Die immerwährende Herausforderung der Informationsflut
"Das war eine von Herrn le Coutres genialen Ideen", sagt Dorothee Kayser. Und sie war die erste, die davon profitierte: 1981 begann die promovierte Volkswirtin mit einer Hospitanz beim überblick. Fast anderthalb Jahre blieb sie — und stellte gleich ein Drittel des Teams: Denn neben Eberhard le Coutre als Chefredakteur und der Hospitantin gab es nur noch eine Sekretärin.
von Detlev Brockes
20 Jahre ist das her, die Redaktion des überblick ist gewachsen, aber Hospitantinnen und Hospitanten gehören nach wie vor dazu. Sie bleiben mindestens ein halbes Jahr, sollten sich in Deutsch und Englisch gut ausdrücken können und bekommen für ihren Vollzeitjob 2.000 Mark brutto im Monat. Die Hospitanten lernen beim überblick Entwicklungspolitik aus journalistischer Sicht kennen. der überblick wiederum gewinnt über die Hospitanten und Hospitantinnen Einblick in die aktuelle Diskussion an den Universitäten und kann eine Reihe von Routinearbeiten in die Hände der jungen Mitarbeitenden legen. Weit mehr als 40 Personen haben seit 1981 in der Redaktion hospitiert.
"Wir wissen, was wir an ihnen haben", sagt Chefredakteurin Renate Wilke-Launer — was angesichts von zweieinhalb festen Redakteursstellen niemand bezweifeln wird. Auch überblick-Redakteur Bernd Ludermann war übrigens Anfang der neunziger Jahre Hospitant. "Bei uns bewerben sich vor allem Ethnologen, Politologen und Soziologen", berichtet Renate Wilke- Launer. Die Zahl der Theologen ist gering, Juristen und Ökonomen werden so gut wie nie gesichtet. "Obwohl wir die gern hätten", sagt die Chefredakteurin. Bezahlt wird das Programm aus Mitteln des Evangelischen Entwicklungsdienstes.
Der Mann mit der "genialen Idee", Eberhard le Coutre, erinnert sich an die Anfänge: "Wir wollten nicht nur selber Publizistik betreiben, sondern auch Wirkung in den weltlichen Medien erzielen, indem wir einzelne Personen fördern." So war es naheliegend, journalistisch Interessierte eine Zeit lang zum überblick zu holen — der Beginn des Hospitantenprogramms, das seitdem ohne Ausschreibungen, nur durch Mund-zu-Mund-Propaganda kontinuierlich läuft.
Eine "unerhörte Bereicherung" seien die Hospitanten, urteilt le Coutre, der die Zeitschrift von 1969 bis 1990 leitete, und außerdem: Was sollte schon schief gehen? "Das ist wie mit der Königin von England", erklärt le Coutre mit dem ihm eigenen Humor, "eine gute Queen kann viel bewirken, eine schlechte nicht viel schaden." Natürlich habe es auch Hospitanten gegeben, "die stundenlang dasaßen und Zeitung lasen". Aber denen lief der Chef nicht nach, um sie zu disziplinieren. Schließlich gebe es auch genug Oberkirchenräte, die so den Tag verbringen, bemerkt le Coutre trocken.
In seinen Worten klingt es an: Eigenes Engagement der Hospitanten und Hospitantinnen ist schon nötig, um im Redaktionsalltag nicht am Rande zu stehen. Dann allerdings tun sich Freiräume auf, die eine größere Redaktion kaum bieten kann und die längst nicht jede kleinere gewährt. Die Hospitanten können mit diskutieren, planen, Autoren vorschlagen, redigieren und selber schreiben. Sie studieren die gesamte Post, die täglich in Mappen umläuft. Sie können jeden Schritt im mehrmonatigen Produktionsablauf einer Ausgabe verfolgen.
Was auch nicht selbstverständlich ist: Beim überblick geht Inhalt vor Form. "Ob ein Artikel auf zwei oder auf vier Seiten im Blatt erscheint, entscheiden wir allein nach inhaltlichen Kriterien", erklärt die derzeitige Hospitantin Frauke Bartels, die Politologie und Ethnologie studiert hat. "Um Satz und Layout brauchen wir uns zunächst nicht zu kümmern."
Der Preis der Freiheit: Die Hospitantinnen und Hospitanten müssen ohne Murren ihre Routinearbeiten erledigen. Sie holen Post, fordern Rezensionsexemplare an, halten Bibliothek und Archiv in Ordnung. Bei den Agenturen bestellen sie die Fotoauswahl fürs Heft, und wenn die Stapel von Bildern nach der Layout-Konferenz völlig zerwühlt sind, ist es wiederum Aufgabe der Hospitanten, sie in der alten Ordnung an die Agenturen zurückzuschicken.
Eine immerwährende Herausforderung ist das Kanalisieren der Informationsflut. "Beinahe Terror" sei der Umlauf des Materials, heißt es drastisch in einem Hospitanzbericht. Auch andere Berichte legen Zeugnis ab von der Schlacht gegen Zettel, Zeitungsausschnitte und Materialien. Wer nicht selektiert, verliert — eine Erfahrung, die offenbar keinem überblick-Hospitanten erspart bleibt.
Ebenfalls wichtig: die journalistische Sprache. "Der Umgang mit Texten aus nicht-wissenschaftlicher Sicht war eine der wichtigsten Erfahrungen für mich", sagt der Politologe Christian Ludwig, der bis März 2000 beim überblick hospitierte. Seine eigenen wissenschaftlichen Texte, die vor allem im Dialog mit dem Professor entstanden und nicht begleitet vom Austausch in einem Redaktionsteam, beurteilt er aus heutiger Erfahrung als "völlig unlesbar".
