Korruption wird im Staat und in der Privatwirtschaft zunehmend bekämpft. Die Kirchen sind hier noch zurückhaltend, obwohl das Problem auch in Kirchen, besonders des Südens, groß ist. Die nächste Vollversammlung des ÖRK Anfang 2006 bietet Gelegenheit, ein kirchliches Programm zur Korruptionsbekämpfung zu lancieren.
von Christoph Stückelberger
Korruption ist ein schweres Entwicklungshemmnis. Dass auch Kirchen von ihr nicht frei sind, habe ich im meiner zwölfjährigen kirchlichen Entwicklungszusammenarbeit oft erfahren: Ich wurde zur Klagemauer jüngerer kirchlicher Nachwuchskräfte in Entwicklungsländern, die mir aufgezeigt haben, wie stark auch Kirchen von Mechanismen der Korruption betroffen sind.
Der Begriff Korruption wird heute inflationär gebraucht. Manche möchten damit alles Übel in der Welt bezeichnen. Einzelne Theologen berufen sich dazu auf den lateinischen Begriff corruptio, der neben Bestechung auch Verderbtheit bezeichnet und die Gottferne und Bosheit der Welt vom Sündenfall bis zum Neuen Testament umfasst. Damit wird aber der Begriff so unpräzise, dass er mehr verschleiert als transparent macht. Deshalb plädiere ich für eine enge und einfache Definition, wie sie heute in der Politik und der Wirtschaft meist verwendet wird: Korruption ist der Missbrauch öffentlicher oder privater Macht für privaten Nutzen. Dabei kann unterschieden werden zwischen der großen Korruption (der Mächtigen), der kleinen Korruption (der Armut), der Beschaffungs- und Beschleunigungskorruption (um Güter und Dienstleistungen zu erhalten, die sonst nicht oder nicht in nützlicher Frist zu erhalten sind) sowie der grauen Korruption (Vetternwirtschaft).
Korruption hat vielfältige Formen. Im kirchlichen Bereich sind zwei Arten zu unterscheiden: Korruption innerhalb einer Institution und Korruption in ihrer Interaktion mit der Gesellschaft. In Gesellschaften, in denen wie in vielen Entwicklungsländern sämtliche Sektoren von Korruption betroffen sind, sind natürlich leider auch die Kirchen als Teil der Gesellschaft betroffen. Sie sind Teil des Problems, aber auch der Lösung. Sie zahlen zum Beispiel Schmiergeld für staatliche Dienstleistungen wie Reisedokumente, für Landrechte oder Rechte zum Bau einer Kirche, oder sie müssen Medikamente für kirchliche Spitäler aus dem Zoll auslösen.
Schmerzhafter als Korruption in der Interaktion mit andern Teilen der Gesellschaft ist Korruption innerhalb der Kirchen, weil sie leichter zu vermeiden ist würde man jedenfalls annehmen. Für diese Korruption nur ein paar Beispiele: Kirchliches Eigentum wie Land oder Pfarrhäuser wird auf Privateigentum überschrieben; bei Wahlen zu kirchlichen Leitungspositionen werden Stimmen gekauft; Stipendien werden unter Umgehung der genehmigten Kriterien vergeben oder zweckgebundene Mittel etwa der Mission und Entwicklungszusammenarbeit für andere Zwecke ausgegeben. Das ist oft nicht mit persönlichem Nutzen verbunden, sondern Folge von mangelhaftem Finanzmanagement oder Ausdruck dafür, dass überall Geld fehlt. Auch die Aufnahme von Studierenden in theologische Seminare oder kirchliche Schulen oder das Weiterleiten eines Projektgesuchs wird da und dort mit Schmiergeld erkauft. An nicht kirchlichen Schulen ist sexueller Missbrauch von Studierenden als Bedingung für den Schuleintritt oder das Bestehen eines Examens verbreitet, wie Brot für Alle im Programm für korruptionsfreie Schulen in Westafrika feststellen musste; auch in kirchlichen Schulen ist das nicht auszuschließen. Auch das ist Missbrauch öffentlicher Macht (hier als Lehrer) für privaten Nutzen.
Graue Korruption die Vergabe von Posten an Angehörige des eigenen Klans oder der eigenen Ethnie ist insbesondere beim Zugang zu kirchlichen Ämtern und Dienststellen zu beobachten. Dies allerdings in anderer Form auch in Kirchen der Industrieländer. Der Mittelabflusszwang bei größeren kirchlichen Entwicklungsorganisationen, deren Personal zu knapp bemessen ist, kann korrupte Praktiken fördern, weil dann zu viele Mittel an immer dieselben Personen vergeben werden oder in immer dieselben Kanäle fließen.
