Das Sexualverhalten zu ändern, setzt auch voraus, dass Frauen mehr Macht erhalten.
Harare, Simbabwe und Ngeri Village, Kenia. Sipewe Mhakeni benutzte die Blätter des Mugugudhu-Baumes. Nachdem sie Stiel und Blatt zermahlen hatte, vermengte sie eine Prise des sandfarbenen Pulvers mit Wasser, wickelte es in ein Stück Nylonstrumpf und steckte sich das Päckchen für 10 oder 15 Minuten in die Scheide.
von Mark Schoofs
Die Kräuter lassen das weiche Gewebe der Vagina anschwellen und heiß werden und trocknen die Schleimhaut aus. Das macht den Geschlechtsverkehr "sehr schmerzhaft", sagt Mhakeni. Aber, fügt sie hinzu: "Unsere afrikanischen Ehemänner stehen sehr darauf, wenn die Vagina beim Sex trocken ist."
Viele Frauen sind sich darüber einig, dass dry sex, wie diese Praxis genannt wird, Schmerzen verursacht. Trotzdem ist sie im gesamten südlichen Afrika verbreitet, dort also, wo die Aids-Epidemie schlimmer grassiert als irgendwo sonst auf der Welt. Forscher, die in Simbabwe eine Studie zu diesem Thema machen wollten, hatten Schwierigkeiten, für eine Vergleichsgruppe Frauen zu finden, die nicht die eine oder andere Form von dry sex praktizierten. Manche Frauen trocknen ihre Vagina mit mutendo wegudo aus, einem Gemisch aus Erde und Pavianurin, das sie bei traditionellen Naturheilern erstehen. Andere benutzen Reinigungsmittel, Salz, Baumwolle oder zerrissenes Zeitungspapier. Wissenschaftliche Untersuchungen haben ergeben, dass dry sex zu Verletzungen der Vagina führt und die natürliche Bakterienflora zerstört; beides erhöht die Wahrscheinlichkeit einer HIV-Infektion. Eine Reihe von Aids-Aktivisten sind außerdem der Meinung, dass die verstärkte Reibung auch Kondome leichter reißen lässt.
Dry sex ist nicht der einzige Brauch, mit dem afrikanische Frauen die Bewahrung ihrer Gesundheit beim Geschlechtsverkehr dem Vergnügen des Mannes unterordnen. In einigen wenigen Kulturen wird die Scheide der Frau verengt, indem man sie fast zunäht (vgl. "der überblick" 2/93). In den meisten afrikanischen Gesellschaften hingegen sind die Methoden subtiler: Die Mädchen werden dazu erzogen, Entscheidungen, die die Sexualität betreffen, den Männern zu überlassen. Prisca Mhlolo ist Beraterin in The Centre, einer großen Organisation für HIV-positive Simbabwer. "Unsereine darf sich ja nicht einmal herausnehmen zu fragen, 'Können wir miteinander schlafen?'" sagt sie. "Da ist es sehr schwierig, Kondome zur Sprache zu bringen."
Mhlolo erzählt aus beruflicher und persönlicher Erfahrung. Sie ist HIV-positiv, ihr verstorbener Mann hat sie infiziert. Als Aids sein Immunsystem zerstörte, erkrankte er an Herpes, was an seinem Penis offene Wunden verursachte. Mhlolo schlug vor, Kondome zu benutzen, "aber er sagte nur: 'Jetzt, wo ich krank bin, hast du dir wohl einen Freund zugelegt.' Es war sehr schwierig."
