Der Prozess gegen den bosnisch-serbischen Politiker Momcilo Krajisnik
Dass Momcilo Krajisnik sich zahlreicher Kriegsverbrechen schuldig gemacht hat, steht eigentlich außer Zweifel. Aber wie beweist man es vor Gericht, wenn die Gruppe der Täter, zu der er gehörte, frühzeitig darauf geachtet hat, ihre Verantwortlichkeit zu vertuschen?
von Bodo Weber
Momcilo Krajisnik wurde im April 2000 von einem Sonderkommando der Nato-geführten internationalen Friedenstruppe SFOR in seinem Wohnhaus bei Sarajevo im Schlaf überrascht, festgenommen und noch am selben Tag zum UN-Kriegsverbrechertribunal für das ehemalige Jugoslawien (International Criminal Tribunal for the former Yugoslavia, ICTY) nach Den Haag überführt. Das ICTY ist ein vom UN-Sicherheitsrat im Jahr 1993 geschaffener Ad-hoc-Strafgerichtshof, zuständig für die Verfolgung von schweren Verbrechen, die ab 1991 während des Jugoslawien- beziehungsweise Bosnien- und Kosovo-Krieges auf dem Territorium des vormaligen Jugoslawien begangen wurden.
Krajisnik, ehemaliger sozialistischer Manager war in den 1990er Jahren einer der engsten Vertrauten des bosnischen Serbenführers Radovan Karadzic und auch Mitglied im Vorstand von Karadzics Serbischer Demokratischer Partei (SDS). Nach den ersten Mehrparteienwahlen in der jugoslawischen Republik Bosnien-Herzegowina 1990, die mit dem Sieg der nationalistischen Parteien endeten und zur Bildung einer serbisch-muslimisch-kroatischen Regierungskoalition führten, wurde er zum bosnischen Parlamentspräsidenten gewählt. Im Konflikt zwischen den Regierungspartnern um die politische Positionierung der Republik im Zerfall des jugoslawischen Staates führte er die serbischen Abgeordneten 1992 aus dem Parlament und zur Gründung eines parallelen Abgeordnetenhauses. Der Streit ging um staatliche Unabhängigkeit versus den Verbleib in einem neuen, serbisch dominierten Jugoslawien. Das parallele Abgeordnetenhaus bildete die institutionelle Grundlage für die gewaltsame Errichtung eines bosnisch-serbischen Staatsgebildes während des Bosnienkriegs 1992-95, der Republika Srpska (RS).
Die Anklageschrift des ICTY warf Krajisnik vor, Teil einer kriminellen Vereinigung gewesen zu sein, an der zahlreiche weitere Personen beteiligt gewesen seien (Radovan Karadzic, Ratko Mladic, Slobodan Milosevic und andere) und deren gemeinsames Ziel die Errichtung eines serbischen Staatsgebildes auf dem Großteil des Territoriums der Republik Bosnien gewesen sei. Kriminelles Mittel zur Erreichung dieses Zieles sei in erster Linie die systematische Vertreibung der nicht-serbischen Bevölkerung gewesen. Diese Vertreibungspolitik habe diverse Verbrechen nach sich gezogen wie: Diskriminierung auf ethnischer Basis, militärische Angriffe, Bombardierung von weitgehend unbewaffneten Städten und Dörfern, Mord, Zerstörung von Wohnhäusern sowie kulturellen und religiösen Bauwerken, Gefangennahme und Internierung der Zivilbevölkerung in Lagern unter unmenschlichen Bedingungen, begleitet von Mord und körperlicher, psychischer und sexueller Misshandlung.
