Chinas Malls sind Teil einer rasanten Entwicklung, in der sich viele Städte von Grund auf verwandeln
Wenn sich die Hitze des Sommertags abkühlt und die Dämmerung fällt, ist das Mäuerchen auf dem Bürgersteig gegenüber dem Kaufhaus 3.3 an der Sanlitun-Straße ein beliebter Ort in Peking. Ältere Frauen und Männer aus der Nachbarschaft, den Fächer in der Hand, hocken sich neben ein paar müde Arbeiter von den Baustellen nebenan. Sie schauen auf den Springbrunnen, der ab und zu für ein paar Minuten seine Fontainen in die Höhe schießt.
von Jutta Lietsch
Popmusik klingt herüber, unterbrochen von Werbesprüchen. Über den großen Bildschirm an der Front des Kaufhauses flimmert eine chinesische Boy-Band. Langbeinige Mannequins führen Kleider, Taschen und Schmuck vor, schließlich erscheinen zufriedene Kundinnen auf der digitalen Leinwand, reich bepackt mit Einkaufstüten.
Im Gebäude sitzen Verkäuferinnen in ihren Boutiquen und warten bis 23 Uhr auf Kundschaft. Auf sechs Etagen reiht sich ein Laden an den anderen, die meisten sind nicht mehr als zehn Quadratmeter groß. Sie verkaufen Kleider, Schuhe, Modeschmuck. Das 3.3 will kein billiges Massenkaufhaus sein und auch kein Hort der westlichen Edelmarken. Gleichwohl scheint das Geschäft nicht gut zu laufen. Fast ein Drittel der Läden ist nicht vermietet. Gruppen von jungen Frauen oder Pärchen bummeln zwar durch die Gänge, doch kaufen tun sie selten.
Die 42-jährige Liu und ihre 26-jährige Freundin Xie schlendern ins Schuhgeschäft "Riesenwelle". Liu will ein paar goldene Sandaletten anprobieren, von denen die missmutige Verkäuferin auf den ersten Blick sieht, dass sie ihr nicht passen werden.
Die Angestellte ist misstrauisch. Sie glaubt, die beiden seien keine Kundinnen, sondern Spione der Konkurrenz, die sich über Ware und Preise schlau machen wollen. Entsprechend zurückhaltend ist ihr Service. Die beiden verlassen enttäuscht die Boutique. "Es ist zu teuer hier", sagt eine. Sie wollen nicht mehr als hundert Euro für "drei schicke Oberteile und eine oder zwei Hosen" ausgeben.
Das 3.3, im Jahr 2006 eröffnet, ist die jüngste Shopping-Mall im Osten Pekings, und sie wird nicht die letzte sein. Gleich neben dem Gebäude entsteht derzeit hinter Bauzäunen aus glänzenden Metallstreifen und Werbeplakaten eine "Kulturzone" aus Geschäften, Restaurants, Hotels, Bars und einem "Modezentrum Ostasiens".
So wie hier in Peking geht es vielerorts zu in China. Riesige Einkaufspaläste wachsen nicht nur in den Metropolen der Ostküste oder im Perlfluss-Delta, sondern auch in unbedeutenden Kreisstädten. Sie sind Teil einer rasanten Entwicklung, in der sich viele Städte von Grund auf verwandeln.
25 Jahre wirtschaftlicher Reformen sind verbunden mit Privatisierung, lukrativer Bodenspekulation, Gefälligkeitskrediten und einem Hang zu architektonischen Höhenflügen. Größer, höher und kühner als alle anderen zu sein, ist Ausdruck nationalen Ehrgeizes und die neuen Warentempel sind das Wahrzeichen einer aufstrebenden Mittelschicht, die Konsum genießen will wie die in Berlin oder Barcelona.
Schon hat China die größten Shopping-Malls der Welt. Sie liegen nicht, wie in den USA, weit draußen in den Vororten, sondern in den Zentren und ganze Viertel mit alten Gassen, quirligen Märkten und kleinen Geschäften mussten ihnen weichen. Von Immobilienfirmen mit guten Kontakten zur Kommunistischen Partei und oft mit Darlehen freigiebiger Staatsbanken gebaut, gibt es in einigen Bezirken inzwischen so viele Malls, dass sie sich gegenseitig die Kunden wegschnappen. In Peking machte in den neunziger Jahren das China World mit der ersten künstlichen Eisbahn der Hauptstadt den Anfang. Es folgte die Oriental Plaza Mall des Hongkonger Immobilien-Tycoons Li Kah-shing, der eines der begehrtesten Grundstücke der Hauptstadt unweit des Tiananmen- Platzes gegenüber dem Peking-Hotel zugeschanzt bekam.
