Nächstenliebe in Politik und Alltag
Ich wollte schon immer mal ins Ausland, und zwar nicht als Au-Pair", erinnert sich die 22-jährige Studentin Fabiana F. "Und auf jeden Fall wollte ich dort etwas Sinnvolles tun." Als eine Mitschülerin nach dem Abitur mit EIRENE in die USA ging, ließ sich auch Fabiana anstecken: Sie bewarb sich - und reiste ein knappes Jahr später nach Belfast, um dort an dem Projekt Tools for Solidarity mitzuwirken. Seit Februar ist sie wieder zurück in Deutschland, doch ihr Auslandsjahr wird sie so bald nicht vergessen: "Das hat mein ganzes Leben verändert."
von Barbara Erbe
Wie die meisten Projekte, an denen sich EIRENE-Freiwillige beteiligen, verkörpert Tools for Solidarity auf lokaler Ebene und mitten im Alltag den christlichen und gesellschaftspolitischen Anspruch der Organisation: "Wir haben Unmengen altes Werkzeug repariert. Belfast war früher ja mal eine Hochburg der Fabrikproduktion, und da hat fast jede Familie noch irgendwelche alten Sägen, Hobel oder Hämmer im Keller liegen, mit denen die Großväter noch gearbeitet haben. Dabei habe ich nicht nur gelernt, worauf man bei Werkzeugen achten muss. Ich habe vor allem gesehen, wie hochwertig diese alten Stücke im Vergleich zu unserer modernen Wegwerf-Ware sind."
So ist beispielsweise eine heute produzierte Säge in der Regel nur ganz außen an der Klinge aus hartem Metall. Ist die Klinge einmal abgestumpft, wird die Säge wertlos. Vor 60 Jahren war das noch anders: Da war die ganze Säge hart, und wenn die Klinge stumpf wurde, feilte man einfach nach - so lange, bis es nicht mehr ging, weil das Metall aufgebraucht war. "Da ging mir auf, in was für einer Konsum- und Einweggesellschaft wir heute leben. Wir schickten dann das reparierte Werkzeug an unsere Partner in Tansania, und die konnten überhaupt nicht verstehen, warum so etwas bei uns nicht mehr benutzt wird!"
Von Anfang an hat die persönliche Lebensführung der Menschen in den Industrieländern bei EIRENE eine wichtige Rolle gespielt, betont auch Martin Zint, der dort hauptamtlich das Erdölprojekt Tschad/ Kamerun koordiniert (siehe der überblick 3/2001, S. 45ff.). Der karitative Dienst sei immer Hand in Hand mit politischer Bewusstseinsbildung gegangen: "Das geht ja auch gar nicht anders, wenn man es ernst meint mit dem Gründungssatz, dass Frieden aus Gerechtigkeit entsteht."
Angefangen hat die Geschichte von EIRENE damit, dass der Generalsekretär des Ökumenischen Rates der Kirchen, Dr. Visser't Hooft, 1956 mit einer Vertreterin der französischen Flüchtlingsorganisation CIMADE nach Algerien reiste. Nach seiner Rückkehr schilderte er dem in Genf tagenden Komitee der "Friedenskirchen" (Mennoniten, Quäker, Brethren - Kirche der Brüder) und des Internationalen Versöhnungsbundes die Grauen dieses Kolonialkrieges, eines Krieges, den die Mehrheit der nordafrikanischen Bevölkerung als Krieg "der Christen" gegen sich verstand.
Gleichzeitig formierte sich in Deutschland eine breite Bewegung gegen die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik, und man diskutierte einen sinnvollen Alternativdienst für Kriegsdienstverweigerer. Die Idee, einen "Dienst der Versöhnung zwischen den Völkern" zu schaffen, der auch Einsatzmöglichkeiten für Zivildienstleistende bot, lag für die Mitglieder der Friedenskirchen auf der Hand. 1957 gründeten sie EIRENE International, wenig später arbeiteten die ersten Freiwilligen in Marokko: in einem Lager für algerische Flüchtlinge in Oujda, aber auch in einem Waisenhaus, in Ausbildungsprojekten und als Helfer nach dem Erdbeben in Agadir.