Bereits am Zustandekommen der Verhaftung und Anklage von Krajisnik lässt sich die ganze Komplexität und Schwierigkeit der Arbeit eines internationalen Gerichtshofs ablesen, dessen Tätigkeit weit über die Feststellung individueller Schuld hinausgeht. Denn dem Tribunal wurden vom Sicherheitsrat neben seiner strafrechtlichen Funktion noch zwei weitere, gleichwertige Ziele in sein Statut geschrieben - nämlich die Aufklärung über die in den Balkankonflikten begangenen Massenverbrechen sowie die Weiterentwicklung des internationalen Strafrechts. Diese Aufgabe fiel dabei innerhalb des Gerichtshofes weitgehend der Staatsanwaltschaft, dem Office of the Prosecutor (OTP) zu. Von Beginn an war klar, dass das Jugoslawientribunal nur einen Bruchteil der vermutlich Zehntausenden von Tätern anklagen würde und verurteilen könnte. Das Statut legte die Entscheidungsbefugnis über die zu treffende Auswahl allein in die Hände der Staatsanwaltschaft. Sie musste von Beginn an entscheiden, wen sie anklagt, ob unmittelbare Täter von Kriegsverbrechen und/oder politisch Verantwortliche, sowie welcher Ausschnitt aus den unzähligen Verbrechen in jedem einzelnen Fall zur Anklage kommen sollte. Und zugleich musste sie berücksichtigen, wie diese doppelte Auswahl den in sich nicht spannungsfreien drei Zielen der Arbeit des Tribunals gerecht werden konnte.
Zusätzlich zu all dem bewegt sich dieser umfassende Entscheidungsprozess nicht im luftleeren Raum. Denn als gleichzeitige Anklage- und Ermittlungsbehörde ist das OTP in seiner konkreten strafrechtlichen Arbeit - dem Zugang zu Beweismitteln (Dokumenten, Zeugen) und der Verhaftung von Angeklagten - gänzlich abhängig von der Kooperationsbereitschaft der Balkanstaaten, in denen die Verbrechen begangen worden sind, und von der internationalen Gemeinschaft. In den 1990er Jahren führte das zu einer starken Behinderung der Arbeit. In Serbien, Kroatien und in Bosnien-Herzegowina waren weitgehend die politischen Kräfte an der Macht geblieben, die für die Massenverbrechen verantwortlich zeichneten. Die internationale Gemeinschaft hatte das Tribunal mehr oder minder als Verlegenheitsentscheid gegründet. Es sollte verbergen, dass sie nicht bereit war, den Massenverbrechen durch ein entschiedenes militärisches Eingreifen Einhalt zu gebieten. So behinderte die Gemeinschaft die Arbeit des Gerichtshofs mehr als sie mit ihm kooperierte. Die Anklage konnte deshalb bis zum Jahrtausendwechsel fast nur direkte Gewalttäter vor Gericht zu bringen.
Die Verhaftung von Krajisnik war der erstmalige Zugriff auf einen politisch Hauptverantwortlichen. Das symbolisierte einen Wendepunkt in der Arbeit des Tribunals. Möglich wurde das durch den Zusammenbruch der Kriegsregime in der Balkanregion. Damit stellte sich bei der Entscheidung über die Auswahl der Anklagepunkte für das OTP erstmals die strategische Frage in vollem Umfang. Im Lichte der 2001 erfolgten Verhaftung von Slobodan Milosevic und der Ungewissheit bezüglich des Zugriffs auf Radovan Karadzic und Ratko Mladic entschied sich die Anwaltschaft 2002 dafür, das Verfahren gegen Krajisnik zu einer Art reduziertem Stellvertreterprozess für die bosnisch-serbische Führung zu machen. Sie verzichtete auf die ursprüngliche Anklage wegen Verletzung der Genfer Konvention und überlies den aufwendigen und komplizierten Nachweis, dass die Regierung Serbiens die effektive Kontrolle über die bosnisch-serbische Politik ausgeübt hat und der Bosnienkrieg daher ein internationaler Konflikt gewesen ist, der Anklage gegen Milosevic.
Sie klagte Krajisnik wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Genozid im Bosnienkrieg an. Mit der Begrenzung der Anklage auf das Jahr 1992 ließ sie zwar den Genozid von Srebrenica außen vor. Da die Politik ethnischer Machtergreifung und Massenvertreibungen aber im ersten Kriegsjahr bereits weitgehend "erfolgreich" abgeschlossen war, umfasste die Anklage so dennoch mehr oder minder den gesamten Verbrechenskomplex der serbischen Politik ethnischer Säuberung in Bosnien. Die Anklageschrift erfasst mit 35 Gemeinden den Großteil der unter serbische Kontrolle gebrachten bosnischen Kommunen und machte das Verfahren so zu einem Mammutprozess.