Im Oktober 2004 konnte die Hauptstadt sich brüsten, das größte Einkaufsparadies Asiens zu besitzen: Im fünfgeschossigen Golden Resources Mall im Nordwesten bieten mehr als 1000 Geschäfte und rund 20.000 Beschäftigte auf einer Fläche von fast 560.000 Quadratmetern ihre Waren an etwa so viel wie achtzig Fußballfelder. Schon wenige Monate später verlor sie ihren Status als Nr. 1 an die South China Mall im Industriezentrum Dongguan: 660.000 Quadratmeter. Insgesamt bedecken die Shopping-Malls allein in Peking mittlerweile eine Fläche von 6,33 Millionen Quadratmeter, meldete die amtliche Nachrichtenagentur Xinhua im März. Bis Ende 2007 soll noch eine Million Quadratmeter dazukommen.
Einige Einkaufszentren haben sich spezialisiert: In Lampen-, Badezimmer- und Möbelstädten können die Kunden stundenlang unter einem Dach zwischen Geschäften ausländischer und heimischer Marken wandern, bis ihnen die Füße schmerzen.
Zu den jüngsten Errungenschaften der Hauptstadt gehört das 80.000 Quadratmeter große The Place. Seine Attraktion: eine riesige digitale Leinwand, die zwischen zwei Gebäuden hängt. Über diesen größten LED-Bildschirm der Welt (wie die Eigentümer behaupten) flimmern am Abend Delfine, Feuerwerk und Sternenhimmel oder die neuen Stadien für die Olympischen Spiele 2008.
Wie ihre Vorbilder in den Metropolen der Welt beherbergen Chinas Edel-Malls an prominenter Stelle die wichtigen internationalen Mode-Marken: von Alfred Dunhill über Prada bis zu Zara. Dazwischen tauchen nun auch chinesische Namen wie Shanghai Tang auf, die traditionelle chinesische Kleidung, Seiden und Brokate teuer und modern verarbeiten. Sie haben dieselbe Kundschaft im Visier: die neuen Reichen Chinas. Diese besitzen oft mehrere Wohnungen und Autos, machen Urlaub im Ausland und schicken ihre Kinder in teure Schulen. Sie zählen zu den sieben oder acht Prozent der Chinesen, die 6000 Euro und mehr im Jahr verdienen. Das ist fünfmal so viel wie Städter jedes Jahr im Schnitt erhalten und ein unerreichbarer Traum für 800 Millionen Chinesen auf dem Land, die nicht viel mehr als einen Euro am Tag in der Tasche haben.
Die Konkurrenz um die kleine und feine Kundschaft hat zur Folge, dass die Hermes-, Escada- oder Louis-Vuitton-Boutiquen in der China World Mall und den anderen Luxus-Tempeln von Peking oft kaum mehr als Ausstellungs-Flächen sind und nur ab und an ein Stück verkaufen zu Preisen, die nicht niedriger sind als die in Europa oder Amerika. Die Verkäuferinnen halten sich mühsam wach, betrachten ihre Fingernägel, rücken gelangweilt Ware gerade.
Gleichwohl machen die Betreiber ihre Läden nicht dicht, denn sie verstehen sie als eine Investition in den Markt von morgen: China lernt hier, was die internationale Elite trägt, wonach man streben muss. Durch die klimatisierten Gänge flanieren junge Angestellte und Bewohner aus der Umgebung, für die Prada und Escada nur ein Traum ist und auch bleiben wird.
Wenn sie einkaufen, drängen sie sich in Einkaufszentren der zweiten und dritten Kategorie oder in die hektischen Märkte der Stadt, die "Seidenstraße", "Xidan-Zentrum", "Yashow-Markt" oder "Alien-Street" heißen. Hier sind die internationalen Edelmarken als Kopien, je nachdem, wie streng die Regierung gerade schaut, auf oder unter dem Tisch zu erhalten.