Viele Leute schrecken davor zurück, die Sexualpraktiken anderer Kulturen zu diskutieren, weil das Thema zu heikel und in Afrika zudem mit rassistischen Untertönen belastet ist. Weiße haben jahrhundertelang Zerrbilder von der Sexualität der Afrikaner gezeichnet und schwarze Männer als sexuelle Bestien dargestellt; einige Weiße behaupten hinter vorgehaltener Hand heute noch, dass dies der Grund sei, warum sich das HI-Virus unter Afrikanern so stark ausbreitet. Solche Stereotypen gehen jedoch an der Sache vorbei, denn das Problem ist nicht die Libido selbst, sondern die Kultur, in der das sexuelle Begehren Ausdruck findet. Das HIV hat sich unter schwulen Männern in Amerika vermehrt, weil dort Analverkehr mit vielen Partnern weit verbreitet war. Und das Virus hat die thailändische Armee infiziert, weil die Soldaten es gewohnt waren, zu Prostituierten zu gehen. In Bombay, wo ein explosionsartiger Anstieg von Aids-Fällen zu beobachten ist, verlangen Hausbesitzer in den Elendsvierteln – sogenannte slum lords – Geschlechtsverkehr als Mietzahlung. Abgesehen vom intravenösen Drogengebrauch treiben überall die sexuellen Vorrechte der Männer die Epidemie voran.
Untersuchungen aus vielen verschiedenen Kulturen zeigen, dass Männer im Durchschnitt mehr Partner haben als Frauen und öfter Sex außerhalb der Ehe praktizieren. Weil der Mann in die Frau ejakuliert, geben Männer das Virus leichter weiter, während für Frauen die Wahrscheinlichkeit höher ist, dass sie sich mit dem Virus infizieren, ohne es weiterzugeben. Dass bisher mehr Männer als Frauen infiziert sind, liegt unter anderem daran, dass eine größere Zahl an Sexualpartnern auch eine erhöhte Gefahr der Ansteckung bedeutet. Neuen Statistiken zufolge jedoch sind in Afrika südlich der Sahara mittlerweile 55 Prozent aller infizierten Erwachsenen Frauen.
Natürlich gibt es in Afrika Tausende von Kulturen, von denen einige das sexuelle Verhalten strengen Regeln unterwerfen. Dennoch sind für viele Gesellschaften südlich der Sahara genau jene Geschlechterrollen typisch, für die die Praxis des dry sex beispielhaft ist: Frauen können über Fragen des Geschlechtsverkehrs nicht als Gleiche verhandeln und sind gezwungen, eine Infektion zu riskieren, um die Wünsche des Mannes zu befriedigen. Tatsächlich hat die Frau fast keine Möglichkeiten, den Forderungen des Mannes etwas entgegenzusetzen. Diese eklatante Ungleichheit "ist Teil unserer Kultur", sagt Mhlolo, "und unsere Kultur ist ein Teil der Ursache dafür, dass sich das HIV so ausbreitet."
Afrika ist heutzutage weit entfernt von den traditionellen, festgefügten Gemeinschaften, die die Freiheit des Mannes sehr wohl einschränkten – vor allem auf den Verkehr mit der Ehefrau. Afrika unterscheidet sich aber auch deutlich vom Westen, wo Frauen vergleichsweise viel Macht ausüben können. Große Teile des gegenwärtigen Afrika befinden sich in einem Zwischenzustand, in dem die Nachteile von beiden Welten zusammenkommen. Das HI-Virus hat diese Situation nutzen können. Zum Beispiel denken Männer weiterhin in Kategorien der traditionellen Polygamie, aber wenn sie heute viele Partnerinnen haben, findet dies im Rahmen kommerzieller Sexualität statt oder dadurch, dass ein älterer, zahlungsfähiger Herr eine junge, im Regelfall mittellose Frau aushält. Diese Lebensformen tragen anders als traditionelle Ehen meist nicht zum gesellschaftlichen Zusammenhalt bei.
Doch Aids erzwingt einen Wandel in den afrikanischen Kulturen. Und da sich das Virus vor allem durch heterosexuellen Geschlechtsverkehr ausbreitet, werden die größten gesellschaftlichen Veränderungen, die die Epidemie bewirkt, vielleicht in den Beziehungen zwischen Männern und Frauen stattfinden. Frauen könnten infolge der Epidemie an Macht gewinnen – starke Kräfte wirken in diese Richtung. Aber es sind auch Tendenzen in die entgegengesetzte Richtung zu beobachten – etwa die Forderung, den Frauen wieder strengere Beschränkungen aufzuerlegen, um die traditionellen afrikanischen Kulturen zu stärken und Aids einzudämmen.
