Von der Gefahr medialer Provinzialisierung
Braucht das allgemeine Publikum in globalisierten Zeiten noch eine entwicklungspolitische Zeitschrift? Im Verlauf des langen Abschieds vom "überblick" kam immer wieder auch diese Grundsatzfrage auf. Die spontane Reaktion einer professionellen wie privaten Schmökerin ist erst einmal Trotz: Brauchen kann man jede Zeitschrift, solange sie nicht verbohrt ist oder komplett langweilig oder nur aus aufgeschäumten Anzeigen besteht. Denn jedes Blatt birgt auch die Chance, zielstrebige oder zufällige Leser mit Neuigkeiten, Meinungen, Anstößen zu konfrontieren; Lernprozesse in Gang zu setzen, und sei es mit einem einzigen Artikel.
von Christiane Grefe
Man blättert und will das Heft gerade weglegen, da stolpert man über etwas nicht Gewusstes, Gedachtes, anderswo nicht Gelesenes. Es lebe die Perspektivenvielfalt! Überflüssig also: Für wen? Ab welcher Auflage? Wer definiert das? Die meisten Zeitschriften sollten sowieso unter Artenschutz stehen. Aber das ist eine sehr allgemeine Bemerkung.
Die konkretere, auf Entwicklungspolitik und den "überblick" bezogene Antwort indes hieße erst recht: Welche Frage! Gerade jetzt braucht dieses Politikfeld eigene Foren und Medien, und wiederum möglichst vielfältige: Jetzt, wo sich die Weltgemeinschaft nach über 15 Jahren einer ungebremst marktgefügigen Globalisierung die Wunden leckt und den Staat wieder entdeckt, und damit die Politik – also auch die Entwicklungspolitik. Jetzt, da die tektonischen Machtverschiebungen, die der Aufstieg der Schwellenländer auslöst, ganz neue entwicklungspolitische und institutionelle Fragen aufwerfen. Da die offiziell erklärte ownership der Empfängerregierungen über Entwicklungsgelder neue Ambivalenzen hervorbringt und eine wachsende Beratungsindustrie; da der Armutsbekämpfung droht, wieder hinter wirtschaftliche Interessen gedrängt zu werden, namentlich die Sicherung der Rohstoffzufuhr; da es Ressourcen und Lebensräume zu retten gilt, globale Risiken zu bewältigen, globale Sicherheitspolitik und demokratisches globales Regieren zu gestalten. Um nur einige dringliche, kontroverse und debattenträchtige Fragen aufzulisten.
Aber, so lautet der Einwand: All diese Probleme werden doch längst in der breiten Öffentlichkeit der Tages- und Wochenzeitungen diskutiert. Das stimmt. Und es stimmt doch nur bedingt.
Denn deren Berichterstattung über Globalisierungs- und Entwicklungsfragen ist meist weder kontinuierlich noch umfassend. So werden beispielsweise im umgekehrt proportionalen Verhältnis zu den sich enger verflechtenden wirtschaftlichen und politischen globalen Beziehungen Korrespondentennetze aus Kostengründen derzeit eher ab- als ausgebaut. Und selbst wenn immer mehr Tageszeitungen Hintergrund- und Reportageseiten eingeführt haben, auf denen ausführlich von Bauernselbstmorden in Indien oder der Ölpolitik eines Hugo Chávez erzählt wird: Solche Berichte müssen doch meist den gängigen Aufmerksamkeits-Kriterien entsprechen und tagesaktuelle News, Personalisierung, Spannung, Konflikte oder süffigen Lesegenuss bieten.
Deshalb greifen die Zeitungen auch fast immer die gleichen Themen auf, und so vieles fällt raus: Nur eine Zeitschrift wie "der überblick" kann beispielsweise über die Strecke eines ganzen Heftes die spannende Wahrnehmungsgeschichte der deutsch-tansanischen Beziehungen rückspiegeln, mit all ihren Projektionen, Irrtümern, Korrekturen – und daraus zu ziehenden Lehren. Wer sonst beschäftigte sich regelmäßig über Seiten mit afrikanischer und südamerikanischer Literatur? Wer fragte nach Themen von "latenter" Brisanz? Auch eine Debatte wie jene über die Reform der entwicklungspolitischen Institutionen oder das Für und Wider der Budgethilfe findet in den Tageszeitungen kaum statt, weil sie als zu fachspezifisch gilt, zu komplex – während sie im "überblick" in der ganzen Breite geführt wurde.
Ausnahmen, und dann meist eher randständig im Wortsinn in flachen Kolumnenspalten ganz unten auf den Seiten, sind in den Tagesmedien zudem Stimmen aus dem Süden. Chinesische, afrikanische oder bolivianische Perspektiven wiederzugeben, und das möglichst auch noch in ihren internen Kontroversen und unterschiedlichen Blickwinkeln vom Gewerkschafter bis zum Völkerrechtler, gewinnt aber in der zusammenwachsenden wie gleichzeitig auseinanderspringenden Weltgesellschaft in hohem Maße an Bedeutung. Je näher wir uns kommen, desto deutlicher wird uns, wie wenig wir einander noch kennen. Unsere Kulturen, besonderen Empfindlichkeiten, sozialen Erfahrungen und Probleme; unsere Lösungsideen. Auf Analysen und Meinungen von Süd-Autoren ist man in deutscher Medienlandschaft praktisch nur im "überblick" gestoßen.
Kontinuität macht zudem aufmerksam, weckt Gespür. Früher als anderswo wurden im "überblick" Themen aufgegriffen, die heute die Schlagzeilen bestimmen: Peacekeeping, die innere Sicherheit als Herausforderung für die Entwicklungspolitik, die Schwierigkeiten der UN-Reform, die wachsende und widersprüchliche Bedeutung der Pfingstkirchen für die Gesellschaften Afrikas, Südamerikas, auch Asiens. Oder jüngst die kulturell wie ökonomisch wachsende Macht der Supermärkte.
Auch in den Tageszeitungen arbeiten Redakteure mit entwicklungspolitischer Kompetenz. Doch Zwei- oder Dreispalter erfordern eben "Reduktion von Komplexität". Umso wichtiger sind Medien wie "der überblick", die mehr Platz bieten, um auch scheinbar exotische Themen erschöpfend zu behandeln, sozusagen auf der Zwischenetage zwischen Journalismus und Wissenschaft. Sie können vielleicht keine Massenblätter sein. Aber, analog zu "viralen" Werbestrategien, können sie Multiplikatoren mit ihrem Wissen anstecken und interessieren.
So habe auch ich im "überblick", der stets mit höchster journalistischer Professionalität, Neugierde, Kompetenz und Erfahrung konzipiert wurde, immer mal Themen "geklaut". Und bei der ersten Nachricht, dass das Blatt gefährdet sei, spontan gedacht: hoffentlich ist das kein weiterer Schritt in Richtung einer medialen Provinzialisierung.
aus: der überblick 04/2007, Seite 76
AUTOR(EN):
Christiane Grefe
Christiane Grefe ist Reporterin bei der Wochenzeitung "Die Zeit".