Der Prozess begann im Februar 2004. Die Beweisführung der Anklage, die bis September 2005 dauerte, bewegte sich auf zwei Ebenen, dem Nachweis eines kriminellen Unternehmens zur Schaffung eines ethnisch-serbischen Staatsgebildes innerhalb Bosniens mit den Mitteln ethnischer Säuberung sowie der Bestimmung der Rolle und Verantwortung des Angeklagten in diesem Prozess Mittels der Feststellung seiner formalen wie tatsächlichen Machtbefugnisse.
Die Anklage legte dar, wie die SDS-Führung im Zuge der politischen Auseinandersetzung um die Zukunft Bosniens bereits 1991 mit der Planung der gewaltsamen Machtaneignung begonnen hatte; wie zu diesem Zweck parallele serbische Staatsinstitutionen im Geheimen geschaffen oder vorbereitet wurden (SDS-Krisenstäbe in den Kommunen, Parlament, serbisches Innenministerium) und eine geheime, systematische Bewaffnung stattgefunden hat. Neben Zeugenaussagen legte sie hierzu vor allem diverse Schlüsseldokumente vor: eine geheime Anweisung der Parteiführung an ihre Gemeindeglieder zur organisatorischen Vorbereitung der Machtübernahme auf kommunaler Ebene, mehrere Dokumente über die Planung der Abspaltung der serbischen Mitarbeiter vom bosnischen multiethnischen Innenministerium, zahllose abgehörte Telefonate zwischen Parteifunktionären über den Prozess der Bewaffnung der serbischen Bevölkerung unter der Regie der SDS.
Die Staatsanwälte konnten beweisen, wie nach der internationalen Anerkennung der staatlichen Unabhängigkeit Bosniens im April 1992 dieses kriminelle Unternehmen aktiviert wurde. Dabei zeichneten sie minutiös nach, wie der Prozess der ethnischen Säuberung bis zum Jahresende 1992 verlaufen und in den allermeisten Fällen weitgehend abgeschlossen wurde, als sich die neu geschaffene bosnisch-serbische Republik über 70 Prozent des bosnischen Staatsterritoriums erstreckte. Die Anklage lud insgesamt 93 Zeugen vor. Die meisten davon sollten die begangenen Massenverbrechen darlegen. Da sich Anklage und Verteidigung über das Faktum der begangenen Verbrechen grundsätzlich einig waren, fanden über den Verfahrensweg der Anerkennung juristischer Erkenntnisse aus vorangegangenen Prozessen gegen unmittelbare bosnisch-serbische Täter außerdem weitere Hunderte, wenn nicht Tausende Zeugenaussagen indirekt Eingang in das Krajisnik-Verfahren.
Der Zeuge Elmir Jahic erzählte eindrücklich von einem Massaker an 56 Muslimen aus dem bei Sarajevo liegenden Dorf Ajatovici. Nachdem das Dorf von serbischen Truppen eingenommen und die muslimischen Männer zwei Wochen lang in einem improvisierten Gefangenenlager misshandelt worden waren, so Jahic, wurden 56 von ihnen in einen Bus gesetzt, der sie angeblich zu einem Gefangenenaustausch bringen sollte. Die Gefangenen mussten sich während der Fahrt auf den Boden legen. Als der Bus abrupt stoppte, attackierten serbische Soldaten das Fahrzeug mit zahlreichen Granaten und Maschinengewehrfeuer. "Rundherum flogen Körperteile, Granatsplitter, Kugeln. Ich war vollkommen mit Blut überströmt. Stücke zerrissener Schädel fielen auf mich" erzählt Jahic. Er überlebte mit sieben weiteren Gefangenen das Massaker und konnte flüchten.
Im zweiten Teil arbeitete die Staatsanwaltschaft detailliert die Herrschaftsstrukturen der Republika Srpska heraus, bestimmte die formale wie tatsächliche Position von Parlament, Regierung, Präsident, Militär, Polizei und Justiz wie das Verhältnis zwischen militärischer und ziviler Herrschaft.