Der Kampf dreht sich nicht nur um sexuelle Praktiken, sondern auch um die ökonomischen und gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen die Frau unterdrückt ist und die eine Ausbreitung des HIV begünstigen. Einem Bericht der Weltbank zufolge ist die Analphabetenrate unter Frauen südlich der Sahara fast um die Hälfte höher als unter Männern. Viele afrikanische Mädchen können nicht zur Schule gehen, weil sie mit zeitaufwändigen Arbeiten wie dem Herantragen von Wasser und Feuerholz beschäftigt sind. Tatsächlich arbeiten afrikanische Frauen länger als Männer – und härter. Studien aus Ghana und Tansania zeigen, dass dort Frauen auf dem Lande viermal soviel transportieren wie Männer und die Lasten dabei meist auf dem Kopf tragen. Andere Untersuchungen weisen nach, dass Frauen bis zu 90 Prozent des Hackens und Jätens übernehmen. Dennoch verdienen Frauen weit weniger als Männer und verfügen selten über Eigentum. In Kamerun zum Beispiel sind weniger als 10 Prozent aller Grundstückstitel im Besitz von Frauen.
Auch mangelt es afrikanischen Frauen an Entscheidungsbefugnis. Erst in diesem Jahr hat der Oberste Gerichtshof von Simbabwe befunden, dass Frauen in der Familie keinen anderen Status und nicht mehr Rechte haben als ein "jüngerer Mann" – das heißt üblicherweise: ein Heranwachsender. Wenn eine Ehefrau eine kurze Reise machen möchte, erklärt Thoko Matshe, die Direktorin des Women’s Resource Center in Simbabwes Hauptstadt Harare, "dann muss sie sich mit ihrem Mann hinsetzen und ihn in gute Stimmung bringen, damit sie ihn dann fragen kann, ob sie gehen darf. Wenn man nicht einmal darüber gleichberechtigt verhandeln kann, geht das erst recht nicht in Fragen des Sex."
In den meisten traditionellen Kulturen südlich der Sahara bezahlen die Männer für ihre Ehefrauen einen Brautpreis; damit verbinden sie das Recht, in der Beziehung zu bestimmen. Einen Begriff von Vergewaltigung in der Ehe gibt es im größten Teil Afrikas nicht. Selbst die sogenannten aunties (Tanten), die traditionellen Eheberaterinnen für viele junge afrikanische Frauen, erklären, dass die Frauen sich ihren Männern sexuell nicht verweigern dürfen. Thoko Ngwenya vom Musasa- Projekt in Simbabwe, das Gewalt in der Familie bekämpft, beschreibt die vorherrschende Denkweise so: "Wenn ein Mann erst einmal lobola" – so heißt in mehreren Sprachen des südlichen Afrika das Brautgeld – "bezahlt hat, dann zwingt er seine Frau nicht zum Geschlechtsverkehr. Der ist ganz einfach sein Recht."
Sexuelle Unterordnung wird den Frauen eingetrichtert, lange bevor sie erwachsen sind. Mädchen des Shona-Volkes beispielsweise werden herkömmlicherweise dazu angehalten, ihre Schamlippen lang zu ziehen, damit die Männer während des Vorspiels besser damit spielen können. Gleichzeitig ist es Frauen jedoch nicht erlaubt, den Penis des Ehemanns zu berühren. In einigen Kulturen wird sogar der sexuell sensibelste Teil des weiblichen Körpers, die Klitoris, durch eine Beschneidung entfernt. "Für Frauen", sagt Caroline Maposphere vom Women and AIDS Support Network in Simbabwe, "gibt es keine Sexualität, sondern nur Fruchtbarkeit."
Paradoxerweise kann der Umstand, dass Frauen nicht aktiv und gleichberechtigt am Liebesleben mitwirken dürfen, indirekt zur Ausbreitung des Virus beitragen. Eliot Magunje leitet Beratungsgruppen für Männer in The Centre. Er hört immer wieder Männer darüber klagen, dass die Passivität ihrer Ehefrau "die Freude am Sex zerstört. Sie liegt einfach nur da wie ein Holzklotz. 'Warum treibt es uns nach draußen?', fragen die Männer. 'Weil eine Prostituierte genau das bietet, was ich will. Meine Frau ist nur fürs Kochen und Waschen da.'"
