Tagung des Deutschen Instituts für Ärztliche Mission
Erschöpft, aber zufrieden kamen die Mediziner und Ethik-Experten aus dem Konklave. Zwei Tage hatten sie aus der Sicht von fünf großen Religionen über Grundsätze der medizinischen Ethik gesprochen. Sie wollten klären helfen, wie weit die Leitlinien, die der Medizin von verschiedenen Glaubensgemeinschaften gesetzt werden, miteinander vereinbar sind oder einander widersprechen. An welche ethischen Regeln sollen sich Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Gesundheitswesen halten - etwa bei der Schwangerschaftsverhütung, der Abtreibung, der AIDS-Vorbeugung und im Umgang mit Sterbenden? Und stellen verschiedene Religionen für eine gerechte Gestaltung des Gesundheitssystems ähnliche Grundsätze auf?
von Bernd Ludermann
Gespräche zwischen Religionsgemeinschaften sind natürlich nichts Neues. "Aber dies war meines Wissens der erste Dialog für das Gebiet der Medizinethik", erklärt Christoph Benn, der Grundsatzreferent des Deutschen Instituts für Ärztliche Mission (DIFÄM) in Tübingen. Er war einer der Organisatoren des Gesprächs. Benn und Adnan Hyder, ein muslimischer Mediziner aus Pakistan, hatten sich während ihres Studiums in den USA kennengelernt und ihr Interesse dafür entdeckt, wie die Religion des jeweils anderen seine ethische Haltung prägte. Daraus entstand ihre Idee, einen interreligiösen Dialog über Medizinethik anzustoßen. Das DIFÄM hat dazu für Anfang Oktober nach Tübingen eingeladen.
An dem Dialog nahmen ein Jude, ein Hindu und je zwei Muslime und Buddhisten teil - sämtlich Mediziner. Von christlicher Seite beteiligten sich neben Benn und dem Leiter des DIFÄM, Rainward Bastian, auch zwei Ethik-Experten von der Universität Tübingen. Außerdem waren der Ökumenische Rat der Kirchen, die Weltgesundheitsorganisation (WHO) und der Rat für internationale Organisationen der medizinischen Wissenschaft (CIOMS) vertreten (dieser Dachverband befaßt sich unter anderem mit Verhaltensrichtlinien für Mediziner). Am Ende kamen alle zu dem Schluß, daß verschiedene Religionen in den meisten medizinischen Fragen zu ähnlichen ethischen Grundsätzen kommen - wenn auch auf verschiedenen Wegen. "Wir waren erstaunt, daß die moralischen Vorstellungen näher zusammenliegen, als man das vorher vermutet hat", erklärt Benn.
Beispielsweise waren sich alle einig, daß - wie Hyder es ausdrückt - " Sexualität zur menschlichen Natur gehört. Aber es gab leichte Meinungsunterschiede, wie verantwortliches Sexualverhalten aussehen soll." Um die Verbreitung von AIDS einzudämmen, hielten alle Treue, Enthaltsamkeit sowie den Gebrauch von Kondomen für sinnvoll. Interessant ist hier, daß AIDS in islamischen Ländern relativ wenig verbreitet ist. "Die Frage ist, woran das liegt, denn die ethischen Grundsätze sind ja vergleichbar", bemerkt Abdallah Daar, ein Fachmann für Bioethik von der Universität des Golfstaats Oman. Den Grund vermutet Bastian darin, daß die Sexualethik stärker befolgt wird: "Es hat sich gezeigt, daß die Praxis und die Ethik im Islam wenig auseinanderklaffen, bei uns Christen aber sehr stark."
Niemand hatte religiös begründete Einwände gegen die Geburtenplanung mit Hilfe der Pille oder des Kondoms (die offizielle Position der katholischen Kirche war nicht vertreten). Daar schränkt allerdings ein, daß aus muslimischer Sicht ein Paar nur zeitweise, nicht auf Dauer die Empfängnis verhüten solle. "Bei der Familienplanung ist ein Unterschied", erklärt aus hinduistischer Sicht H. Sudarshan aus Bagalore, "daß Muslime gegen Sterilisierung sind - in Indien ist diese Methode üblich - und gegen die selbstbestimmte Anwendung der Geburtenverhütung seitens der Frauen."
