In Argentinien gelten Gesetze nicht immer, aber immer öfter
Argentinier sind traditionell Individualisten. An Verkehrsregeln oder Gesetze halten sie sich nur, wenn es opportun erscheint. Doch ein demokratischer Staat kann nur funktionieren, wenn Regeln und Gesetze für alle gelten und sich auch alle daran halten. Während die Bevölkerung Argentiniens sich allmählich auf einen solchen Konsens zubewegt, wird durch die zunehmende Ungleichheit infolge der Globalisierung die Basis für solche Übereinkunft brüchig.
von Peter Waldmann
Die Argentinier haben sich nie mit dem universellen Geltungsanspruch von Gesetzen anfreunden können. Gesetze werden von ihnen überwiegend als Programmsätze verstanden, als Direktiven, nach denen man sich im Allgemeinen richten sollte; doch dass Gesetze prinzipiell ausnahmslos gelten, dass ihnen jeder, ohne Ansehen der Person und ihres Einflusses, unterworfen sein soll, das hat den Meisten in diesem Land mit seinem Kult des Individualismus nie eingeleuchtet. Die Bereitschaft, sich staatlich sanktionierten Normen zu unterwerfen, steht im Zweifel hinter der Verfolgung persönlicher Vorteile zurück.
Über lange Zeit hinweg haben argentinische Intellektuelle die laxe Handhabung der Gesetze als ein vergleichsweise harmloses Problem betrachtet im Vergleich zur Außenabhängigkeit des Landes, der Ineffizienz oder repressiven Haltung seiner Politiker und den Spannungen zwischen den sozialen Klassen. In jüngerer Zeit zeichnet sich hier aber ein gewisser Wandel ab. Er hängt mit der Erkenntnis zusammen, dass die Einführung der Demokratie ohne die ergänzende Durchführung rechtsstaatlicher Reformen Stückwerk bleibt und dass nach westlichem Verständnis unverzichtbarer Bestandteil des Rechtsstaats die Gleichheit der Rechte und Pflichten aller Bürger ist, mit anderen Worten ihre Gleichheit vor dem Gesetz.
Zu Beginn der 1990er Jahre hob der argentinische Sozialwissenschaftler C. Nino die Schlüsselbedeutung genereller rechtsstaatlicher Normen für das Funktionieren eines liberal-demokratischen Gemeinwesens hervor. Rechtsstaatliche Normen seien gewissermaßen der Zement der Gesellschaft, ohne den sie auseinander fallen würde. Ähnlich mahnte der argentinische Sozialwissenschaftler Guillermo O'Donnell wiederholt an, dass die demokratischen Institutionen, über die rein formell fast sämtliche lateinamerikanischen Staaten verfügen, rechtsstaatlich unterfüttert werden müssten. Diesen Institutionen bleibe eine nachhaltige Wirkung versagt, solange nicht die zivilrechtliche Gleichheit sämtlicher Bürger, unabhängig von ihrem sozioökonomischen Status, gewährleistet ist. Niemand stehe über den Gesetzen. Diese anspruchsvollen Maßstäbe waren Ausgangspunkt für eine scharfe Kritik der argentinischen Rechtswirklichkeit. O'Donnell spricht - wobei er sich allerdings nicht nur auf Argentinien, sondern auf ganz Lateinamerika bezieht - von "unrule of the law", Nino bezeichnet Argentinien im Titel seines Buches als "Land am Rande der Gesetze". Im Untertitel charakterisiert er den Zustand chronischer Unordnung, der in diesem Lande herrsche, unter Anlehnung an den französischen Klassiker der Soziologie, Émile Durkheim, als anomisch.
Wie kommt es zu so scharfen und besorgten Urteilen? Wie äußert sich der nachlässige Umgang mit den Gesetzen in einer seit dem Ende der Militärdiktatur im Jahr 1983 relativ friedlich funktionierenden Demokratie? Und welche Gefahr birgt in diesem Zusammenhang der exzessive Individualismus? Einige Beispiele sollen das verdeutlichen.