Natürlich sind die Beziehungen zwischen Männern und Frauen im wirklichen Leben komplizierter. Jane, eine Frau aus Simbabwe, die darum bittet, dass ihr Nachname ungenannt bleibt, sagt: "Wenn der Ehemann Sex will, hat man als Frau nicht das Recht, ihm diesen Wunsch abzuschlagen. Aber in der Praxis redet man miteinander und versteht sich." Das Problem ist jedoch, dass die Verständigung unter Bedingungen stattfindet, die den Mann eindeutig bevorteilen. Jane zum Beispiel wusste, dass ihr Mann nebenher eine Freundin hatte, und ging so weit, ihren Mann zur Benutzung eines Kondoms aufzufordern. "Mein Mann gab zur Antwort, 'Ich kann bei meiner Frau doch kein Kondom benutzen'", erinnert Jane sich. "Ich glaube, das ist der Grund, weshalb ich mich infiziert habe." Sie ist kein Einzelfall. Eine Studie aus Simbabwe hat herausgefunden, dass mehr als die Hälfte aller Frauen mit einer Geschlechtskrankheit sich diese von ihrem Mann zugezogen haben. Die Ehe, sagen viele Aids-Aktivisten, ist ein Risikofaktor.
Mittlerweile wird hier und da berichtet, dass die Praxis des dry sex unter jungen gebildeten Leuten in den Städten allmählich zurückgeht. Zugleich sind jedoch laute Appelle zu vernehmen, das westliche Verständnis der Geschlechterrollen abzulehnen, weil dieses den Mann seiner Männlichkeit beraube. Sogar in den Großstädten, sagt Matshe, "steht es 50 zu 50". Zudem leben die meisten Afrikaner nach wie vor in ländlichen Gebieten oder kleinen Städten. Und die sexuellen Gewohnheiten zu ändern, ist niemals leicht – schon deshalb, weil es grundlegende Fragen der Identität und der Geschlechterrollen berührt.
Es überrascht nicht, dass Männer dry sex mögen – das geschwollene Gewebe macht die Vagina kleiner, sodass der Mann sich größer fühlt. Außerdem empfinden manche Männer (und Frauen) die Scheidenflüssigkeit als abstoßend. Andere wiederum mögen die Geräusche nicht, die feuchter Geschlechtsverkehr mit sich bringt. Viele Männer bringen eine Vagina, die besonders feucht und weit ist, gar mit Untreue in Verbindung.
Aber auch manche Frauen bevorzugen dry sex. Mhakeni hat nur deshalb damit aufgehört, weil sie HIV-positiv ist und nicht riskieren will, dass sie Geschlechtskrankheiten bekommt, die ihr Immunsystem schwächen könnten. Trotz der Schmerzen, die dry sex verursacht, zieht sie diese Form des Geschlechtsverkehrs vor. "Es gehört zu unserer Kultur", erklärt sie. Und dann führt sie noch einen Grund an, den Wissenschaftler und Aids-Aktivisten nach eigener Auskunft immer wieder zu hören bekommen: "Wenn wir keine Kräuter benutzen, suchen sich unsere Männer eine Andere." Mhakeni verkauft die betreffenden Kräuter sogar, und obwohl sie ihre Kundinnen über die Risiken aufklärt, wird sie die Ware los. "Sie sagen, 'Es ist okay, wenn ich von meinem Mann HIV bekomme. Wenigstens bin ich dann noch verheiratet.'"
Fanuel Adala Otuko sieht genau so aus, wie man sich den Stammesführer der Luo in Kenia vorstellt: steinalt und kerzengerade. Außerdem fehlen ihm sechs untere Zähne, die im Alter von zwölf Jahren als Teil eines Initiationsritus gezogen wurden. "Das ist sehr schmerzhaft", sagt er, "aber man darf nicht weinen."