In der Nothilfe besteht eine besondere Schwierigkeit darin, dass man schnell helfen muss und dabei auf Material, Bewilligungen oder Transportmöglichkeiten angewiesen ist, die zum Beispiel von Rebellengruppen kontrolliert werden; diese können Bedingungen stellen. Im Bereich der Mikrokredite, deren Bedeutung im jetzigen UN-Jahr der Mikrokredite zu Recht betont wird, taucht Korruption zum Beispiel in der versteckten Form des Abschreibens von Krediten auf: Ein Kredit- Sachbearbeiter vergibt ein Darlehen über zwei Umwege an einen Verwandten; dieser kann anscheinend den Kredit nicht zurückzahlen und der Sachbearbeiter schreibt ihn aus vordergründig nachvollziehbaren Gründen ab, etwa weil der erste Kreditnehmer an Aids gestorben ist. Als Präsident des Ökumenischen Darlehensfonds (Ecumenical Church Loan Fund mit Sitz in Genf) war ich mit solchen Fällen im Süden konfrontiert. Sie konnten nicht geduldet werden; beteiligte Kredit-Sachbearbeiter wurden entlassen.
Eine besondere Mitverantwortung der Geber, also der nördlichen kirchlichen Entwicklungs- und Missionswerke, besteht darin, fehlbare Partner klar zur Rechenschaft zu ziehen. Hier stelle ich fest und das wurde auf zwei Tagungen mit deutschen Missionswerken bestätigt , dass oft Mitarbeitende dieser Werke Sanktionen ergreifen möchten, aber die Kirchenleitungen des Nordens davor zurückschrecken. Zum Beispiel heißt es, ein Bischof im Süden sei betroffen, mit dem ich doch in seinen Auslandsemestern in unserem Land studiert habe und der doch sicher ein aufrichtiger Mann ist. Die Werke befürchten auch negative Schlagzeilen. Meine Erfahrung ist demgegenüber, dass Spender und Spenderinnen sehr positiv reagieren, wenn sie erfahren, dass kirchliche Werke mutig und klar Korruption bekämpfen, gerade auch in den eigenen Reihen.
Die Wirkungen von Korruption in der Gesellschaft sind katastrophal, wie viele Studien zeigen. Dazu gehören die Fehlleitung von Ressourcen, erhöhte Verschuldung, Steuerflucht, die Qualitätsverminderung von Leistungen, Verzerrungen des Wettbewerbs, die Vergrößerung des Wohlstandsgefälles, die Erhöhung der Intransparenz, Vertrauensverluste in Staat und Wirtschaft, die Schwächung der moralischen Integrität von Personen und Institutionen, Benachteiligung von Frauen, die Schwächung des Rechtssystems und die Stützung von Diktaturen und Rebellengruppen (die sich mit Korruption teilweise finanzieren). Korruption ist ein Investitionshindernis, sie gefährdet das Ansehen der Entwicklungszusammenarbeit, und bei Wahlen untergräbt sie die Demokratie. Besonders gravierend ist, wenn vier Sektoren der Gesellschaft, die einen Orientierungsrahmen bieten sollten, von Korruption betroffen sind: Gerichte, Religionsgemeinschaften, Medien, Schulen.
Korruptionszahlungen an und von staatlichen und privatwirtschaftlichen Instanzen erreichen in manchen Ländern die Höhe der Gesamtverschuldung des Landes. Das zeigt ihre entwicklungspolitische Bedeutung. Zugleich erstaunt, wie wenig Kräfte und Mittel Entwicklungsorganisationen und Kirchen im Vergleich zur (ebenfalls sehr wichtigen) Entschuldung in die Korruptionsbekämpfung stecken. Neuerdings wird zu Recht sehr viel in Aidsbekämpfung investiert. Aids tötet. Aber Korruption tötet direkt und indirekt ebenso Hunderttausende von Menschen jährlich. Korruption ist für eine Gesellschaft das, was für einen Körper ein Krebsgeschwür oder eine Suchtabhängigkeit ist.
Korruption hat nicht nur politisch-ökonomische Wirkungen, sondern sie untergräbt Werte, die für das Zusammenleben in einer Gesellschaft zentral sind: Sie fördert Ungerechtigkeit statt Gerechtigkeit, Ungleichheit statt gleiches Recht auch für Arme, Lüge statt Wahrheit, Erpressbarkeit statt Freiheit, Diebstahl statt Leistung, Unberechenbarkeit statt Rationalität und Effizienz, Intransparenz statt Teilnahme an Entscheidungen, Manipulation statt Menschenwürde, Eigennutz statt Gemeinwohl, verantwortungslose Machtausübung statt Macht mit Verantwortung.