Geradezu typisch wird das Verhältnis der Argentinier zu den Gesetzen beim alltäglichem Umgang mit Straßenverkehrsregeln vor Augen geführt. In einem gewissen Sinn lässt sich die Straße durchaus als ein Spiegel der generell in einer Gesellschaft gültigen Regeln betrachten. Die Gefahr und Unberechenbarkeit, die vom argentinischen Straßenverkehr ausgeht, sind jedem, der sich einige Zeit in Buenos Aires aufgehalten hat, nur allzu lebhaft in Erinnerung: die Dreistigkeit der Autofahrer, die den Fußgänger rücksichtslos beiseite drängen, das zähe Ringen um die Vorfahrt auf Kreuzungen, die links und rechts andere Autofahrer in rasendem Tempo überholenden Taxis, das Dauerhupen bei Staus, die wilde Manier, in der sich die Busfahrer, die ihren Zeitplan einhalten müssen, durch den Verkehr kämpfen - all das spricht für sich.
Man könnte einwenden, der Verkehr, insbesondere der Autoverkehr, laufe in allen modernen Metropolen nach vergleichbarem Muster ab; die Ähnlichkeit der Rahmenbedingungen - eine hohe Verkehrsdichte bei einem in Stoßzeiten überlasteten Straßennetz - lasse nur eine begrenzte Varianz individueller und kollektiver Reaktionsweisen zu. Dies stimmt jedoch nicht. Allein das unterschiedliche Verhalten von Fußgängertrauben an Ampeln in verschiedenen Gesellschaften - in deutschen Großstädten harren sie meistens aus, bis das Grünzeichen kommt, während sie in Lateinamerika die Fahrbahn überqueren, sobald sich eine Chance bietet - sollte ausreichen, um uns eines Besseren zu belehren.
Dabei fällt in Buenos Aires insbesondere die Verbissenheit auf, mit der an kleineren Kreuzungen der Kampf um die Vorfahrt ausgetragen wird. Die raffinierte Technik, dem von der Seite Kommenden durch ein zentimeterweises Vorrücken die Chance auf ungehinderte Durchfahrt zu nehmen; das gezielte Blockieren der Fahrbahn für die anderen, wenn man schon selbst nicht vorankommen kann, sowie das blitzschnelle Abwägen des Schadensrisikos im Falle eines Zusammenstoßes - je nach Alter der jeweils involvierten Fahrzeuge und der Robustheit ihrer Stoßstange; in all dem lassen sich Grundzüge des argentinischen Sozialverhaltens wiedererkennen: der unerbittliche Kampf um den auch noch so geringen eigenen Vorteil.
Dementsprechend traurig ist die Unfallbilanz. Die Teilnahme am Straßen-, insbesondere am Autoverkehr in Argentinien birgt ein hohes Risiko für alle Beteiligten. Laut statistischen Berechnungen sind dort Verkehrsunfälle die häufigste Todesursache für 10- bis 50-jährige. Anfang der 1990er Jahre kamen durchschnittlich 6000 Menschen pro Jahr bei einem Verkehrsdelikt um, Tendenz steigend. Argentinien nimmt damit im internationalen Vergleich hinsichtlich der Verkehrsopfer eine traurige Spitzenposition ein. Isuani errechnete für Argentinien einen Durchschnitt von 26 Verkehrstoten je 100.000 Einwohner im Jahr 1994; der Durchschnitt pro Jahr in Frankreich und Spanien betrug 19, in den USA 18, in Italien 11 und in Schweden 9.
Was sind die Ursachen für die übliche Verletzung der Verkehrsregeln? Da ist zunächst auf die unzureichende Verkehrserziehung sowie das geringe Bestrafungsrisiko bei Verkehrsdelikten hinzuweisen. Setzt der Erwerb des Führerscheins in europäischen Ländern einen erheblichen intellektuellen und praktischen Lernaufwand voraus, so kann er in Argentinien ohne größere Anstrengungen erlangt werden. Dort bringen vor allem die Eltern, Geschwister und Freunde einem Kandidaten das Fahren bei und weniger öffentlich geprüfte Fahrlehrer. Damit wird der anarchische Fahrstil bruchlos weitervermittelt. Ebenso ging die Wahrscheinlichkeit einer offiziellen Verfolgung und Bestrafung wegen eines Verkehrsdelikts lange Zeit gegen Null. Verstöße gegen die Verkehrsordnung galten gewissermaßen als Kavaliersdelikte. Die Devise lautete, jeder müsse auf sich selbst aufpassen und sei auch irgendwie selbst schuld, wenn er im Straßenverkehr zu Schaden komme. Selbst im Falle der grob fahrlässigen Tötung anderer Verkehrsteilnehmer konnte der verantwortliche Fahrer unter Umständen damit rechnen, mit einer zur Bewährung ausgesetzten Haftstrafe davonzukommen.