Die Luo ziehen ihren Kindern zwar nicht mehr die Zähne. Dafür wollen Otuko und weitere Älteste aber einige andere Traditionen ihres Stammes wiederbeleben, ganz besonders die, von denen sie sich erhoffen, dass sie die Ausbreitung des HIV verlangsamen werden. Das Virus hat unter ihrem Volk furchtbare Opfer gefordert. Das Gebiet der Luo gehört in Kenia zu den von der Epidemie am stärksten betroffenen Regionen. In Kisumu, der Stadt, in der Otuko lebt, liegt die Infektionsrate unter Erwachsenen über 20 Prozent.
Überall in Afrika beginnen Aids-Aktivisten, Verhaltensweisen von Männern aufs Korn zu nehmen. In der Gegend um Kisumu sind die Fischhändler an den Ufern des Viktoriasee die Hauptzielgruppe, denn sie sind dafür bekannt, dass sie junge Mädchen mit Geld anlocken. Doch Otuko und andere Älteste des Luo-Volkes konzentrieren sich auf die Frauen. Zum Beispiel wollen die Ältesten das Ideal der Jungfräulichkeit bei Frauen wieder einführen. Früher bekamen Jungverheiratete am Nachmittag nach der Vermählung Besuch von einem Dutzend oder mehr verheirateten Frauen, die nach Blutspuren suchten, denn die galten als Beweis für die Jungfräulichkeit der Frau. Sie prüften auch den Mann – allerdings nicht auf Jungfräulichkeit, sondern darauf, ob er ausreichend Potenz besaß. Sie "überzeugen sich, dass sie einen normalen Mann hat", erklärt Otuko, "einen Mann, der in der Lage ist, mit ihr Geschlechtsverkehr zu haben."
Die Ältesten planen darüber hinaus auch Schritte, die sehr viel rigoroser sind. Entgegen den Empfehlungen der meisten Berater für öffentliche Gesundheit wollen sie HIV-positive Frauen der Allgemeinheit bekannt machen und ihnen Beschränkungen auferlegen. "Sie sollten kontrolliert und in ihrem Heimatgebiet unter Quarantäne gestellt werden", sagt Otuko. Erst auf Nachfrage sagt er, dass diese Einschränkung auch Männer treffen könnte. "Aids ist eine ernste Sache", sagt er. "Es gibt keine Heilung. Die Leute sollten daher Kontakte zu infizierten Frauen meiden, ganz besonders sexuelle Kontakte." Genau da liegt der wunde Punkt. Denn zu den hochgehaltenen Traditionen der Luo gehört der Geschlechtsverkehr mit Witwen – und Aids hat dazu geführt, dass es sehr viele Witwen gibt.
Wie in vielen Kulturen des östlichen und südlichen Afrikas praktizieren die Luo einen Brauch, der verschiedentlich als Leviratsehe oder öfter noch als Witwenvererbung bezeichnet wird: Wenn ein verheirateter Mann stirbt, ehelicht einer seiner Brüder oder Vettern die Witwe. Dieser Brauch garantierte, dass die Kinder weiter dem Klan des verstorbenen Ehemanns angehörten – schließlich hatte er einen Brautpreis für die Frau bezahlt; außerdem waren die Witwe und ihre Kinder auf diese Weise versorgt. Und wenn der "Erbe" die Witwe zu sich nimmt, reinigt der Geschlechtsverkehr sie, so glaubt man, von den Geistern des Todes. Weigert sich die Frau, den Erben zu akzeptieren, dann bringt sie chira – Unglück – über den gesamten Clan. Falls der Mann der Witwe an Aids gestorben ist, kann sie natürlich leicht das Virus an ihren Vormund weitergeben. Millicent Obaso, ein Angehöriger der Luo, der als Gesundheitsberater für das Rote Kreuz arbeitet, erzählt: "Es gibt hier Familien, in denen infolge der Witwenvererbung alle Männer gestorben sind."
Die Gefahr für die Erben ist nur ein Grund, weshalb Aids die Fortführung dieser Tradition zunehmend schwieriger macht. Eigentlich hat der neue Mann die ererbte Witwe zu unterstützen, aber selbst die Ältesten geben zu, dass die Erben eine Witwe oft nur zum sexuellen Vergnügen zu sich nehmen oder weil sie auf deren Eigentum aus sind. Nach den traditionellen Regeln muss der Erbe bereits eine Ehefrau haben. Armut macht es ihm aber oft unmöglich, eine zweite Familie zu ernähren, egal wie wohlmeinend er sein mag.