1969 wurde dann in der Bundesrepublik das neue Entwicklungshelfergesetz verabschiedet, für das auch EIRENE International Lobbyarbeit geleistet hatte. Nach dem Gesetz zählte die Organisation nunmehr zu den fünf (später sechs) anerkannten Entwicklungsdiensten. "Das brachte uns Zuschüsse vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit (BMZ) und eine ganz neue Absicherung", erinnert sich Geschäftsführer Eckehard Fricke. Aber es barg auch Konfliktstoff. "Unsere Organisation ist dadurch deutscher geworden", sagt Fricke rückblickend. Und Martin Zint erinnert an die großen Entwicklungsdiskussionen der siebziger Jahre: "Damals stritten wir ja auch darüber, ob personelle Entwicklungsarbeit nicht generell kontraproduktiv wäre und wir nicht lieber ausschließlich die Projektpartner vor Ort unterstützen sollten."
Diese Auseinandersetzung und der Gedanke, dass Entwicklungsarbeit ein gegenseitiger Lernprozess sein sollte, bereitete den Boden für das 1976 geschaffene Nordprogramm. Auch im "hoch entwickelten" Europa gab es schließlich genügend Not und Unterdrückung, die überwunden werden mussten. Und so widmeten sich die Projekte des Nordprogramms Arbeitslosen, Gastarbeitern, unterprivilegierten Landarbeitern und anderen gesellschaftlichen Randgruppen sowie der gewaltfreien Konfliktlösung in Krisengebieten wie Nordirland. Aber auch ökologischen Problemen und der Unterstützung von Kriegsdienstverweigerern in Ländern wie Spanien, in denen kein Gesetz einen Zivildienst vorsah, wurden zu EIRENE-Arbeitsfeldern. Eine weitere Entwicklung, die dem Nordprogramm den Weg ebnete, war nach den Worten Frickes, "dass die traditionelle Entwicklungshilfe immer professioneller und institutionalisierter wurde - da hatten unsere Kriegsdienstverweigerer, die ja meist jung und ohne große Berufserfahrung waren, kaum noch Chancen, vermittelt zu werden."
Die Anschubfinanzierung für das Nordprogramm leisteten die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von EIRENE International in Neuwied auf unkonventionelle und ganz organisationstypische Art: Sie entschieden sich, ihr Gehalt einheitlich auf BAT V zurückzustufen. In einem Artikel formulierten sie: "Der Ruf zur Umkehr, zum Miteinanderteilen darf nicht nur als Appell verhallen. Wir müssen handeln und bitten alle, die von den Problemen der Dritten Welt, der Umweltzerstörung, der Arbeitslosigkeit hier und dort betroffen sind, ähnliche Schritte zu vollziehen." Ein Ansatz, der nicht zuletzt der örtlichen Gewerkschaft sauer aufstieß. Zwar lobte sie die persönliche Spendenbereitschaft der Mitarbeiter, betonte aber auch: "Die Privataktion aus christlicher Nächstenliebe, nämlich der Gehaltsverzicht, als Beispiel in der augenblicklichen Situation bei laufenden Tarifverhandlungen in der Metallindustrie und im öffentlichen Dienst, ist dagegen eine Zumutung."
Die achtziger Jahre waren auch bei EIRENE geprägt von den Auseinandersetzungen, Demonstrationen und Aktionen gegen den NATO-Doppelbeschluss. Auf Friedensdemonstrationen und mit der Beteiligung an gewaltlosen Protesten in Mutlangen, aber auch an Sitzblockaden in Hasselbach, wo Cruise Missiles-Raketen stationiert waren, "haben wir versucht, den Gedanken der Gewaltfreiheit in die Praxis umzusetzen", berichtet Zint.