Biblisch-theologisch ist Korruption kompromisslos abzulehnen. In der Bibel gibt es viele Stellen gegen Korruption und keine einzige zu ihrer Verteidigung. Einige wenige Beispiele: Bestechung sollst du nicht annehmen, denn die Bestechung macht Sehende blind und verdreht die Sache derer, die im Rechte sind. (2. Mose 23,8). Wer besticht, wird als gottlos und damit als von der Gemeinschaft mit Gott ausgeschlossen bezeichnet (Spr 17,23). Gottesfürchtig ist, wer nicht besticht (Ps 26,10). Und besonders: Korruption tötet! Als politischer Mord sei das Beispiel von Judas erwähnt, der Jesus gegen Schmiergeld verrät (Mk 14,10). Korruption wird in allen Weltreligionen klar abgelehnt.
Nehmen wir das Bild der Korruption als Sucht nochmals auf, um sechs Therapiephasen zur Überwindung der Korruption zu beschreiben.
1. Phase Verharmlosung und Rechtfertigung: Korruption wird als Geschenkkultur gerechtfertigt. Die Sprache vertuscht (Nützliche Nebenausgaben statt Schmiergeld), über Korruption wird nur unter vier Augen gesprochen.
2. Phase Problemdruck: Der ökonomische und politische Druck auf Personen und Unternehmen steigt. Schmiergeldzahlungen gehen ökonomisch an die Schmerzgrenze.
3. Phase Anerkennung der Sucht: Ja, unsere Gesellschaft ist krank. Maßnahmen sind notwendig.
4. Phase Beschluss zu Nulltoleranz: So wie der Alkoholiker erkennt, dass er von der Sucht nur wegkommt, wenn er ganz (und nicht nur ein bisschen) auf Alkohol verzichtet, so wird Nulltoleranz bezüglich Korruption beschlossen mit Antikorruptionsprogrammen, Verhaltenskodizes etc.
5. Phase Unterstützung annehmen: Wir brauchen Unterstützung, da wir uns nicht selbst von der Sucht befreien können. Nationale Gesetze und internationale Konventionen mit Sanktionsmechanismen sind als Krücken wichtig.
6. Phase Heilung: Korruptionsfreies Leben entsteht. Doch Wachsamkeit bleibt nötig, da Korruption jederzeit zurückkehren kann.
Diese Phasen der Korruptionsbekämpfung konnte ich als Gründer und Präsident der Schweizer Sektion der nichtstaatlichen Organisation Transparency International von 1994-2004 miterleben und beobachten. International sind wir heute politischwirtschaftlich bei Phase 4 bis 5 angelangt. In den Kirchen sind wir in vielen Ländern erst bei Phase 3. Um den Heilungsprozess auch hier zu den Phasen 4 bis 6 zu führen, braucht es endlich verbindliche Programme und Vereinbarungen.
Anfänge sind gemacht: An vielen Orten beginnen Kirchen oder Teile davon ihre Stimme gegen Korruption zu erheben. Zumeist zuerst gegen Korruption in Staat und Gesellschaft, vermehrt aber auch gegen Korruption innerhalb der Kirchen. Öffentliche Erklärungen in Kamerun und Nigeria, ein Verhaltenskodex mit Aktionsplan in Indien, Schulungen für Finanzverantwortliche in Ostafrika, Selbstverpflichtungen und Antikorruptionsklauseln in Verträgen von Missions- und Hilfswerken, Publikationen zur biblischen Reflexion in Madagaskar, ein Brief argentinischer Südkirchen an Nordkirchen über den Zusammenhang von Verschuldung und Korruption, ein Antikorruptionsplan der Allafrikanischen Kirchenkonferenz AACC in Nairobi dies sind nur einige ermutigende Beispiele.
Oft entstehen diese Initiativen aus einem klaren Leidensdruck: Gegen Korruption im Staat entstehen wichtige öffentliche Erklärungen von Kirchenleitungen. Wo es aber um Korruption in Kirchen geht, treten meist einzelne mutige Persönlichkeiten in kirchlichen Spezialinstitutionen oder auch Mitarbeitende auf Gemeinde ebene hervor, die von Kirchenleitungen oft zurückgehalten oder gar beruflich sanktioniert werden. Wo einer Kirchenleitung wegen Korruption das Vertrauen entzogen wird, ist die neue Kirchenleitung oft motiviert und auch gezwungen, Maßnahmen zur Korruptionsbekämpfung einzuleiten.