Das ist nach einer Gesetzesänderung von 1999 nicht mehr möglich. Da in Anbetracht des tief verwurzelten Individualismus vieler Argentinier aber schwerlich damit zu rechnen ist, dass sich alle freiwillig einer größeren Verkehrsdisziplin unterwerfen, wird das neue Gesetz Verkehrsrowdies nur dann wirksam abschrecken, wenn es auch konsequent durchgesetzt wird, wenn also die Polizei Regelverletzungen im Straßenverkehr wesentlich konsequenter verfolgt und zur Anzeige bringt, als dies bisher üblich war.
Aber auch am Beispiel der Eliten lässt sich das Verhältnis der Argentinier zu den Gesetzen illustrieren. Es hat noch keinem bekannten Politiker langfristig geschadet, in flagranter Weise gegen die bestehenden Gesetze zu verstoßen. Er mag sein Amt ungeniert zum Zwecke persönlicher Bereicherung missbraucht oder die Öffentlichkeit belogen haben, in Unehren entlassen worden sein, er mag als General unter Verletzung der Verfassung geputscht oder als Guerillaführer den gewaltsamen Umsturz der bestehenden Ordnung betrieben haben - all das reicht nicht hin, um ihn ein für alle Mal zur politischen Unperson abzustempeln. Lässt er genug Zeit verstreichen, so kann er damit rechnen, dass die Öffentlichkeit ihm den Fehler verziehen hat.
Eine abgewandelte Form des exzessiven Individualismus begegnet uns in der Gestalt des Gruppenegoismus. Im Mittelpunkt steht in diesem Fall nicht der Einzelne, sondern die jeweilige Gruppe, sei es ein Familienverband, eine Interessengemeinschaft oder ein Hobbyverein. Entsprechend wird strikt zwischen Binnenmoral und den Verhaltensmaßstäben gegenüber Dritten unterschieden. In den Genuss der Vorteile gegenseitiger Solidarität und Hilfsbereitschaft kommen nur jene, die der Gruppe angehören oder ihr irgendwie nahe stehen. Alle übrigen dürfen kaum auf solche Rücksicht zählen, sie sind gewissermaßen Freiwild; sie zu übervorteilen, fördert eher das Ansehen des einzelnen in der Gruppe - vor allem, wenn solch Verhalten dieser nützt. Dieser Gruppenegoismus ist keineswegs nur mit einer vagen Verbindlichkeit ausgestattet, sondern hinter ihm stehen handfeste Sanktionen, die jeder zu spüren bekommt, der dessen stillschweigenden Gesetzen zuwiderhandelt. Die Besonderheit Argentiniens im Vergleich zu anderen lateinamerikanischen Gesellschaften, wo wir ebenfalls Klientelismus und Beziehungswirtschaften begegnen, besteht darin, dass hier die schädliche Spielart des Gruppenpartikularismus besonders ausgeprägt ist: Wenn man schon die eigenen Pläne nicht realisieren kann, so setzt man seinen ganzen Ehrgeiz darein, rivalisierende Gruppen ebenfalls nicht zum Zuge kommen zu lassen.
Ein Beispiel für Gruppenegoismus ist ein Bestechungsskandal im Senat, der Anfang September 2000 Schlagzeilen machte. Aus dem Senat war durchgesickert, dass Stimmen von peronistische Senatoren bei der Abstimmung über die Reform des Arbeitsrechtes am 12. Mai mit je 50.000 US-Dollar gekauft worden seien. Es handelt sich um ein Gesetz, das die Probezeit bei der Neueinstellung von Arbeitnehmern verkürzt, die Unternehmen von Sozialbeiträgen entlastet und die Verhandlungsmacht der Gewerkschaften beschneidet, also eindeutig im Interesse der Arbeitgeber liegt. Dabei blieb unklar, ob die Exekutive die Staatsgelder gezahlt oder nur als Durchlaufstation für interessierte Kreise der Wirtschaft gedient hatte. Jedenfalls traten dann eine Reihe von Senatoren und hohe Regierungsfunktionäre zurück.