Anna Adhiambo steht auf dem Grundstück, wo sie und ihr Mann früher gewohnt haben: auf einem fruchtbaren Hang im Gebiet des Dorfes Ngeri, der zu den blauen Weiten des Viktoriasees abfällt. Sie ist zum ersten Mal wieder hier, seit die Familie ihres verstorbenen Mannes sie vor zwei Jahren von dem Grundstück vertrieben hat. Als ihr Mann 1996 an Aids starb, wurde sie an seinen Cousin vererbt. Sie ging davon aus, dass er ihr helfen würde, die drei Kinder zu ernähren und zur Schule zu schicken. (Der Schulbesuch ist in Kenia wie in den meisten afrikanischen Ländern nicht kostenlos.) Aber der Cousin ist Fischer und hat eine eigene Familie. "Jedes Mal, wenn er vom See kam", erinnert sich Anna, "sagte er, er habe nicht genug. Immer das gleiche Lied." Es gab häufig Streit zwischen den beiden. Fünf Monate, nachdem sie vererbt worden war, beschloss Anna, sich zu trennen.
Das zog rasche und harte Folgen nach sich. Eine Gruppe von Männern aus dem Klan teilte ihr mit, sie und ihre Kinder müssten am nächsten Tag verschwinden. Sie erinnert sich, dass die Männer sie ochot nannten, eine Hure, die "von einem Mann zum anderen geht." Als sie die Männer bat, sie doch "bitte in meinem Haus allein zu lassen", gab, so erzählt Anna, einer ihrer Schwager zurück: "Das ist unser Haus. Was fällt dir ein, mir so frech zu antworten. Wenn du das noch mal machst, schlage ich dich."
Consolata Atieno, Annas Schwiegermutter, hat gerade die Wände einer neuen Hütte glatt gestrichen; der klebrige Lehm trocknet an ihren Händen und bröckelt, während sie redet. Anna "hat sich gegen die Regeln der Tradition gestellt, sie hat ein Tabu gebrochen", sagt sie, daher "mussten wir sie und ihre Kinder wegjagen. Wir waren der Ansicht, die Möbel und Sachen in dem Haus gehörten meinem Sohn, also haben wir sie uns genommen. Anna hat nichts davon gekauft. Auch das Land haben wir uns zurückgeholt. Einen Teil haben wir meinen beiden anderen Söhnen gegeben und einen Teil verkauft. Nach unserer Tradition ist die Frau Eigentum der Familie ihres Mannes. Er hat schließlich einen Brautpreis für sie bezahlt."
Da sie keinen Ackerbau mehr betreiben kann, verdient Anna jetzt weniger als umgerechnet 20 Mark im Monat mit Gelegenheitsarbeiten in einem nahen Städtchen. Die Akado Women’s Group, eine örtliche Hilfsorganisation, unterstützt Anna, aber trotzdem geht bis jetzt nur eines ihrer drei Kinder zur Schule. Fragt Consolata Atieno sich nicht, ob ihre Enkelkinder leiden? "Als Anna diese Entscheidung traf, musste sie wissen, was die Konsequenzen sein würden." Doch wenn Anna nicht ausreichend für ihre Kinder sorgen kann, werden diese einem größeren Risiko ausgesetzt sein, sich ihrerseits mit HIV zu infizieren. Eine Studie in Sambia hat zum Beispiel festgestellt, dass Mangel an Bildung bei Frauen die Wahrscheinlichkeit, sich eine HIV-Infektion zuzuziehen, um das Vierfache erhöht.
Otuko und die Ältesten sind der Meinung, dass die Leviratsehe Familien wie die von Anna stärkt. Sie wollen den Brauch jedoch seiner sexuellen Komponente entledigen und ihn stattdessen in eine, wie sie es nennen, "symbolische Vererbung" umwandeln. Sie verweisen darauf, dass eine nicht sexuelle Reinigung schon früher bei älteren Witwen praktiziert wurde, welche die Menopause bereits überschritten hatten. In Teilen Sambias und Simbabwes geht man mehr und mehr zu solchen symbolischen Riten über.
