Mit der Wanderarbeit lebt in China die Sklaverei wieder auf
In den vergangenen Jahren sind in China zunehmend Fälle von unbezahlter Zwangsarbeit in privaten Kleinbetrieben bekannt geworden. Die Opfer sind meist junge Männer aus armen Landgebieten, die mit Wanderarbeit Geld verdienen wollen. Sie werden mit falschen Versprechen in Steinbrüche oder Ziegeleien gelockt und dort gewaltsam festgehalten. Die Regierung in Beijing steht dem ratlos gegenüber - zum Teil weil örtliche Behörden korrupt sind, zum Teil aber auch weil das Los der Wanderarbeiter die Ortsbevölkerung gleichgültig lässt. Anscheinend kann die Diktatur des Proletariats in China die Rückkehr der Sklaverei nicht verhindern.
von Bruce Gilley
Hinter einer Baumreihe in den wogenden Weizenfeldern der Provinz Hebei in Nordchina ragt der Schornstein von "Vierseitendorf" hervor. Dem zufälligen Besucher erscheint das als bloß eine der vielen schäbigen und schmutzigen Fabriken, die in ländlichen Gegenden große Mengen Ziegel für Chinas Bauboom erzeugen. Aber dieser rußgeschwärzte Weiler war mehr als ein Jahr lang der Wohnort von 27 Männern, die als Sklaven gehalten wurden. Sie erhielten keinen Lohn und wurden am Verlassen des Geländes gehindert.
Die Männer waren von dem verschlafenen Bahnhof der nahen Distrikthauptstadt Dingzhou hierher gelockt worden, wo sie nach tagelangen Bus- und Bahnfahrten aus noch ärmeren Provinzen des Hinterlands angelangt waren. Doch die Versprechen von hoher Bezahlung und guten Lebensbedingungen lösten sich schnell in Luft auf. In glühender Hitze mussten die Männer zwölf Stunden am Tag unbezahlt schuften. Sie lebten in Schuppen, deren Wände aus Bruchziegeln bestanden und die mit Plastikfetzen gedeckt waren. Es war ihnen verboten, das Gelände zu verlassen. Als einer in ein nahes Weizenfeld entkam, verfolgten ihn die Bosse auf Motorrädern, schleiften ihn an einem Seil zurück und schlugen ihn vor den Augen der übrigen tot.
Mitte Mai 2001 entkam schließlich einer der Sklaven den Wächtern und schaffte es bis nach Dingzhou. Beamte der örtlichen Gewerbeaufsicht führten am 22. Mai eine Razzia auf dem Gelände durch, nahmen den Leiter fest und befreiten die Arbeiter. Sieben reisten sofort ab. Die anderen entschlossen sich zu bleiben, nachdem ihnen bessere Arbeitsbedingungen, pünktliche Lohnzahlungen, Heimaturlaub und ein neuer Chef versprochen worden waren.
"Wir wurden oft geschlagen und angebrüllt", erzählt ein in Lumpen gekleideter Arbeiter, der aus der Provinz Yunnan stammt. Seine Aufgabe ist es, mit einem hölzernen Karren Ziegel von dem kohlebefeuerten Brennofen zum Lagerplatz zu bringen, wo die Ziegel unter Strohmatten gestapelt werden. "Jetzt ist es besser, wenigstens gibt es Geld."
Sklaverei kommt in China immer häufiger vor, denn die Zahl der Wanderarbeiter wächst und die Privatwirtschaft floriert. Im Gegensatz zur Zwangsarbeit in den Fabriken der staatlichen Gefängnisse ist über die illegale Zwangsarbeit auf dem Lande und ihre Funktionsweise wenig bekannt. Das liegt daran, dass sie hauptsächlich in abgelegenen Gegenden vorkommt, wo sich zahlreiche illegale oder halb legale Privatbetriebe finden - oft Ziegeleien, Steinbrüche oder Gewächshäuser. Es liegt aber auch an Beijings Verlegenheit angesichts der Wiederkehr eines Problems, das die kommunistische Revolution vermeintlich beseitigt hatte.
Im Gegensatz zum Handel mit Frauen, die als Prostituierte oder Ehefrauen verkauft werden, wird der Handel mit gesunden jungen Männern, die für die beschleunigte Industrialisierung des Landes eingesetzt werden, in der etablierten Presse selten erwähnt. Ausländische Institutionen wie die internationale Arbeitsorganisation ILO, die der chinesischen Regierung auf deren Wunsch bei der Verbesserung der Arbeitsbedingungen in China hilft, geben an, ihnen sei nicht mitgeteilt worden, dass es dort ein Sklaverei-Problem gebe. "Uns ist gegenwärtig über nicht staatliche Sklavenarbeit in China nichts bekannt", sagt Roger Bohning, der Leiter der ILO-Arbeitsgruppe zu Zwangsarbeit.