Sie versuchte so aufzuzeigen, dass hinter den formalen Institutionen eine kleine Führungsgruppe um Partei- und Staatspräsident Karadzic alle Macht konzentriert hatte, dass der Angeklagte Krajisnik nicht nur Teil davon, sondern die zweitbedeutendste Person in diesem Führungszirkel war. Besondere Anstrengungen verwendete die Anklage dabei auf den Nachweis, dass Krajisnik - obwohl nicht formal so doch faktisch - Mitglied des kollektiven Staatspräsidiums der RS gewesen war, und dass tatsächlich das Präsidium und nicht die Regierung die Kontrolle über Armee, Polizei und Justiz ausübte, dass Krajisnik innerhalb dieses Organs die zentrale Aufgabe der Koordinierung zwischen lokalen Behörden und der zentralstaatlichen Ebene zufiel und dass er in dieser Funktion Zugang zu Informationen über alle wichtigen Ereignisse und Entwicklungen hatte.
Bei dieser Beweisführung konnten die Staatsanwälte auf Millionen von Originaldokumenten zurückgreifen, die die Ermittlungsbehörde in zahlreichen Razzien Ende der 1990er Jahre in Bosnien mithilfe der internationalen Friedenstruppen an sich genommen hatte. Um den Prozess an dieser Fülle von Material nicht zum Platzen zu bringen und um diese vielen Dokumente verfahrenstechnisch sinnvoll aufarbeiten zu können, engagierte die Anklage mehrere Expertenzeugen. Dabei handelte es sich jedoch nicht in erster Linie um externe Balkanexperten wie Historiker, die in vielen anderen Verfahren herangezogen wurden, um den geschichtlichen Kontext des Zerfalls Jugoslawiens und der Balkankriege herzuleiten. Vielmehr wurden wissenschaftliche Mitarbeiter einer Analyseabteilung innerhalb der Anklagebehörde beauftragt, schriftliche Expertisen zu erstellen. Der Vorteil dieses Verfahrens besteht für die Staatsanwaltschaft darin, dass diese Mitarbeiter freien Zugang zu all diesen Dokumenten haben und diese über Jahre für interne Analysen des OTP bearbeiten.
Eine zentrale Rolle im Krajisnik-Prozess spielte der Expertenbericht des Historikers Patrick Treanor mit dem Titel The Bosnian Serb Leadership 1990-92, der die parteistaatlichen Strukturen der RS und die Rolle des Angeklagten innerhalb der politischen Führung analysierte, und der sich auf über 800 Dokumente wie Parlamentsmitschnitte und die Stenogramme der Staatspräsidiumssitzungen stützte. Der Bericht fasste die These der Anklage von der Existenz eines informellen Führungszirkels in seinen materiellen Beweisen zusammen. Als zusätzliches wichtiges Beweismaterial für diesen Teil der Anklageführung dienten mehrere hundert Mitschnitte von abgehörten Telefongesprächen zwischen politischen und militärischen Repräsentanten der RS aller Hierarchieebenen, die dem Tribunal von westlichen Nachrichtendiensten und dem Geheimdienst der ehemaligen Republik Bosnien-Herzegowina zugänglich gemacht worden waren. Schließlich rief die Staatsanwaltschaft mehrere Insider-Zeugen auf, die aus dem Innenleben der bosnisch-serbischen Republik berichteten. Zwei Minister und mehrere lokale Partei- und Staatsfunktionäre wurden gehört.
Die Verteidigung und der Angeklagte verlegten sich in ihrer Beweisführung, die bis zum Juni 2006 dauerte, weitgehend auf eine legalistische Argumentationsweise. Anders als bei den meisten vor dem Den Haager Gericht verhandelten Verfahren leugneten sie die von der Gegenseite angeführten Massenverbrechen nicht. Sie argumentierten stattdessen erstens damit, dass es keine gezielte Politik der ethnischen Säuberung gegeben habe, sondern dass die im Rahmen ethnischer Herrschaftserrichtung erfolgten Massenverbrechen ein spontaner Prozess gewesen sei, den lokale Machthaber und die Armee autonom zu verantworten haben und für den die politische Führung keine Verantwortung trage. Der neu errichtete Staat sei von einem niedrigen Organisationsgrad gekennzeichnet gewesen, Militär und die politische Führung in den Gemeinden hätten unter den Kriegsbedingungen weitgehend autonom agiert. Krajisnik wie die gesamte zivile Führung seien in ihrem Amtssitz im Sarajevoer Wintersportort Pale weitgehend von Informationen über die Entwicklungen im Rest der RS abgeschnitten gewesen.
