Problematisches Pulver
Fischmehl ist Perus zweitwichtigstes Exportprodukt. Jährlich werden etwa 8 Millionen Tonnen Fisch zu 1,8 Millionen Tonnen Fischmehl verarbeitet und exportiert. Damit werden Fische in der Aquakultur, aber auch Hühner und Schweine gemästet. Doch die kleinen Fische, die Anchovis, aus denen das Fischmehl zum größten Teil hergestellt wird, könnten der heimischen Bevölkerung auch als direkte Proteinquelle in der Ernährung dienen.
von Knut Henkel
Piwi ist ein Humboldt-Pinguin und das Maskottchen der Anchovis- Kampagne in Peru, die von der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) initiiert wurde, um den kleinen Fisch auf den peruanischen Speiseplan zu setzen. Kein leichtes Unterfangen, denn die grätenreiche peruanische Anchovis wird seit den fünfziger Jahren vor allem gefangen, um sie zu Fischmehl zu verarbeiten. Für den nationalen Konsum spielte sie nie eine Rolle, obgleich Unterernährung bei Kindern wie Erwachsenen in Peru häufig auftritt.
Ärzte warnen vor dem Anchovisverzehr, weil die kleinen etwa zwölf Zentimeter langen Fische nicht immer frisch auf den Markt kommen. Daher ist die Anchovis in Peru verpönt. Ob der kleine Pinguin an den Ernährungsgewohnheiten der Peruaner etwas ändern kann, muss sich erst zeigen.
Die FAO und die peruanische Regierung gehen das Projekt von Grund auf an: Boote wurden gekauft, Fischer ausgerüstet und eine kleine Fabrik zur Verarbeitung des Fangs eingerichtet, von wo aus der Fisch direkt in die Schulen eines Armenviertels von Lima gefahren wird. Doch nicht nur in den Armenvierteln soll Werbung für die Anchovis gemacht werden, sondern auch bei der restlichen Bevölkerung. In Konserven verpackt, in unterschiedlicher Weise mariniert, in Öl oder Tomatensoße sollen sie angeboten werden und auf den hohen Anteil an ungesättigten Omega-3-Fettsäuren wird explizit hingewiesen.
Etwa 5,6 Millionen Tonnen Anchovis haben die peruanischen Fischer im Jahr 2003 aus dem Meer gezogen. Mehr als 2001, aber deutlich weniger als im Jahr 2002, als 8,1 Millionen Tonnen des Fisches gefangen wurden. Anchovis wird in Peru im großen Stil und mit großem Aufwand zu Fischmehl verarbeitet, das en Gros exportiert wird. Peru ist wichtigster Anbieter auf dem internationalen Markt, und die Nachfrage steigt. Das spiegelt sich auch im derzeitigen Preis von 670 US-Dollar pro Tonne wider, (2001 waren es 250 US-Dollar), der höchste seit fast drei Jahren. China (mit 40 Prozent), Japan (13 Prozent) und Deutschland (5 Prozent) waren 2003 die größten Abnehmer der peruanischen Produktion.
In der Tiermast wird das billige Proteinpulver im großen Stil verwendet. Wenn allerdings das Frühstücksei oder gar das Schweinefleisch nach Fisch schmeckt, ist die Dosierung untrüglich zu hoch. Doch nicht nur in der Hühner- und Schweinemast wird die pulverisierte Anchovis verwendet, sondern zunehmend auch in der Aquakultur. Lachs, Steinbutt, Aal und andere Edelfische, die in großen Becken oder Käfigen im Meer gezüchtet werden, werden mit dem billigen Kraftfutter aufgepäppelt. Um ein Kilo edlen Zuchtfisch zu erhalten, werden drei Kilo minderwertigen Fisches - getrocknet und gemahlen - zu knapp siebzig Cent das Kilo verfüttert. Eine beispiellose Verschwendung der knappen Meeresfrüchte sei das, meinen Kritiker. Sie weisen darauf hin, dass die Anchovis schließlich auch direkt verzehrt werden können.
Doch die Nachfrage seitens der Fischfarmen, von denen viele in China liegen, steigt. Die Branche boomt, nicht zuletzt, weil weniger Fisch im offenen Meer gefangen wird. Die Überfischung zahlreicher Bestände hat dazu geführt, dass Angebot und Nachfrage vor allem bei Edelfisch mehr und mehr auseinander klaffen. Edelfisch ist nicht erst en vogue, seitdem Sushi seinen Siegeszug rund um den Globus angetreten hat. Frisch und von bester Qualität soll die Ware sein, die per Jet rund um die Welt verfrachtet wird (siehe den Artikel von Theodore Bestor in diesem Heft). Selbst auf Bahnhöfen, wo früher der Currywurststand dominierte, haben Sushi-Bars Konjunktur, so Gerd Leipold, Geschäftsführer von Greenpeace International. "Sicherlich ein Fortschritt aus der Ernährungsperspektive, doch der Nachfrageboom der letzten Jahre hat die Überfischung der Fanggründe mit verursacht", betont der 53-jährige Meeresforscher.