Sklaverei ist in China wie auch anderswo ein Begriff, der verschiedene Arten von Zwangsarbeit umfasst. Beispiele wie die Brennöfen von Dingzhou, wo ein normales Anstellungsverhältnis nicht einmal vorgetäuscht wird, sind selten. Häufiger arbeiten die Opfer in Schuldknechtschaft: Sie kämpfen einen aussichtslosen Kampf, um angebliche Gebühren und Abzüge abzuarbeiten, und bleiben auf Dauer unbezahlt und unfrei. Die Betreiber versprechen im allgemeinen den ahnungslosen Bauern einen hohen Lohn sowie gute Unterbringung und Verpflegung und locken sie so in ihre Lager. Sind die Opfer erst einmal da, dann werden ihre Ausweise konfisziert, und ihre Bewegungsfreiheit wird strikt beschränkt.
Die ersten Berichte über Sklaverei in China tauchten Mitte der neunziger Jahre auf, als die Wirtschaft des Landes sich von den dämpfenden Auswirkungen des Massakers auf dem Platz des Himmlischen Friedens erholte und in eine Phase raschen Wachstums trat. 1994 deckten beispielsweise Beamte aus der Provinz Guangdong in Südchina im Gefolge von Berichten in der Lokalpresse ein großes Netz von 20 Steinbrüchen in der Provinz auf, in denen Sklavenarbeit an der Tagesordnung war. In einem Steinbruch nahe der Stadt Qingyuan waren 39 Arbeiter bis zu ein Jahr lang nachts in Schuppen gesperrt worden und hatten in der Grube unter Bewachung arbeiten müssen, ohne Lohn zu erhalten. Ein Provinzbeamter sagte damals in einem Interview mit einem örtlichen Radiosender, dass Zwangsarbeit "in der ganzen Provinz verbreitet" sei. 1996 wurde festgestellt, dass in Zhanjiang - ebenfalls in Guangdong - 80 Arbeiter in einem Steinbruch schuften mussten, der als "ein Konzentrationslager" beschrieben wurden.
Dass dieses Phänomen von den Behörden damals nicht stärker beachtet wurde, mag daran liegen, dass die Angelegenheit heikel ist. Die Kommunistische Partei (KP) Chinas kam mit dem Versprechen auf Befreiung an die Macht. Das gilt besonders für die Gebiete, wo ethnische Minderheiten leben; hier dienten offizielle Berichte über die in der Vergangenheit herrschende Sklaverei häufig als Rechtfertigung für die heutige Herrschaft der KP. Die Medien in der nordwestlichen Provinz Xinjiang berichteten 1994 über die Rettung von 400 ethnischen Uiguren, die man gezwungen hatte, als Sklaven in 13 illegalen Goldminen entlang des Manas-Flusses zu arbeiten. Die meiste Zeit hatten sie nackt bleiben müssen, damit sie nichts stehlen konnten, und täglich hatten sie Schläge mit Lötkolben erdulden müssen.
Seit letztem Jahr wird in ganz China häufiger über dergleichen berichtet. Im Mai 2000 schrieben etwa die "Drei Schluchten Metropolis Nachrichten" in der Provinz Sichuan, dass 90 Bauern, die vom riesigen Drei-Schluchten-Dammprojekt am Yangtse-Fluss vertrieben worden waren, am Ende Sklaven in Ziegeleien der Stadt Shenyang im Nordosten geworden waren.
Die Zunahme des Problems scheint mit dem hohen Einkommensgefälle in China zusammenzuhängen. Da die Einkommen im Landesinneren stagnieren, versuchen die Bauern von dort, mit Wanderarbeit ihre Einkünfte aufzubessern oder auch nur einfach zu überleben. Auch Menschen aus sehr abgelegenen Gegenden, für die Abwanderung bisher nicht typisch war, machen sich nun auf den Weg. Da sie wenig Erfahrung mit der Welt außerhalb ihrer Dörfer haben, sind sie dort besonders wehrlos.
Sklaverei wird gewöhnlich als eine ineffiziente Form der Arbeit betrachtet, da die Arbeitenden wenig motiviert sind. Wenn man allerdings mit Gewalt und Tod droht, kann das System funktionieren. "Wenn Menschen einmal ihre persönliche Freiheit eingebüßt haben und ihnen mit Gewalt gedroht wird, beginnen sie anders zu kalkulieren", sagt Hu Shudong vom China Economic Research Centre der Universität Beijing. "Sie sind froh, wenn sie ein einziges Stück Brot mehr bekommen oder einmal Prügel abwenden können. Ihr Hauptziel ist, am Leben zu bleiben, bis jemand kommt und sie rettet. Das heißt ihre beste Chance ist, hart zu arbeiten."