Und wo sind sie geblieben, die Hospitantinnen und Hospitanten des überblick? Für manche stellte sich heraus, dass ein journalistischer Beruf nicht der richtige sein würde. Aber viele sind inzwischen in der ersten Reihe angelangt: Sie arbeiten zum Beispiel bei ARD Aktuell, beim Hessischen Rundfunk, beim Berliner Tagesspiegel oder waren beim Deutschen Allgemeinen Sonntagsblatt. Andere Hospitanten gingen in entwicklungspolitische Organisationen und betreuen dort die Öffentlichkeitsarbeit, etwa bei Terre des Hommes oder im Evangelischen Missionswerk.
Dorothee Kayser allerdings, die erste Hospitantin, folgt einer anderen Fährte. Sie befasst sich nach wie vor mit Entwicklung, doch inzwischen auf persönlicher Ebene — als Heilpraktikerin für Psychotherapie. Aber auch heute noch sagt Dorothee Kayser über ihre Hospitanz beim überblick: "Das war eine spannende Zeit."
Fernziel Afrika-KorrespondentinDie Ethnologin Friederike Böge hospitierte von November 1999 bis Mai 2000 beim überblick. Derzeit ist sie Volontärin bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.Wann hatten Sie zum ersten Mal ein überblick-Heft in der Hand? Ich habe die Zeitschrift während meines Studiums in Berlin kennen gelernt. Sie lag in der Bibliothek der Afrikawissenschaften aus. Das war eine gute Alternative zu den eher trockenen Wissenschaftszeitschriften einerseits und den tagesaktuellen afrikanischen Wochenzeitschriften andererseits. Wussten Sie zu der Zeit bereits, dass Sie Journalistin werden wollen? Ja, ich hatte schon nach dem Abitur ein neunmonatiges Praktikum bei der namibischen Wochenzeitung Tempo in Windhuk gemacht. Nach meinem Magister- Abschluss habe ich mich dann parallel um ein Volontariat und um weitere Praktika beworben. Außer beim überblick habe ich auch beim Tagesspiegel und bei der Berliner Zeitung hospitiert. Was hat Sie beim überblick gefordert? Meine Lieblingsbeschäftigung war Übersetzen und Redigieren, und das bedeutet immer auch, die eigene Arroganz zu überwinden. Kann ich einem Autoren Formulierungen, Meinungen und Exkurse zugestehen, die ich selbst für unschön oder abwegig halte? Ein anderes Beispiel war das ausgedehnte Plauschen und Kaffeetrinken bei Redaktionssitzungen oder wenn Besucher da waren. Zunächst hat es meine Geduld strapaziert. Erst allmählich wurde mir klar, dass es sich dabei um eine Methode zur Autoren- und Themensuche handelt. Zwischen Keks und Sahnetörtchen werden Informationen über den Tisch geschoben, oder es wird einfach nur das Netzwerk, der externe Wissens- und Ideenspeicher des überblick, gepflegt. Hat Ihnen die Hospitanz bei den anschließenden Bewerbungen geholfen? Viele regionale Tageszeitungen, bei denen ich mich beworben habe, kennen den überblick nicht, sind vielleicht sogar skeptisch, wenn sie jemanden von einer Fachzeitschrift vor sich haben. Das hat dann eher noch das Bild verstärkt, das durch mein Studium der Ethnologie und Afrikanistik entstanden ist: Fachidiotin. Für meine Bewerbung bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung hat mir die Hospitanz aber wahrscheinlich genützt. Denn hier sind Fachkenntnisse eher die Regel als die Ausnahme. Außerdem habe ich während meiner Zeit beim überblick sehr, sehr viel gelesen und war deshalb gut informiert — die beste Voraussetzung, um bei Wissenstests zu bestehen. Von den Buchtipps der Chefredakteurin Renate Wilke-Launer zehre ich übrigens immer noch. In den Diskussionen über Selbstverständnis und Zukunft des überblick haben Sie Ihren eigenen journalistischen Standpunkt gefunden. Ja, mir ist klar geworden, welche Art von Journalismus ich selber betreiben will. Der überblick ist sehr analytisch und richtet seinen Fokus auf die Makro-Ebene, auf institutionelle Strukturen wie den Staatsapparat, Frauenorganisationen oder Gewerkschaften. Mich interessiert aber mehr die Realität jenseits dieser Institutionen. Also: Wie wirkt sich eine bestimmte Politik auf Menschen aus, was unternehmen sie, um jeweils das Beste für sich herauszuholen? An beispielhaften Situationen — das kann ein Schönheitswettbewerb ebenso sein wie ein Mordprozess — lässt sich oft mehr über gesellschaftliche Prozesse ablesen als an den harten Fakten, an Wahlergebnissen oder Gesetzen. Ihr berufliches Fernziel ist Korrespondentin im südlichen Afrika? Mein Traum ist das schon, aber ob er in Erfüllung geht, steht auf einem anderen Blatt. Schließlich gibt es in der Region kaum ein Dutzend Korrespondentenstellen deutscher Printmedien. Nach dem Volontariat werde ich zunächst in den Lokaljournalismus wechseln. Ich stand vor der Alternative, ob ich mich thematisch weiter mit Entwicklungspolitik und Afrika befassen wollte, dann aber hauptsächlich Texte redigieren würde, oder ob ich ins Lokalressort gehe und dort mehr selbst schreiben kann. Ich habe mich für die zweite Möglichkeit entschieden. Das ist schließlich auch für die Arbeit einer Korrespondentin nicht die schlechteste Vorbereitung. Die Fragen stellte Detlev Brockes |
aus: der überblick 02/2001, Seite 104
AUTOR(EN):
Detlev Brockes:
Detlev Brockes ist freier Journalist.