Abtreibungen lehnen die Mediziner aus allen fünf Religionen als Mittel der Geburtenplanung strikt ab. Unterschiede finden sich im einzelnen bei der Frage, wann eine Abtreibung ausnahmsweise zulässig ist. "Für Hindus gehört die Seele mit der Befruchtung zum Fötus, während Muslime glauben, daß Gott die Seele 40 bis 120 Tage danach dem Fötus einhaucht. Bis dahin handelt es sich um Leben, aber nicht um ein vollständiges menschliches Wesen. Und es ist für Muslime sehr viel schwieriger, eine Abtreibung vorzunehmen, wenn die Seele bereits eingehaucht ist. Das ist nur erlaubt, wenn mehrere Ärzte besondere Umstände feststellen - insbesondere bei Gefahr für das Leben der Mutter", erläutert Daar.
Der Grundsatz, Abtreibungen dürften kein Mittel der Familienplanung sein, hilft freilich in der Praxis nicht aus einem wohlbekannten Dilemma: Wenn Abtreibungen bestraft werden, finden sie heimlich statt, und das bedeutet sehr viel größere Gefahr für die Frauen. Dies räumt auch Hyder ein: "Wir wissen, daß auch in islamischen Ländern illegal Abtreibungen im Hinterhof vorgenommen werden. Hier ist das Problem, wie das Gesundheitswesen damit umgeht. Auch damit müssen wir uns auseinandersetzen. Zunächst einmal, haben Frauen Zugang zu Maßnahmen der Familienplanung? Weiter: Wie verhält man sich bei Vergewaltigung, Inzest und Kriegsverbrechen? Da kann man keine allgemeine Antwort geben, man muß im Einzelfall entscheiden."
Auch für den Umgang mit Sterbenden gibt es in den verschiedenen Religionen ganz ähnliche Grundsätze. Aktive Sterbehilfe - auch bekannt als Tötung auf Verlangen - lehnen alle eindeutig ab. Am entschiedensten ist hier das Judentum, das Selbstmord ebenso streng verbietet wie Mord. Dagegen respektieren es im Prinzip alle fünf Religionen, wenn todkranke Patienten freiwillig auf eine weitere Therapie verzichten.
Dies ist inzwischen nicht mehr nur ein Problem für Mediziner in den Industrieländern. Mit der Frage, bis zu welchem Punkt man Sterbende mit Hilfe von Geräten am Leben halten soll, setzen sich heute auch buddhistische und hinduistische Mediziner auseinander. Das Vordringen der modernen Intensivmedizin in die Länder Asiens zwingt sie dazu. Freilich, erläuterte Pinit Ratanakul von der Universität Bangkok in seinem Vortrag in Tübingen, muß diese Art Medizin in Thailand erst noch kulturell bewältigt werden. Zum Beispiel ist die Vorstellung von einem Patiententestament - wie überhaupt von einem individuellen letzten Willen - der thailändischen Gesellschaft fremd. Die Intensivmedizin ist auch nur schwer vereinbar mit dem herkömmlichen Verständnis der Buddhisten vom Sterben. Denn danach soll man Sterbenden zu einem guten Tod verhelfen, sie aber nicht am Sterben hindern. Dies mag ein Grund dafür sein, daß Mediziner anderer Religionen, wie Daar bemerkt, beim Umgang mit Sterbenden von Buddhisten lernen können.
Aus der Sicht der Religionen ist aber nicht nur das Verhalten einzelner Mediziner gegenüber den Patienten ein ethisches Problem, sondern auch die Gestaltung des Gesundheitswesens. Deshalb ging es in Tübingen auch um die Frage der Gerechtigkeit bei der Verteilung der Ressourcen in der Gesundheitsversorgung. Alle Religionen klagten hier besonderen Schutz für die Schwachen ein.
In der Frage, ob nationale Gesundheitsreformen dem Kriterium der Fairneß genügen, ist laut John Bryant, dem Präsidenten von CIOMS, ein weltweiter, kultur- und religionsübergreifender Maßstab erreichbar. Bryant ist an einer internationalen Arbeitsgruppe beteiligt, die einen solchen Maßstab erarbeitet. Sie geht von in den USA entwickelten Kriterien aus, wonach zu einem fairen Gesundheitswesen unter anderem gleiche Chancen beim Zugang zu Gesundheitsdiensten sowie Effizienz, Transparenz und Rechenschaftspflicht gehören. Dieses Konzept wird nun angepaßt an die besonderen Umstände in Mexiko, Kolumbien, Thailand und Pakistan. Dabei zeichnet sich ein breiter Konsens über die Prinzipien ab, erklärt Bryant.