Für die Fischmehlproduzenten Perus hat sich ein neuer attraktiver Markt aufgetan, auf den man sich mehr und mehr eingestellt hat. In den vergangenen Jahren wurde die Qualität der angebotenen Fischmehlsorten nochmals erhöht, um den Anforderungen der Fischfarmen gerecht zu werden. Prime- und Superprime-Fischmehlsorten (von besonders guter und erstklassiger Qualität) sind gefragt. Der Anteil dieser Mehltypen lag zum Jahrtausendbeginn in Peru nur bei 20 bis 30 Prozent, beim wichtigsten Konkurrenten, dem Nachbarn Chile, hingegen bei 80 Prozent. Perus Unternehmer mussten investieren, um ihren Weltmarktanteil nicht zu gefährden.
Die Fischmehlproduktion ist einer der Eckpfeiler der peruanischen Wirtschaft und bis heute der wichtigste Devisenbringer nach dem Bergbau. Zwischen 1954 und 1957 wurde der Industriezweig aufgebaut, und wenn man von der peruanischen Fischerei spricht, kommt man an der Anchovis nicht vorbei, so Leoncio Alvárez, Vizefischereiminister Perus auf einer Tagung in Chile im November 2002. Der Fischfang seines Landes basiere auf dem Überfluss dieser Spezies, die nahezu ausschließlich zu Fischmehl verarbeitet werde. Schätzungen des Ministeriums zufolge wurden seit den fünfziger Jahren etwa 280 Millionen Tonnen der peruanischen Anchovis gefangen. Peru ist aufgrund dieser immensen Fangmengen nach China die weltweit wichtigste Fischfangnation.
Der Fischreichtum vor der gut 2400 Kilometer langen Küste des Landes hat einen einfachen Grund: den Humboldtstrom. Dieser führt relativ kaltes Wasser von etwa 20 Grad mit sich, das sich in der Region zwischen dem südlichen Ecuador und Nordchile mit extrem nährstoffreichem Auftriebswasser vermischt, so dass dort Plankton in großen Mengen leben kann. Der Tisch für Fische ist reichlich gedeckt, weshalb die Westküste Südamerikas zu den fischreichsten Regionen der Welt zählt.
Eine der kleineren Spezies in der Nahrungskette ist die Anchovis. Als Ende der vierziger Jahre die kalifornische Sardinenfischerei kollabierte, wurde dem kleinen, in riesigen Schwärmen vor der peruanischen Küste lebenden Fisch größere Beachtung zuteil. Die ersten kommerziellen Anchovisfischer nahmen ihre Arbeit zu Beginn der fünfziger Jahre auf, und entlang der Küste entstanden die ersten Fischmehlfabriken. 140 sind es dem peruanischen Vizefischereiminister zufolge derzeit, die durchschnittlich je fast 9 Tonnen Fischmehl pro Stunde herstellen können. Mit Fischmehl werden rund 75 Prozent der Einnahmen der Fischereibranche erzielt. Etwa 90 Prozent der Fangmengen sind für die Fischmehlproduktion reserviert.
Die peruanische Anchovis-Fangflotte besteht aus rund 750 Schiffen mit einer Ladekapazität von etwa 186.000 Kubikmetern. Die Hälfte würde Schätzungen des Ministeriums zufolge genügen, um die Fabriken mit dem Rohstoff Anchovis zu versorgen.
Aber es gibt nicht immer Anchovis in ausreichender Menge. Nach einer Rekordfangmenge von 12 Millionen Tonnen im Jahre 1970 ging die Fangmenge in den folgenden Jahren stark zurück. Wissenschaftler machen dafür nicht nur das Klimaphänomen El NiZo verantwortlich, einer (meist im Dezember - daher die Bezeichnung "Christkind") nicht zyklisch auftretenden Veränderung der Wassertemperatur und Strömungen im ozeanographisch-meteorologischen System im äquatorialen Pazifik. Auch die hemmungslose Ausbeutung der Ressource habe zum Rückgang der Fangmengen beigetragen. Viele Jungfische sind in der Fangperiode 1972/73 weggefischt worden, der Zusammenbruch der Bestände war die Folge. Ein Grund, der auch von Vizefischereiminister Leoncio Alvárez angeführt wird. Erst in den achtziger Jahren hätten sich die Bestände langsam, unter anderem durch die von seinem Ministerium verordneten Fangbeschränkungen, erholt, um in den neunziger Jahren sprunghaft zu steigen. Von durchschnittlich 723.000 Tonnen Fischmehl in den achtziger Jahren stieg die Produktion zwischen 1990 und 1999 dem Ministerium zufolge auf 1.599.000 Tonnen. Im Rekordjahr 2000 war schließlich mit 2.209.000 Tonnen der Höhepunkt der Fischmehlproduktion erreicht. Die Schwankungen der Fangmengen in Peru zeigen sich deutlich in der Statistik des gesamten Weltfischfangs. Ohne die Zahlen aus Peru wären die Weltfangmengen der vergangenen zehn Jahre etwa konstant geblieben.