Der Skandal fand ein großes Echo in sämtlichen Massenmedien. Er warf ein bezeichnendes Licht auf den Senat, eines der undurchsichtigsten politischen Gremien dieses Landes. Herkömmlicherweise wurden Senatoren von den Provinzparlamenten für neun Jahre gewählt. (Als Folge der Verfassungsreform von 1994 werden die Senatoren seit 2001 für eine Amtszeit von sechs Jahren direkt gewählt; dabei gibt es gestaffelte Amtszeiten, sodass alle zwei Jahre ein Drittel der Senatoren neu gewählt wird.) Es handelt sich im Regelfall um ältere Politiker - jeder Provinz stehen drei Senatoren zu -, die das Vertrauen des Provinzgouverneurs genießen. Deshalb nehmen sie neben ihren gesetzgeberischen Funktionen meist unmittelbar die Interessen ihrer Provinz wahr. Zu ihren wichtigsten Aufgaben gehört es, Sonderzuteilungen für die jeweilige Region auszuhandeln: Subventionen für deren Wirtschaft, Staatsaufträge, Zuschüsse für die Rentenkassen. Daneben versäumen sie es nicht, auch für sich selbst zu sorgen, indem sie untereinander Diplomatenpässe, Reisen, Angestellte und Gehaltszuschläge verteilen. Wie es hieß, wurden die fragwürdigen Praktiken der Hohen Kammer von einigen ihrer Mitglieder weniger aus moralischer Entrüstung öffentlich zur Sprache gebracht sondern wohl eher, weil nach einer internen Kräfteverschiebung manche früher mit satten Pfründen Bedachte nunmehr leer auszugehen drohten.
Die angeführten Beispiele illustrieren allerdings nur eine Seite der argentinischen Gesellschaftskultur. Es gibt aber auch eine andere Seite; sie erschließt sich, wenn man den Blick weglenkt von den staatlich sanktionierten hin zu jenen Normen, die den sozialen Verkehr im Alltag der Argentinier regeln. Zur Anschauung seien hier die Warteschlangen aufgeführt, die an Bushaltestellen zu beobachten sind oder auf den Bahnsteigen der Bahnhöfe (etwa der Retiro-Station), über die der Nahverkehr abgewickelt wird. Hier gibt es kein Gedränge, versucht niemand, sich an der Schlange vorbeizudrängeln und vorne einen Platz zu bekommen, sondern alle ordnen sich stillschweigend in der Reihenfolge ein, in der sie eintreffen.
Man kann auch an einem Wochenende in einen der zahlreichen Sport- und Freizeitclubs im Norden der Hauptstadt, in der Nähe des Deltas des Paraná, gehen. Auch hier herrscht kein regelloses Durcheinander, lassen sich auf Anhieb keine Versuche erkennen, auf Kosten der anderen und des einträchtigen Zusammenseins einen individuellen Vorteil herauszuschlagen, sondern alles läuft transparent und (mehr oder weniger) geordnet ab: der Transport der Freunde oder Angehörigen hin zum Club und zurück nach Hause, der Sport, die Betreuung der Kleinkinder, die Vorbereitung des Picknicks. Man könnte einwenden, der entspannte und höfliche Ton, der in diesen Clubs herrsche, sei damit zu erklären, dass es sich um bloße Zerstreuung handele, eben Wochenendaktivitäten. Doch abgesehen davon, dass in diesen Clubs auch manche Geschäfte zustande kommen - sind Tätigkeiten wie das Warten und Wegräumen der Sportgeräte oder die Beschaffung des Picknickvorrates keine Verpflichtungen, die Anlass für Streit und Unordnung sein könnten?
Das letzte Beispiel bezieht sich auf die Wirtschaft. Als ich einem Freund meine Mutmaßungen über anomische Tendenzen in der argentinischen Gesellschaft vortrug, wandte er spontan ein, ich hätte wenig Ahnung vom Wirtschafts- und Finanzgebaren in diesem Lande, wo alles äußerst regelhaft und berechenbar zugehe. Beispielsweise sei es unüblich, ausländische Schecks bei Banken einzulösen, weil dies ebenso umständlich wie langwierig wäre; man reiche sie stattdessen bei einer privaten Finanzagentur ein, die einem unter Abzug eines von vornherein feststehenden, nicht allzu hohen Prozentsatzes die Restsumme entweder gleich auszahle oder gutschreibe. Alles vollziehe sich mit einem Minimum an formalen Absicherungen wie Empfangsbestätigungen oder Unterschriften; maßgeblich seien vielmehr informelle Regeln gegenseitigen Vertrauens, an die sich alle Beteiligten hielten. Ähnliches gelte für die Einhaltung von Terminen und generell für die Wahrung professioneller Standards bei der Durchführung von Auftragsarbeiten. Die Argentinier hätten besser als die Menschen vielerorts in Lateinamerika, etwa in Mexiko, die harten Gesetze des Marktes begriffen und richteten sich konsequent nach ihnen.
