. Angefangen hat alles mit großen Bergen von Medikamentenpackungen, die Arztpraxen, Apotheken und Industrie gespendet hatten. Meist waren die Pakete willkürlich zusammengestellt, unsortiert oder "nach Alphabet geordnet". Um das Brauchbare vom Überflüssigen zu trennen, waren Scharen von Zivildienstleistenden und freiwilligen Helfern im Einsatz. Unvergessen ist der Bahncontainer voller unsortierter Packungen, der überraschend zum Weihnachtsfest eintraf und mitten im Schneetreiben entladen werden mußte.
Wenn Albert Petersen, der Leiter der DIFÄM-Arzneimittelhilfe, heute vor willkürlich zusammengestellten Arzneispenden warnt, so steht dahinter eine jahrzehntelange Erfahrung mit solchen Spenden. Daß heute in Bosnien 360 Tonnen unbrauchbarer Arzneimittel lagern, darunter Mittel gegen Malaria, ist ein Beweis, daß andere nicht bereit sind, zwischen gut und gut gemeint zu unterscheiden.
Zu den abenteuerlichsten Geschichten in 40 Jahren Arzneimittelhilfe gehört sicher die Biafra-Hilfe Ende der 60er Jahre. Tonnen von gesammelten und sortierten Medikamenten wurden nach Lissabon geschafft. Dort startete einmal in der Woche ein Jet Richtung Nigeria. Im Schutze der Dunkelheit flog das unbeleuchtete Flugzeug dann in das Kriegsgebiet und landete auf einer etwas verbreiterten Straße in Biafra.
Das ist Geschichte. Heute ist die DIFÄM-Arzneimittelhilfe eine hochspezialisierte Fachstelle, die auf Anfrage preiswert eingekaufte Basismedikamente und medizinische Geräte an Krankenhäuser in mehr als 80 Ländern liefert, die bei der Produktion eigener Arzneimittel berät und federführend für die Erarbeitung von Leitlinien für Arzneimittelspenden ist.
All dies erfordert viel Geld, und so ist neben den kirchlichen Zuschüssen (vor allem Brot für die Welt und Kirchlicher Entwicklungsdienst) die Spendenwerbung von zunehmender Wichtigkeit für das DIFÄM. Sie ist verknüpft mit einer soliden Informationsarbeit und Bewußtseinsbildung zu Fragen von Gesundheit und ärztlicher Mission. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Instituts beteiligen sich jedes Jahr an mehr als 70 Veranstaltungen, laden Gemeindegruppen nach Tübingen ein, geben die Zeitschrift "Gesundheit in der Einen Welt" sowie andere Publikationen heraus und sind auch im Internet mit einer eigenen Homepage vertreten.
Mit dem DIFÄM verbunden ist schließlich das Paul-Lechler- Krankenhaus. Es wurde 1913 als "Tropengenesungsheim" gegründet und gehört heute zu den führenden Krankenhäusern zur Behandlung von Tropenkrankheiten in Deutschland. Weitere Schwerpunkte des Krankenhauses sind Altersmedizin und Schmerzmedizin. Und mit diesen beiden Schwerpunkten ist es der ideale Partner für das "Tübinger Projekt". Damit schließt sich der Kreis. Ein Institut, daß gegründet wurde, um sich mit Krankheiten in fernen Ländern zu beschäftigen, ist in der eigenen Stadt angekommen, versucht, Einsichten aus der weltweiten Ökumene in der Behandlung von Kranken bei uns umzusetzen. Zwei dieser Erkenntnisse gibt Dr. Schlunk mir mit auf den Weg: "Der Tod ist nicht das Ende, und der Tod ist nicht die Niederlage des Arztes."
aus: der überblick 04/1999, Seite 112