Oriare Nyarwath, ein Philosophieprofessor an der Universität von Nairobi, glaubt, dass eine Witwenvererbung, die den sexuellen Teil ausschließt, diesen Brauch "auf würdevolle Weise zum Verschwinden bringen könnte, ohne dass die Menschen das Gefühl hätten, ihrer Kultur beraubt zu werden". Aber, bemerkt er, auch eine symbolische Leviratsehe würde immer noch bedeuten, dass Frauen den Männern untergeordnet und von ihnen abhängig sind. "Die Kultur ist patrilinear und patriarchalisch", sagt er. "Die Frau zieht in das Haus des Mannes, sie muss sich seiner Lebensweise anpassen. So ist sie dem Mann zwangsläufig nicht ebenbürtig."
Die verheerendste Form der Ungleichheit ist die Armut. Sie ist ein Phänomen, das sich keineswegs auf Afrika beschränkt. Von den 1,3 Milliarden Menschen, die in größter Armut leben, sind 70 Prozent Frauen – und die meisten von ihnen kämpfen mit den gleichen grundlegenden Problemen wie afrikanische Frauen. "In vorindustriellen Gesellschaften sind Frauen an die Aufgabe gefesselt, für Nachwuchs zu sorgen", sagt Geeta Rao Gupta, die Präsidentin des International Center for Research on Women. Laut den zahlreichen Studien des ICRW zu Aids berichten Frauen aus Lateinamerika, Asien und Afrika, dass sie es nicht wagen, ihren Männern gegenüber auf geschütztem Geschlechtsverkehr zu bestehen oder sich gegen schmerzhafte Sexualpraktiken zu wehren aus Angst, verlassen zu werden und ins Elend abzurutschen. In einer 19 Länder umfassenden Untersuchung hat der ICRW herausgefunden, dass die HIV-Infektionsrate umso höher liegt, je niedriger der soziale Status der Frauen ist – und das ist nicht verwunderlich.
Es gibt nur wenige Orte, wo die Armut schlimmer ist als in den Slums von Nairobi, diesen riesigen Gehegen aus Wellblechhütten mit offenen Abwasserkanälen und unbefestigten, vermüllten Straßen. In Korogocho, einem der armseligsten und schäbigsten Viertel, führt uns das Labyrinth enger Gassen in eine Hütte, die aus einem einzigen Raum besteht. Die Gerüche des Gemüseeintopfs, der auf einem offenen Feuer kocht, kämpfen mit dem von draußen hereindringenden Abwassergestank. In dieser Behausung lebt Mary, die gebeten hat, ihren vollem Namen nicht zu nennen. Zwei Babys – Marys siebtes Kind und ihr erstes Enkelkind – liegen auf dem Bett.
Vor einer Woche erst hat einer von Marys Freiern – die zum Teil nur 75 Cents für Sex bezahlen – sie ins Gesicht geschlagen, als sie ihn aufforderte, ein Kondom zu benutzen. "Ich esse ein Bonbon nicht mit Papier", sagte er. Mary erinnerte sich für einen Augenblick an jenen Mann, der sie vor acht Jahren so brutal zusammenschlug, dass sie zwei Tage lang nicht arbeiten konnte, und ließ ihren jüngsten Kunden gewähren. Der wird sein Vergnügen möglicherweise mit Aids bezahlen, denn Mary ist HIV- positiv.
Mary ist nicht im Slum zur Welt gekommen, sondern in einer ländlichen Gegend hundert Kilometer von Nairobi entfernt. Dort nährt die fruchtbare rote Erde die breiten grünen Blätter der Bananenstauden, das wallende Gebüsch von Kaffeepflanzen und die gelben Büschel der Maisstängel üppig. Beth, die Mutter von Mary, sitzt in einer Hütte, deren Tür von einer Machete offen gehalten wird, und erzählt, warum ihre Tochter weggegangen ist. Ihre Erzählung entspricht haargenau dem, was Mary selbst zuvor berichtet hat, ohne dass sich Mutter und Tochter abgesprochen hätten. Was die beiden Frauen über ihr Leben erzählen, ist eine Allegorie darauf, wie die Machtlosigkeit der Frauen die Aids-Epidemie anheizt.