Auch hinsichtlich staatlich sanktionierter Normen scheint sich ein Lernprozess vollzogen zu haben als Lehre aus der Zeit des Militärregimes (1976-83), das fundamentale Rechtsprinzipien grob missachtete. In den 1970er Jahren, unmittelbar vor dem letzten Militärputsch und in den ersten Jahren des Militärregimes, erlebte Argentinien eine Phase sprachlicher Verwirrung und chaotischer normativer Verhältnisse, die einer anomischen Situation, also einer Zeit völliger rechtlichen Unsicherheit, sehr nahe kamen. Aus der systematischen Verletzung sämtlicher Regeln des Rechts und der Humanität während der letzten Militärdiktatur, die an Brutalität alle früheren Militärregime in den Schatten stellte, hat insbesondere die Justiz eine Lehre gezogen. Diese hatte Jahrzehnte lang nur eine klägliche Rolle gespielt und war zunehmend in Abhängigkeit von der Exekutive geraten. Der "Sündenfall" der Justiz wurde bereits beim ersten Militärputsch der jüngeren argentinischen Geschichte im Jahre 1930 begangen, als das Verfassungsgericht nicht zögerte, der gewaltsam an die Macht gelangten De-facto-Regierung Rechtmäßigkeit zu bestätigen. Diese freiwillige Unterordnung unter die jeweils bestehenden politischen Machtverhältnisse hatte zur Folge, dass fortan jede neue Regierung - ob sie auf legalem oder illegalem Weg in den Besitz der Macht gelangt war - alsbald daranging, in das institutionelle Gefüge der Justiz einzugreifen und Richter nach Belieben auszuwechseln. Entsprechend gering war das Ansehen der Judikative und insbesondere des als hochgradig korrupt geltenden Richterstandes.
Insoweit kam es nach dem Rückzug der Militärs von der Macht 1983 zu einer Wende. Sie wurde durch den Entschluss der Regierung Alfonsín ausgelöst, die für die schwere Verstöße gegen die Menschenrechte verantwortlichen führenden Militärs vor ein Gericht zu stellen. Durch das unter großer Medienbeteiligung durchgeführte Strafverfahren widerfuhr nicht nur den Opfern des Regimes und deren Angehörigen und Freunden eine nachträgliche Genugtuung, sondern zugleich wurden der ganzen Nation Sinn und Zweck einer unabhängigen Justiz vor Augen geführt, die um die Erhebung der relevanten Fakten und ein gerechtes Urteil bemüht ist. Die Strafverfahren, die großenteils mit der Verurteilung der Angeklagten endeten, hatten zur Folge, dass das Ansehen der Dritten Gewalt in der Öffentlichkeit sich sehr verbesserte. Seither werden Gerichte häufiger in Anspruch genommen, und die Massenmedien schenken Gerichtsfällen und Rechtsfragen mehr Aufmerksamkeit.
Die daran geknüpften Hoffnungen, das Recht und die Rechtmäßigkeit einer Maßnahme würden nun zu einer wichtigen Richtschnur politischen Handelns, erfuhren zwar später durch Teilamnestien für Militärs und andere Eingriffe der Exekutive in die Justiz einen Rückschlag. Gleichwohl sind Experten der Ansicht, die Menschenrechtsprozesse hätten in Verbindung mit der Konsolidierung der demokratischen Institutionen zur generellen Schärfung des Normen- und Rechtsbewusstseins der Argentinier beigetragen. Wie berechtigt ist diese Annahme, auf welches empirische Fundament kann sie sich stützen?
Aus einer Reihe von Gründen ist es äußerst schwierig, auf diese Frage eine klare Antwort zu geben. Dem unbefangenen Beobachter, der die Situation von außen betrachtet, bietet sich ein durchaus widersprüchliches Bild. Einerseits fällt es nicht schwer, im Alltag und in der Literatur Beispiele dafür zu finden, dass viele Argentinier es nach wie vor mit den Gesetzen nicht genau nehmen. So gaben bei einer Umfrage 42 Prozent der Befragten ohne Umschweife zu, sie würden keine Steuern zahlen, hätten sie in diesem Fall nicht mit hohen Strafen zu rechnen. An dieser Anfang der 1990er Jahre geäußerten Einstellung scheint sich seitdem nichts Wesentliches geändert zu haben.