Ob sie auch befolgt werden, ist eine andere Frage; in den USA selbst sind sie zum Beispiel ohne großen Einfluß auf die Gesundheitsreform der Regierung Clinton geblieben. Das räumt auch Bryant ein. Er hofft jedoch, der Dialog der Religionen über diese Fragen werde die WHO ermutigen, die Gesundheitspolitik und die Gesundheitssysteme so zu beeinflussen, daß sie den Kriterien von Fairneß näher kommen.
Es kann aber nicht nur um die Verteilung der Mittel innerhalb einzelner Länder gehen. Die Ungleichheit zwischen ihnen ist ein ebenso großes ethisches Problem - zum Beispiel auf dem Gebiet der Forschung. "90 Prozent der medzinischen Forschung hat nur für 10 Prozent der Weltbevölkerung einen Nutzen", sagt Hyder. Als Beispiel dafür nennt Benn die AIDS- Forschung: Sie konzentriere sich auf Medikamente, die Patienten in den armen Ländern - und dies ist die große Mehrheit der HIV-Infizierten - sich niemals leisten können. Hyder sieht allerdings Ansätze, das Mißverhältnis in der Forschung etwas zu korrigieren.
Was kann der Konsens über viele Grundfragen der medizinischen Ethik, der in Tübingen erzielt wurde, in der Praxis bedeuten? Zunächst einmal ist hier die Übereinstimmung zwischen den Religionen auf den zweiten Blick gar nicht so erstaunlich. Denn es ist sehr viel einfacher, sich über einzelne ethische Fragen zu einigen als über religiöse Dogmen.
"Ich war nicht überrascht, wie weit wir uns einig waren", bemerkte denn auch Daar. "Denn wir haben über Medizin gesprochen, und medizinische Pflege zu geben, bringt das Beste im Menschen zum Vorschein." Und Sudarshan erklärte, man habe allgemeine Werte der Humanität aufgestellt, mit denen auch Menschen ohne Religion einverstanden sein könnten.
Jeremy Lauer, der stellvertretende Leiter der Ethik-Abteilung der WHO und ein Bahai, fügt hinzu: "Ein Grund für den Konsens ist, daß wir Mediziner sind. Wir sind gewohnt, ständig Entscheidungen zu fällen nicht zwischen Schwarz und Weiß, sondern zwischen verschiedenen Arten von Grau." Hyder sieht das ähnlich: "Wir haben auch herausgefunden, daß uns viele Dilemmata der Medizinethik gemeinsam sind. Keines ist in einer der Religionen einfacher zu lösen als in einer anderen."
Außerdem hat keiner der Beteiligten offiziell eine Religionsgemeinschaft vertreten - abgesehen davon, daß zum Beispiel Hindus und Buddhisten gar keine festgefügte Hierarchie haben, die für alle Gläubigen sprechen kann. "Wir haben so getan, als wären die vertretenen Religionen einheitlich, aber das sind sie nicht - es gibt darin zum Beispiel ganz verschiedene Schulen", meint Hyder.
In der Tat ist der Streit über diese ethischen Fragen, so Benn, in einzelnen Religionen oft schärfer als zwischen ihnen. Trotzdem glaubt er, daß ein Dialog, wie er in Tübingen stattgefunden hat, auch zur Verständigung unter den Religionen und zu ihrer friedlichen Koexistenz beitragen kann.
"Viele Gesundheitsdienste arbeiten in einem multikulturellen und multireligiösen Umfeld und sind angewiesen auf ein gutes Verhältnis zu ihren Nachbarn", betont Benn. Eine gemeinsame Ethik kann hier helfen. Und sie kann natürlich die Debatten unter Medizinern selbst befruchten. Der Prozeß soll deshalb weitergehen und erweitert werden - auch Afrikaner und Lateinamerikaner sowie Vertreter zusätzlicher Glaubensgemeinschaften sollen dazukommen. Vielleicht kann ja dann auch eine andere Lücke geschlossen werden: In Tübingen saß keine einzige Frau mit am Tisch.
Zudem hoffen die Organisatoren des Dialogs, daß gemeinsame Stellungnahmen verschiedener Religionen zur Medizinethik auch von Gesundheitspolitikern zur Kenntnis genommen werden. Reformen in den Industrieländern zu beeinflussen, dürfte freilich schwierig sein. Die Medizinethiker hoffen hier eher auf die WHO. Sie waren sich aber in Tübingen einig, daß sie auch zu Fragen der Gerechtigkeit im Gesundheitssystem Stellung nehmen sollten.
aus: der überblick 04/1999, Seite 117