Marys Mann "war ein Säufer", sagt Beth. Er schlug seine Frau praktisch jede Woche, verbrannte ihre Kleidung und nahm ihr das Essen weg. Einmal kam ihm, als er gerade auf Mary eintrommelte, eins der Kinder in die Quere. Der Mann schleuderte das siebenjährige Mädchen buchstäblich fort. Es schlug auf einem Stein auf und verletzte sich die Lunge. Zwei Wochen lang lag das Kind im Krankenhaus. Danach floh Mary zu ihren Eltern.
Zuerst nahm ihr Vater, der 1999 starb, sie freundlich auf. Aber nach ein paar Tagen wurde ihm klar, dass die Tochter mit ihren Kindern eine Menge zusätzlicher Esser in seinem Haus bedeutete. Mary erinnert sich: "Mein Vater sagte zu mir, 'Ich habe meine eigenen Kinder, du bist eine Last für mich. Pack deine Sachen und geh.'"
Frauen wie Mary gibt es zu Tausenden in Nairobi, ganz zu schweigen vom Rest Afrikas. Wenn die Ausbreitung von Aids wirklich eingedämmt werden soll, muss man diesen Frauen mit sehr viel mehr helfen als mit Aufklärung über die Krankheit. "Die Frauen, mit denen ich arbeite, sagen mir, dass sie lieber morgen an Aids sterben, als heute zu verhungern", sagt Ann Waweru, die Direktorin des Voluntary Women’s Rehabilitation Centre; diese Organisation hilft die Prostituierten, darunter Mary, bei der Suche nach einer anderen Arbeit. Das ist nicht einfach. "Die meisten haben keine Ausbildung und kennen niemanden, von dem sie einen Kredit bekommen könnten, um ein eigenes Geschäft aufzubauen. Ein Mann hat fast nie Kinder am Hals, das heißt er kann Gelegenheitsarbeiten annehmen, 20 Schilling verdienen und sich damit über Wasser halten. Die meisten Frauen, um die wir uns kümmern, haben jedoch Kinder. Die Armut zwingt sie, Sex zu verkaufen."
Ganz nach den Regeln des Kikuyu-Volkes bekamen Marys Brüder jeder ein Stück Ackerland. Als weibliches Kind erhielt Mary jedoch überhaupt nichts. Zuerst versuchte sie, in ihrem Dorf zu bleiben, und verdiente den Lebensunterhalt für sich und ihre Kinder, indem sie hier und da kleinere Arbeiten machte. Zum Beispiel zog sie Wasser aus dem Brunnen herauf oder half anderen Leuten, die Felder zu bestellen. Der Vater war jedoch unzufrieden mit ihr, und immer wieder schlug er sie und ihre Mutter. Nach sechs Monaten floh Mary mit ihren Kindern und ansonsten mit praktisch leeren Händen nach Nairobi.
In der Stadt verbrachte sie die erste Nacht im Haus eines Freundes, der ihr sagte: "Ich werde dir zeigen, wie du Geld verdienen kannst." Mary bediente in jener Nacht ihren ersten Freier. Und sie erinnert sich: "Ich war glücklich, weil ich Geld hatte, um meinen Kindern etwas zu essen zu geben."
aus: der überblick 03/2000, Seite 31
AUTOR(EN):
Mark Schoofs:
Der amerikanische Journalist Mark Schoofs hat für seine achtteilige Serie über Aids in Afrika im Jahr 2000 den Pulitzer-Preis erhalten, einen der bedeutendsten Journalistenpreise. Die Reportagen sind das Ergebnis Hunderter von Interviews, die über einen Zeitraum von sechs Monaten in neun Ländern geführt wurden. Die Reportagen wurden von Michael Wachholz für den überblick übersetzt. Sie sind erstmals auf Englisch in der in der New Yorker Zeitung Village Voice erschienen.