Andererseits dürften die meisten Argentinier nach dem Trauma, das Extremsituationen wie die Gewaltexplosion der 1970er und die Hyperinflation der 1980er Jahre hinterlassen haben, gegen Experimente dieser Art vorerst gefeit sein. Inwieweit Gruppenegoismus und Klientelismus sich längerfristig wirksam bekämpfen lassen, ist eine offene Frage, die Argentinien allerdings nicht allein betrifft, da das Land dieses Problem mit den meisten anderen lateinamerikanischen Gesellschaften teilt.
Um die Tragweite des herausstechendsten Merkmals der Argentinier, ihren ausgeprägten Individualismus und die mit ihm verbunden Gefahren, richtig einschätzen zu können, empfiehlt es sich, bei Durkheim anzuknüpfen. Für den französischen Klassiker war der Individualismus als Grundhaltung nicht an sich negativ. Er akzeptierte ihn als eine unausweichliche Begleiterscheinung der Moderne und unterstrich, dass eine individualistische Haltung keineswegs den Verzicht auf soziale Bindungen und auf eine respektvolle Behandlung anderer Individuen bedeute. Zu einer Gefahr für die Gemeinschaft werde er erst dann, wenn er zum engstirnigen Utilitarismus verkomme, der in den Mitmenschen nur ein Mittel zur Verfolgung der eigenen Zwecke sehe. Durkheim spricht in diesem Zusammenhang von einer Pervertierung zum exzessiven oder egoistischen Individualismus.
Auf die argentinische Gesellschaft bezogen lassen sich Durkheims Kategorien in folgender Weise fruchtbar miteinander kombinieren: Der ausgeprägte Individualismus, der diese Gesellschaft kennzeichnet und dem wir im Übrigen eine Fülle beeindruckender künstlerischer und intellektueller Leistungen verdanken, muss sich nicht schädlich für das soziale Umfeld auswirken - vorausgesetzt er findet sein Gegenstück in einem verbindlichen Regelwerk, das ihn bremst, kanalisiert und daran hindert, auszuufern und sich auf Kosten der Gemeinschaft breit zu machen. Hier liegt eines der Funktionsgeheimnisse der nicht minder individualistischen US-Gesellschaft, die sich in Form der allseits respektierten und sogar einen quasi-sakralen Status genießenden Bundesverfassung ein verbindliches Regelwerk gegeben hat, an dem niemand zu rütteln wagt. Das Beispiel der Vereinigten Staaten lehrt zugleich, dass der soziale Gemeinsinn und die gemeinschaftsfördernden Kräfte - sie mögen noch so gut entwickelt sein - allein nicht ausreichen, um einen überschießenden Individualismus zu zügeln. Hierzu bedarf es vielmehr starker, sanktionsbewehrter Regeln. In Argentinien vermisst man einen den Verhältnissen in den USA vergleichbaren, allseits geachteten und akzeptierten Verfassungs- oder Gesetzesrahmen. Deshalb droht der an sich wertneutrale Individualismus ins Negative umzuschlagen, wird aus dem Problem sozialer Regulierung ein Problem der sozialen Integration.
Wie wichtig eine fast blinde und damit vordergründig irrational anmutende Akzeptanz verbindlicher Regeln für die Funktionsfähigkeit einer Gemeinschaft ist, machen die Ausführungen des argentinischen Sozialwissenschaftlers C. Ninos deutlich. Er zeigt auf der Basis der rational-choice-Theorie, welche Schwierigkeiten die Argentinier haben - ausgehend von gegenseitigem Misstrauen, individueller Vorteilssuche und der Minimierung von Handlungsrisiken -, zu einer kooperativen, gemeinschaftsfördernden und sich damit letztlich für jeden günstig auswirkenden Haltung zu finden. Soweit er die Analyse auch treibt, kommt er letztlich über die Beschreibung des Dilemmas nicht hinaus und beschreibt keinen Weg zu seiner Lösung. Die fraglose Unterordnung des einzelnen unter die Gesetze bleibt nach Nino ein Akt, für den es keine individuelle Erklärung gibt. Es führt kein unmittelbar nachvollziehbarer Weg von der individuellen Rationalität zur Rationalität des Kollektivs.