Zweitens argumentierten sie, dass Krajisnik außerdem persönlich keine Verantwortung trage, weil er faktisch keine Macht inne gehabt habe, und beriefen sich dabei auf seine formale Rolle. Krajisnik sei lediglich Präsident des bosnisch-serbischen Parlaments gewesen, ohne jegliche exekutive Macht. Er sei formal kein Mitglied des Staatspräsidiums gewesen, auch wenn er an diversen Sitzungen teilgenommen habe. Das Präsidium sei mehr ein Debattierklub gewesen als dass es konkret Macht ausgeübt hätte.
Die Verteidigung baute ihre Argumentation größtenteils auf Insiderzeugen auf. Sie bestellte insgesamt 25 Zeugen, vor allem lokale Partei- und Staatsfunktionäre, sowie einige hochrangige Parteifunktionäre und den ehemaligen Wirtschaftsminister der bosnisch-serbischen Republik. Vorläufiger Höhepunkt des Verfahrens war die abschließende Befragung des Angeklagten Krajisnik, die insgesamt fast zwei Monate in Anspruch nahm.
Als Herzstück der Verteidigungsstrategie markierte diese sogleich ihr weitgehendes Scheitern. Im dreiwöchigen Kreuzverhör konfrontierten die Staatsanwälte Krajisniks Interpretationen der historischen Ereignisse mit seinen eigenen Redebeiträgen im bosnisch-serbischen Parlament, mit von ihm geführten Telefonaten und mit diversen anderen Dokumenten, ließen seine Darstellungen so weitgehend unglaubwürdig erscheinen und zwangen ihn wiederholt, seine Aussagen zu revidieren. An einer Stelle im Verhör sah er sich gezwungen zu gestehen: "Wenn ich mich von diesem Momcilo Krajisnik distanzieren könnte, würde ich es tun." Die Richter werden später in ihre Urteilsschrift die Bemerkung aufnehmen: "die Kammer fand den Angeklagten - insbesondere bezüglich des Kreuzverhörs - außerordentlich unglaubwürdig. Sie hat seinen Aussagen in Schlüsselpunkten der Anklage daher wenig oder gar kein Gewicht beigemessen".
Dass nach Tausenden eingebrachter Originaldokumente und dem Schlagabtausch zwischen Insiderzeugen beider Seiten der juristische Nachweis der tatsächlichen Machtposition des Angeklagten unsicher geblieben war, zeigte sich daran, dass am Ende des Verfahrens die Richter von ihrem Recht Gebrauch machten und mehrere eigene Zeugen zur Aussage heranzogen. Die Aussagen von hochrangigen Personen der Bosnisch-serbischen Republik des ehemaligen Staatspräsidiumsmitglieds Biljana Plavsic, des ehemaligen Ministerpräsidenten Branko Djeric sowie des ehemaligen Verteidigungsministers Bogdan Subotic waren der abschließende Höhepunkt des gesamten Verfahrens. Trotz offenkundiger Aussageunwilligkeit lieferten sie wichtige ergänzende Beweise.
So schilderte Subotic, dass die Armeeführung nur dem Präsidenten Karadzic gehorcht habe, er als Minister nicht nur keinerlei Befugnisse, sondern nicht einmal Zugang zur Armee gehabt habe. Djeric und Plavsic erzählten eindrucksvoll, dass die Regierung über keinerlei reale Macht verfügt habe, dass die Innen- und Justizminister an der Regierung vorbei nur Karadzic und Krajisnik Bericht erstattet und Anweisungen entgegen genommen hätten, dass hinter der formalen Institution des Staatspräsidiums, dem kollektiven Staatsoberhaupt, die beiden alle Macht konzentriert hätten. Djeric erklärte: "Ich hatte das Gefühl, na ja, dass Karadzic nur Krajisnik vertraute Karadzic betrachtete Krajisnik als seinen eigenen, privaten Premierminister." Und Plavsic gab einen Gedanken aus dem ersten Kriegsjahr wieder: "was ist die Notwendigkeit eines Staatspräsidiums, wenn Karadzic und Krajisnik sich immer schon im Voraus ihre Meinung gebildet haben" und sprach von "kollektiver Mimikry".