Doch auch die neunziger Jahre waren nicht durchgehend goldene Zeiten für die Branche. Für einen nachhaltigen Knick in den Statistiken sorgte El NiZo, der die Fangquoten der Anchovis 1996 und 1997 hat einbrechen lassen. Aufgrund der Erwärmung der Gewässer vor der peruanischen Küste drehten die Anchovisschwärme in tiefere oder kältere Gewässer ab - der industrielle Fischfang rutschte in eine Krise und mit ihm die Fischmehlproduzenten. Davon hat sich die Branche zwar mittlerweile wieder erholt, gleichwohl kann von einer nachhaltigen Bewirtschaftung der Ressource Anchovis bis heute keine Rede sein.
Rund 125.000 Menschen arbeiten im industriellen Fischfang in Peru, davon etwa 10.000 in den Fischmehlfabriken, 15.000 an Bord der Schiffe und der Rest in der Zulieferung beziehungsweise in spezifischen Dienstleistungsbetrieben für die Branche. Hinzu kommen um die 28.000 Kleinfischer, die entlang der peruanischen Küste ihre Netze zumeist nach hochwertigen Speisefischen auswerfen. Doch die sind lange nicht mehr so einfach zu fangen wie früher.
Hauptursache dafür ist die abnehmende Wasserqualität in Küstennähe. Verantwortlich dafür sind nicht zuletzt die Abwasser-Einleitungen der Fischmehlfabriken. Pro Tonne Fischmehl werden nicht nur 4,4 Tonnen Rohfisch benötigt, sondern auch große Mengen an Wasser. Die Fische werden an Bord der Schiffe nicht auf Eis, sondern zumeist in Meerwasser gelagert und abgepumpt. Das Meerwasser, etwa zwei Tonnen pro Tonne Fisch wird dann einfach wieder zurück ins Meer gepumpt, obwohl zahlreiche organische Stoffe und viele durch den Druck der Pumpen zerfetzte Fische darin enthalten sind. Anschließend wird der Fisch gekocht, getrocknet, gemahlen und gepresst, wobei die drei Komponenten Fischmasse, Wasser und Fischöl, das ebenfalls auf dem Weltmarkt verkauft wird, voneinander getrennt werden. Pro Tonne verarbeiteten Fisches fallen zwei Tonnen mit Fischteilen belastetes Kühlwasser, 0,6 Tonnen Kochwasser und etwa 50 Liter Blutiges Fischwasser an, die zumeist ungeklärt und im Falle des Kochwassers zumeist ungekühlt ins Meer geleitet werden. Dadurch hat sich beispielsweise die Bucht von Chimbote, wo 39 Fischmehlfabriken angesiedelt sind, von denen 17 im April 2004 im Betrieb waren, in eine Kloake verwandelt. Der ehemals weiße Strand ist mit Fischöl verseucht und mittlerweile schwarz. Hier stinkt es oftmals abscheulich, wie María Elena Foronda Farro, die Gründerin des dortigen Instituto Natura, bestätigt. Rund fünf Kilo Fischmehlstaub wird pro Tonne verarbeiteten Fisch durch die Schornsteine der Fabriken gejagt und Atemwegs- aber auch Hauterkrankungen bei den Anwohnern sind nicht die Ausnahme, sondern eher die Regel. Das haben auch erste Studien bestätigt.
Das Institut kämpft seit Jahren gegen die Umweltverschmutzung und laut Foronda Farro, sind 24 der 42 Fischmehlfabriken der Stadt in Wohngebieten angesiedelt. Die engagierte Frau kämpft gemeinsam mit einer ganzen Reihe nichtstaatlicher Organisationen (NGOs) für die Einhaltung, Verschärfung und Ergänzung von Umweltauflagen sowie für die Umsetzung einer lokalen Agenda 21.
Allerdings haben sich die Fischmehl-Unternehmen bisher äußerst zurückhaltend gegenüber diesen Initiativen gezeigt. Gerade 20 Prozent haben bisher Bereitschaft signalisiert, ihre Produktionsmethoden zu überprüfen und neue umweltschonende Techniken einzusetzen. Auf diese Kehrseite der Fischmehlproduktion hat in den letzten Jahren auch ein Netzwerk peruanischer Küstenstädte (Asociación de Municipalidades del Litoral Peruano, AMULPE) aufmerksam gemacht. Ein Randaspekt ihrer Öffentlichkeitsarbeit ist auch die Verschleuderung der proteinreichen Anchovis auf dem internationalen Markt, während die Ernährungslage in Peru selbst alles andere als befriedigend ist.
An eine Vernetzung der Anchoviskampagne der FAO und der Umweltkampagne von Seiten der Küstenstädte scheint allerdings noch niemand gedacht zu haben. Piwi könnte dann gleichzeitig für den Schutz der Umwelt und den Konsum der Anchovis werben.
aus: der überblick 02/2004, Seite 18
AUTOR(EN):
Knut Henkel:
Knut Henkel ist freier Journalist mit Schwerpunkt Lateinamerika und schreibt für die »Neue Zürcher Zeitung«, »die tageszeitung« und andere Medien.