Aber vielleicht bedarf es einer solchen rationalen Begründung gar nicht mehr, weil strukturelle Entwicklungen für die zunehmende Übereinstimmung der Wert- und Normenvorstellungen der Argentinier gesorgt haben. Eine kürzlich von dem internationalen Umfrageinstitut Gallup durchgeführte Befragung ergab, dass die Argentinier sich in ihren Vorstellungen, welches gesellschaftliche und politische Profil ihr Land haben sollte, zunehmend einander annäherten; nur hinsichtlich der Wege und Mittel, wie diese Zielvorstellungen zu realisieren seien, bestünden noch gewisse Diskrepanzen. In der Tat wagt kaum jemand mehr, am Modell der liberal-demokratischen Regierungsform in diesem Land zu rütteln. Wird es dann nur noch eine Frage der Zeit sein, dass dieser Konsens sich auch auf den Rechtsstaat und die Verbindlichkeit der Gesetze erstrecken wird?
So attraktiv derartige Prognosen klingen mögen, ihnen stehen strukturelle Entwicklungen im Wege, die ihr Eintreffen eher unwahrscheinlich machen. Zu ihnen zählen die sich erweiternde Kluft zwischen Reich und Arm sowie der zunehmende Ausschluss der Ärmsten aus dem Gesellschaftsverband, womit sich zugleich der Grundstock an Basisnormen in dieser Gesellschaft aufzulösen droht. Darunter fällt auch die Aufspaltung der Mittelschichten, von denen ein beträchtlicher Teil von Verarmung und sozialem Abstieg bedroht oder bereits verarmt ist, während der glücklichere und geschicktere Teil durch Einfädelung in die Weltwirtschaft den sozialen Aufstieg geschafft hat und sich in seinem Lebensstil dem der Oberschichten annähert. Dazu gehört der allmähliche Zerfall des öffentlichen urbanen Raumes in weitgehend von bestimmten sozialen Gruppen und ihren Banden bzw. privaten Polizeien beherrschte Stadtviertel. Schließlich zählt dazu der Rückzug des Staates aus einer Reihe von gesellschaftlichen Grundfunktionen und -aufgaben, die nunmehr auf private Träger übertragen werden, die sie nach rein wirtschaftlichen Gesichtspunkten verwalten.
Gerade die jüngsten Erschütterungen haben in Argentinien eine normative Unsicherheit wieder zutage treten lassen, die von scheinbar stabilen demokratischen Strukturen verdeckt wurde. Wie immer der gegenwärtige Präsident und sein Regierungsstab bzw. künftige Regierungen die wirtschaftliche Krise in den Griff zu bekommen versuchen, sie werden die im Zuge der Globalisierung wachsenden Unterschiede nicht aufhalten können. Es wäre paradox, wenn sich ein allmählicher Grundkonsens hinsichtlich der Institutionen und Normen in Argentinien just zu der Zeit einstellen würde, da die strukturellen Grundlagen eines solchen Konsenses immer brüchiger werden.
Literatur
Isuani, Ernesto Aldo: Anomía social y anemia estatal. Sobre integración social en la Argentinain: D. Films (Hrsg): Los noventa. Política, sociedad y cultura en America Latina y Argentina de fin de siglo, Buenos Aires 1999, S. 25-51.
O'Donnell, Guillermo: Polyarchies and the (Un)Rule of Law in Latin America: A Partial Conclusion, in: J. Méndez, G. O'Donnell und P.S. Pinheiro (Hrsg): The Rule of Law and the Underprivileged in Latin America, Notre Dame 1998, S. 303-333.
Nino, Carlos: Un país al margen de la ley. Estudio de la anomia como componente del subdesarrollo argentinoBuenos Aires 1992.
aus: der überblick 01/2002, Seite 81
AUTOR(EN):
Peter Waldmann:
Peter Waldmann ist Professor für Soziologie an der Universität Augsburg. Sein Schwerpunkt ist die politische Soziologie Lateinamerikas, insbesondere Argentiniens. Er ist Mitglied des wissenschaftlichen Beirates des BMZ. Adrian Waldmann arbeitet als Antropologe in Bolivien, wohnt derzeit aber in Berlin.