Ende September 2006 verkündeten die Richter der 3. Kammer des Strafgerichtshofs ihr Urteil: 27 Jahre Haft. In der 450 Seiten starken Urteilsschrift, die sich wie eine Enzyklopädie des Bosnienkrieges liest, folgen die Richter in weiten Teilen der Argumentation der Anklagebehörde. Sie betonen die aktive und führende Rolle von Krajisnik in der gewaltsamen Errichtung der bosnischen Serbenrepublik. Er sei über die begleitenden Massenverbrechen informiert gewesen, habe diese billigend in Kauf genommen und nichts gegen sie unternommen. Sie weisen ihm eine zentrale Machtposition innerhalb der bosnisch-serbischen Führung zu, Platz zwei direkt hinter Präsident Karadzic. Sie verurteilen ihn in fünf Punkten wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
Die festgestellten Straftatbestände umfassten unter anderem 3000 Morde, die Vertreibung von 100.000 Personen sowie weitere Kriegsverbrechen im Rahmen von 350 Internierungslagern. Die Anklage wegen Genozids wird abgewiesen. Die Richter argumentieren, die Absicht der physischen Vernichtung der nicht-serbischen Bevölkerungsteile als Intention bei der geplanten Errichtung der bosnisch serbischen Republik sei beim Angeklagten nicht nachgewiesen worden.
Das Krajisnik-Urteil spiegelt die Möglichkeiten und Grenzen der Haager Gerichtsbarkeit wieder. Gericht und Richter haben in den zweieinhalb Verhandlungsjahren einen bemerkenswerten Erkenntnisprozess durchlaufen - zum Beispiel über das Verhältnis von politischen Intentionen und gesellschaftlicher Gewaltdynamik, die sie in Gang setzten, über das Verhältnis von formalen und tatsächlichen Kontroll- und Machtstrukturen. Diese Erkenntnisfähigkeit hat an der Person Momcilo Krajisnik jedoch zugleich auch ihre Grenzen gefunden. Weder Staatsanwaltschaft noch Richtern war es möglich, das gesamte Ausmaß der faktischen Machtfülle von Krajisnik zu erkennen und juristisch nachzuweisen. Tatsächlich reichte die Macht von Krajisnik während der Kriegsperiode über die des Partei- und Staatschefs Karadzic hinaus. Das Machtgefüge der bosnischen Serbenrepublik war geprägt von einem Prozess des Herrschafts- und Gesellschaftszerfalls, dessen Anfänge weit zurück gehen in die 1970er Jahre, in den Beginn der Erosion der sozialistischen Gesellschaftsordnung Jugoslawiens. Informelle Beziehungen und Netzwerke innerhalb der formellen staatlichen, parteilichen und wirtschaftlichen Institutionen bildeten die dominierende Machtstruktur.
Der ehemalige sozialistische Manager Krajisnik verfügte im Unterschied zum Psychiater Karadzic über das nötige Know-how, nämlich die praktische Erfahrung im Umgang mit dieser Form von Herrschaftspraxis. So konnte er hinter der nationalen Symbolfigur Karadzic das operative politische (kriminelle) Geschäft in der Republika Srpska an sich ziehen.
Diese Tatsachen konnten sich dem Gericht aber nicht aus den ihr zur Verfügung stehenden Dokumenten erschließen. Informelle Machtstrukturen erhalten sich über informelle Gespräche und Treffen, von denen das Gericht lediglich festhalten konnte, dass es sie in großer Zahl gegeben hat, diese aber nicht schriftlich dokumentiert sind. Einzelne hochrangige Insiderzeugen hatten in ihren Aussagen auf die Dominanz Krajisniks gegenüber Karadzic hingewiesen und dabei seinen Arbeitsstil und seine Managerqualitäten ins Feld geführt. Doch dabei handelte es sich um persönliche Eindrücke. Direkte Auskunft darüber könnte letztlich nur der flüchtige Radovan Karadzic geben. Am ehesten hätte das Gericht die Position Krajisniks über eine Rekonstruktion der spezifischen Form von Kriegsökonomie in der Serbenrepublik und die zentrale Rolle des Angeklagten darin erschließen können.