Seit 1999 erhält EIRENE staatliche Zuwendungen für einen zivilen Friedensdienst. Das heißt, dass die Mehrzahl der Entwicklungsprojekte zwar von EIRENE konzipiert und verantwortet, aber zu 100 Prozent vom BMZ bezahlt werden. Den freiwilligen Dienst sieht Fricke trotz häufiger Klagen über die sinkende Bereitschaft der Bürger, sich sozial zu engagieren, "groß im Aufwind": erstens, weil er für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft unverzichtbar sei, zweitens, weil er dem Staat Kosten spare, und drittens, weil schließlich auch die Freiwilligen von ihren Arbeitseinsätzen im Ausland privat und beruflich enorm profitierten. "Das sollten wir gerade 2001, im Jahr der Freiwilligen, immer wieder betonen."
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"EIRENE, das sind für mich einfach viele Menschen, die zusammenhalten, um etwas Sinnvolles zu tun", beschreibt Fabiana F. ihre Eindrücke. "Als ich das 'Quo Vadis' (= das Grundsatzprogramm der Organisation) gelesen habe, da habe ich gedacht: 'O je, ich bin da wohl bei irgend einer Sekte gelandet.' Aber in der Praxis war doch alles ganz anders, viel entspannter." Sagt's und zündet sich eine Zigarette an. "Ich weiß, das ist mein absolutes Konsumlaster, aber ich konnte es noch nicht einmal bei 'Tools for Solidarity' in Belfast lassen - und das war dann auch okay."
Ähnlich urteilt auch Martin Zint: "Das Quo Vadis entstammt dem Geist der 68er und hatte früher einen hohen dogmatischen Anspruch." So habe es Zeiten gegeben, da habe man sich nächtelang heftig über bestimmte Passagen daraus gestritten. "Heute ist die Organisation da viel pragmatischer geworden." Und, das Allerwichtigste: "EIRENE hat zwar fast alle Fehler der Entwicklungshilfe mitgemacht. Aber die Organisation war immer selbstkritisch, hat Ansatz und Prinzipien immer wieder neu reflektiert und sich auch verändert, wenn es dafür triftige Gründe gab."
Aus dem Geschäftsbericht 2000Ende 2000 arbeiteten insgesamt 97 Freiwillige in Projekten des Nordens und Südens. Während es sich im Norden um einen reinen Freiwilligendienst handelt, der keine formelle Qualifikation erfordert, wurden im Süden 24 Entwicklungshelferinnen und -helfer als Fachkräfte eingesetzt. Voraussetzung dafür sind eine Ausbildung und Berufserfahrung. Bis heute ist EIRENE International damit der einzige Entwicklungsdienst mit einem Süd- und einem Nordprogramm. Das Nordprogramm ist dabei doppelt so personalintensiv wie das Südprogramm. Dafür gehen fast drei Viertel aller Ausgaben von EIRENE in das Südprogramm, nämlich rund 3,4 Millionen DM von insgesamt rund 4,8 Millionen DM. Die Finanzierung von EIRENE setzt sich in etwa zu fünf gleichen Teilen aus Zuschüssen der Evangelischen Kirche in Deutschland, dem Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, der Europäischen Union, Spenden und sonstigen Einnahmen zusammen. Projekte des Südprogramms, die im vergangenen Jahr gefördert wurden: Selbsthilfe von Bauerngruppen in Niger (Gründung einer Volksbank), Projekt mit Selbsthilfeverbänden der Körperbehinderten sowie zivile Konfliktbearbeitung im Tschad, Arbeit mit Straßenkindern in Südafrika, Ernährungssicherung und Produktvermarktung in Nicaragua. Einsatzorte im Norden und Osten: USA, Irland und Nordirland, Frankreich, Belgien; Bosnien, Mazedonien, Rumänien. |
aus: der überblick 04/2001, Seite 124
AUTOR(EN):
Barbara Erbe :
Barbara Erbe ist Journalistin in Frankfurt am Main.