Als ermutigend seien zwei globale kirchliche Stellungnahmen zur Korruptionsbekämpfung besonders erwähnt: Die Achte Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen in Harare rief 1998 die Mitgliedkirchen in ihrer Erklärung Erlassjahr-Aufruf zur Befreiung der verarmten Völker aus dem Würgegriff der Schulden auf, sich einzusetzen für ...e) eine ethisch vertretbare fundierte Regierungsführung in allen Ländern und Gesetze gegen alle Formen von Korruption und die missbräuchliche Verwendung von Krediten. Und der Reformierte Weltbund beschloss auf seiner 24. Generalversammlung in Accra im August 2004 einen Aktionsplan für wirtschaftliche Gerechtigkeit und Umweltfragen. Darin steht unter Empfehlungen an unsere Kirchen: ...5. sich für die Abschaffung der Korruption innerhalb der Kirchen einzusetzen, indem ein Programm für korruptionsfreie Kirchen durchgeführt wird.
Doch diese Maßnahmen von Kirchen genügen nicht. Deshalb ist der Vorschlag des Reformierten Weltbundes aufzunehmen und zu konkretisieren. So wie es ein Antirassismusprogramm gab und ein Programm zur Überwindung von Gewalt gibt, so braucht es große gemeinsame Anstrengungen zur Überwindung des Krebs übels Korruption in und durch Kirchen. Ich schlage ein ökumenisches internationales Programm gegen Korruption in Kirche und Gesellschaft vor. Die 9. ÖRK-Generalversammlung in Porto Alegre könnte es im Februar 2006 beschließen. Das Programm sollte sich zwei Ziele setzen: Erstens, die Mitgliedkirchen des ÖRK sind korruptionsfrei spätestens bis zur 10. Generalversammlung des ÖRK; zweitens, die Mitgliedkirchen unterstützen die verschiedenen Sektoren ihrer Gesellschaft, damit diese korruptionsfrei werden.
Das Programm soll unter anderem vier Aktivitäten umfassen: biblisch-theologische Reflexionen über Korruption und ihre Überwindung; Analysen der Mechanismen, die Korruption fördern; Informationsaustausch unter Mitgliedkirchen, regionalen ökumenischen Organisationen und Spezialdiensten wie Hilfswerken und Missionen über bestehende und geplante Maßnahmen der Korruptionsbekämpfung; und die Entwicklung und Umsetzung von Instrumenten wie Aktionsplänen, Verhaltenskodizes, administrativen Richtlinien und Sanktionen.
Die Rolle des ÖRK in diesem Programm ist, die Mitgliedkirchen zu motivieren, ihre Anstrengungen zu verstärken, zu vernetzen und kontinuierlich durchzusetzen. Das Programm kann ein Teil des ÖRK-Programms zur Überwindung von Gewalt werden, denn Korruption ist eine klare Form von Gewalt gegen Schwächere. Es kann auch Teil des Programms für wirtschaftliche Gerechtigkeit werden oder ein separates Programm, um ihm die nötige Aufmerksamkeit und Sichtbarkeit zu geben. Das Programm erfordert zusätzliche Mittel, aber ich bin überzeugt, dass sie dafür mobilisiert werden können.
Für die Glaubwürdigkeit der Kirchen in Zukunft ist die Bedeutung des Programms nicht zu unterschätzen, denn die Kirchen spielen in dieser Frage bis jetzt keine prophetische Rolle. Sie müssen nun dringend nachvollziehen, was andere schon tun, um dann auch glaubwürdig ihre verkündigende, prophetische und seelsorgerliche Rolle in der Gesellschaft spielen zu können.
Literatur:
aus: der überblick 02/2005, Seite 86
AUTOR(EN):
Christoph Stückelberger
Prof. Dr. Christoph Stückelberger ist seit
Ende 2004 Leiter des Instituts für
Theologie und Ethik des Schweizerischen
Evangelischen Kirchenbundes. Vorher
war er 12 Jahre Direktor der Entwicklungsorganisation
Brot für alle des Kirchenbundes.
Er ist Professor für Ethik an der Theologischen
Fakultät der Universität Basel und
Autor verschiedener Bücher, darunter zweier
Broschüren zur Korruptionsbekämpfung (siehe
www.christophstueckelberger.ch).