Die 25-jährige Pekingerin Zhang Xin, die für eine Internet-Firma Webseiten entwirft, gibt "im Monat etwa 50 Euro für Kleidung aus", sagt sie. Zhang trägt gewellte Haare, Shorts, ein gelbes T-Shirt mit großem Herz darauf und eine kopierte Gucci-Tasche. Sie kaufe nur gefälschte Markenartikel, sagt sie, "dabei achte ich aber auf die Qualität." In China viel Geld für eine echte Marken-Tasche zu bezahlen, "wäre doch dumm", meint sie, "weil jeder sowieso glaubt, dass sie gefälscht ist." Für 50 Euro ersteht sie ein Kleid, ein paar Schuhe, eine Bluse, Gürtel und T-Shirts. Ihre Freundin Xiao Zhu handelt den Preis eines Paars Ohrringe kaltblütig von 4,50 Euro auf 80 Cents herunter.
Die 28-jährige Verkäuferin am Schmuckstand ist in diesem Moment keine ebenbürtige Gegnerin: Sie ist müde, die Konkurrenz ist hart, sie arbeitet sieben Tage die Woche von morgens bis abends, um die nötigen 500 Euro Miete für ihren winzigen Stand zu verdienen. Ihre Kundinnen haben wenig Geld, aber viel Energie und Kauflust und kämpfen um jeden Cent Nachlass. An vielen Tagen macht die Verkäuferin Minus, dann bleiben am Ende nur ein paar Euro im Monat "nicht genug zum Leben und zu viel zum Sterben", wie sie sagt.
Sie gehört zur riesigen Schar der Wanderarbeiter, die ihren Dörfern entflohen sind, um ihr Glück machen. Jeder arbeitet für sich, ohne Gewerkschaft, die meisten ohne Altersversicherung und ohne Krankenkasse. Sie wohnen zur Untermiete am Stadtrand oder teilen sich ein Zimmer in einer Wohnung, wenn sie nicht in ihrem Verkaufsstand übernachten. Viele haben ihr Kind auf dem Dorf bei den Eltern gelassen, wohin sie einmal im Jahr zum Frühlingsfest zurückkehren.
So wie die 50-jährige Fu Hongmei, die seit acht Monaten im Kaufhaus 3.3 in der Sanlitun-Straße in Peking putzt, acht Stunden am Tag, sechs Tage die Woche, für achtzig Euro im Monat. Fu stammt aus dem Nordosten Chinas. Einen Arbeitsvertrag hat sie nicht, "das ist nichts für Leute mit so wenig Schulbildung wie mir," sagt sie. "Ich wüsste ja gar nicht, was ich da unterschreibe."
Eine Etage höher sitzt die 23-jährige Guo im Ying- Shop und liest. Die junge Frau mit dem schulterlangen Haar, weißen T-Shirt und Jeans arbeitet hier seit einem halben Jahr. Ihre Chefin ist 30 Jahre alt und besitzt zwei weitere Modegeschäfte auf anderen Stockwerken. Guo ist eine erfahrene Verkäuferin, hat schon mehrere Jahre in Malls gearbeitet, aber im 3.3 gefällt es ihr bislang am besten, sagt sie: "Es ist ruhig, sicher und das Wichtigste ist: Meine Chefin zahlt pünktlich." Sie verdiene "über hundert Euro im Monat", sagt sie, für zwölf Stunden am Tag. Ihre zwei freien Tage im Monat reichen ihr: "Ich weiß nicht, was ich sonst mit mir anfangen soll."
Die 29-jährige Shirley, die sich einen englischen Namen gewählt hat, weil das zu einem Geschäft mit internationalem Flair passt, hat gerade den Sprung "ins Meer hinein" gewagt. So nennen die Chinesen den Schritt in die Selbständigkeit. In ihrem früheren Job als Managerin in einer ausländischen Firma hat sie Geld gespart, um ihren Traum wahrzumachen. Er heißt Friday's und ist voller ausländischer Mode alles in beige, braunen und goldenen Tönen gehalten. Die Modelle, die sie auf knapp 15 Quadratmetern ausstellt, stammen aus Europa und anderen Ecken der Welt und nicht aus einer chinesischen Näherei, schwört sie. "Hier, das goldene Kleid kommt aus Argentinien, und dies ist aus Italien." Ihre Freundinnen, berichtet sie, haben die Stücke auf Auslandsreisen gekauft und mitgebracht.
Shirleys erste Kunden waren die Angestellten der Bars in der Umgebung und ihre Freunde. "Hier kommen viele hin, die so tun, als ob sie reich sind", sagt sie und lächelt. "Solche Hochstapler tun sich dann sehr wichtig, aber kaufen tun sie nichts."
aus: der überblick 03/2007, Seite 16
AUTOR(EN):
Jutta Lietsch
Jutta Lietsch ist freie Journalistin und lebt als Auslandskorrespondentin in Peking, Volksrepublik China.