Diese Kriegsökonomie basierte weitgehend auf einer hierarchisch strukturierten, kollektiven Schmuggelwirtschaft und Kriegsplünderung und war sehr eng mit dem Prozess ethnischer Säuberung verzahnt. Das Engagement ehemaliger Krimineller in paramilitärischen Verbänden als zentrale Gewalttäter ethnischer Vertreibung, die mit der gewährten Plünderung der hinterlassenen Besitztümer ihrer Opfer bezahlt wurden, wurde zum Grundprinzip, das die politische Führung auf der Ebene der Kriegswirtschaft übernahm und hinter das sie bis zum Ende des Krieges nicht mehr zurückgehen konnte.
Im Krajisnik-Verfahren wie im Rest der Arbeit des Tribunals wurde der ökonomische Aspekt von bewaffnetem Konflikt und ethnischer Gewalt jedoch weitgehend ignoriert. Vermutlich deshalb, weil in der internationalen Strafrechtstradition ökonomische Aspekte stark unter dem Einfluss der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse und der industriellen Form nationalsozialistischer Judenvernichtung stehen. Die spezifische Kriegsökonomie der Balkankonflikte passte nicht in dieses Muster von kapitalistischer Produktionsform und industrieller Menschenvernichtung. So hält das Krajisnik-Urteil lediglich an einer Stelle fest, dass der Angeklagte bei Kriegsbeginn zum Koordinator des bosnisch-serbischen Staatspräsidiums für Wirtschaftsfragen ernannt worden war.
Trotz dieser Grenzen juristischer Aufarbeitung ist die Arbeit des Jugoslawientribunals im Fall Momcilo Krajisnik außerordentlich positiv zu bewerten. Auch die übrigen Anklagen gegen mutmaßliche und verurteilte Kriegsverbrecher haben Personen aus den Balkanstaaten entfernt, die einer friedlichen und demokratischen Entwicklung in diesen Nachkriegsgesellschaften im Wege standen. Doch nur wenige Opfer sind der Meinung, das Tribunal habe seine Aufgabe, Recht zu sprechen und Gerechtigkeit wiederherzustellen, erfüllt. Traumatisierte können die Arbeit des Gerichts aber wohl auch kaum wie neutrale Außenstehende betrachten.
Verdienstvoll ist die Arbeit des Gerichtshofs auch sicher dadurch, dass er eine äußerst materialreiche Grundlage für die zeitnahe Geschichtsschreibung der Balkankriege geliefert hat und noch immer liefert. Damit wird wenigstens nachträglich den zahllosen Kontroversen der Boden entzogen, die seit den frühen 1990er Jahren die politische, diplomatische, mediale und akademische Auseinandersetzung mit den Balkankriegen bestimmt.
Zwar haben diese umfassenden Tatsachenfeststellungen bisher keine merklichen Auswirkungen auf die Krisengesellschaften des Balkans selber. So bewegten sich die politischen Kommentare des Krajisnik-Urteils in Bosnien gänzlich entlang den noch immer verfestigten ethnischen Konfrontationslinien. Dass die juristische Arbeit des Tribunals bisher keine messbaren Auswirkungen auf das dominierende ethnische Bewusstsein in diesen Gesellschaften hatte, hängt aber weniger mit dem Tribunal selbst als mit der Verfasstheit derartiger Bewusstseinsstrukturen zusammen.
Der größte Wert der Arbeit des Tribunals dürfte jedoch in seiner langfristigen abschreckenden Wirkung liegen. Gerade das Krajisnik-Verfahren hat zu Tage gefördert, wie peinlich genau die politischen und militärischen Führer auf dem Balkan - in dem was Ratko Mladic auf einer Sitzung des bosnisch-serbischen Parlaments zu Kriegsbeginn als Kriegsdiplomatie bezeichnet hat - darauf geachtet haben, ihre eigentlichen verbrecherischen Intentionen vor der internationalen Gemeinschaft zu verbergen, um einer (militärischen) Konfrontation aus dem Weg zu gehen. Wie die Verurteilung von Momcilo Krajisnik durch das UN-Tribunal zeigt, ist ihnen das zumindest mittelfristig nicht gelungen.
aus: der überblick 01/2007, Seite 48
AUTOR(EN):
Bodo Weber
Bodo Weber ist Soziologe und promoviert an der Universität Hannover. Er forscht über Ethnonationalismus
und ethnische Gewalt auf dem Balkan.