Dass Gewalt im Spiel ist, wird oft auf dramatische Weise deutlich. Als zum Beispiel im Februar 2001 Beamte aus Zhengzhou, der Hauptstadt der Provinz Henan, ein illegales Kohlebergwerk am Stadtrand kontrollieren wollten, wo 30 Sklaven arbeiteten, wurden sie von zwanzig bewaffneten Wächtern vertrieben. Sie mussten am nächsten Tag mit bewaffneten Polizisten wiederkommen, berichtete die örtlichen Dahe-Tageszeitung. Später schlossen sie laut einem anderen Artikel in diesem Blatt noch ein anderes Kohlebergwerk in derselben Gegend. Die 16 dort arbeitenden Sklaven waren zwischen 14 und 73 Jahre alt.
Dennoch scheint solche offene Gewalt selten nötig zu sein. Häufiger ist die Gleichgültigkeit der Einheimischen für eine Situation verantwortlich, in der Arbeiter unter Zwang festgehalten werden können. Das erklärt, warum die meisten Sklavenlager mit nur wenigen Wachen und ohne Mauern auskommen.
Die verbreitete Korruption in den Behörden macht es Sklavenhaltern leicht, sich die Komplizenschaft von Beamten zu erkaufen. Dies wird noch verstärkt, wenn örtliche Beamte am Sklavenbetrieb beteiligt sind und ihn, wie im Fall der Ziegeleien von Dingzhou, an den Betriebsleiter verpachten.
"Gewiss gibt es Gesetze, aber sie werden nie durchgesetzt. Beamte, die für Arbeitsbedingungen zuständig sind, machen uns nie Schwierigkeiten", sagt der Leiter einer Ziegelei in Dingzhou - einer von allein 50 in diesem kleinen Distrikt. Er gibt zu, "einige" Arbeiter gegen ihren Willen festzuhalten. "China ist so groß und so chaotisch", sagt er mit verlegener Miene, während er in der Mittagspause auf einem Plastikstuhl in seiner Hütte hockt. "Hier muss man sich über nichts wundern."
Chinas Meldesystem nach Haushalten (hukou) gibt Arbeitern wenig Rechte oder Schutz, sobald sie einmal ihren offiziellen Wohnort verlassen haben. Das leistet auch einer Denkweise Vorschub, die ohnehin vom ausgeprägten Lokalpatriotismus der Chinesen begünstigt wird: Migranten werden als Bürger zweiter Klasse betrachtet und ihr Elend ignoriert.
Ende Mai 2001 nutzten zum Beispiel fünf Frauen einen Stromausfall zur Flucht. Sie waren in einer Schleiferei für industrielle Werkstoffe im Yanshan-Distrikt der Provinz Hebei festgehalten und zu unbezahlter Arbeit gezwungen worden. Laut einem Bericht der "Yanzhao Metropolis Nachrichten" stellte die Polizei fest, dass die Geflohenen dort zusammen mit 30 einheimischen Frauen gearbeitet hatten, die regulär bezahlt worden waren und nach Belieben kommen und gehen durften. "Das hukou-System verfestigt die Haltung: 'Das sind nicht unsere Leute, also sind wir auch nicht für sie verantwortlich'", sagt Sophia Woodman, die Leiterin der Hongkonger Forschungsstelle zu Menschenrechten in China. "Leute, die sich nicht an ihrem hukou-Wohnort aufhalten, werden schutzlos."
Wegen der Gleichgültigkeit der Einheimischen reisen oft in spektakulären Aktionen Medien und Polizisten aus den Heimatorten der Arbeiter an, um ihnen zu Hilfe zu kommen. Die 90 vom Drei-Schluchten-Damm Entwurzelten, die in Shenyang wieder auftauchten, wurden zum Beispiel von Polizisten aus Chongqing in ihrer Heimatprovinz Sichuan befreit. "Als sie sahen, dass die Behörden ihrer Heimatstadt ihnen zu Hilfe kamen, überschlugen sie sich fast, um ihre Sachen zu packen", berichteten die "Drei Schluchten Metropolis Nachrichten". In einem anderen Fall wurden im Mai 2001 hundert Arbeiter aus Henan aus einem Seetang erzeugenden Betrieb in der Stadt Rongcheng, Provinz Shandong, befreit. Einer von ihnen hatte Kontakt zu seiner Familie daheim in Henan aufgenommen, die dann die Lokalzeitung in Henan informierte.
Die Sklavenhalter in China machen sich, wie der Wirtschaftswissenschaftler Hu sagt, die Notlage der am stärksten Benachteiligten zunutze. Und die Regierung hat wenig Ideen dazu anzubieten, wie das Übel auszurotten wäre. "Das ist sehr deprimierend", meint Hu. "Gerade die ehrlichsten und rechtschaffensten Leute geraten in die denkbar schlimmste Lage, wo sie noch Glück haben, wenn sie nur überleben."
aus: der überblick 01/2002, Seite 53
AUTOR(EN):
Bruce Gilley:
Bruce Gilley ist Journalist und berichtet für die in Hongkong erscheinende Zeitschrift "Far Eastern Economic Review" (FEER) über China. Seinen Artikel entnehmen wir mit freundlicher Genehmigung der Redaktion der FEER vom 16.8.2001.