Die Hälfte der Bewohner Mumbais lebt in Slums. Einige sind ständig von Zwangsräumung bedroht.
Wer in den Slums der indischen Metropole Mumbai aufwächst, entkommt der Armut nur mit Disziplin und einem starken Willen. Die Bildungs- und Gesundheitsdienste der nichtstaatlichen Organisation PATH verbessern die Chancen, das zu schaffen.
von Annette Lübbers
Rot und wulstig ist die Narbe am Fuß von Shamin Khan. Sie erinnert den 20-Jährigen an jenen Tag im Februar 2005, als er und seine Familie Hals über Kopf ihr Zuhause verlassen mussten. Die Polizei war angerückt, um die Hütte von Shamin Khans Familie und die ihrer Nachbarn niederzuwalzen. Und das nicht zum ersten Mal. "Bei dem Versuch, unsere Habe zu retten, fiel mir ein Stück Eisen auf den Fuß", sagt der junge Mann, rollt seine Socke hoch und zeigt die Narbe.
Trotz der Wut über das, was er als Willkür empfindet, bemüht sich Khan objektiv zu sein: "Nicht alle Polizisten sind korrupt. Manche versuchen auch, uns zu helfen." Sein schwarzes Haar ist kurz geschnitten, das weiße Hemd und die braune Hose sind gewaschen und gebügelt, die Lederschuhe blank geputzt. Der junge Muslim aus den Slums der indischen Hafenmetropole Mumbai (dem früheren Bombay) legt Wert auf sein Äußeres. Seine Armut sollen andere ihm nicht ansehen können.
Tausende kämpfen täglich in den Straßen der indischen Mega-Stadt ums Überleben. Je nach Quellenangaben leben hier zwischen 13 und 19 Millionen Menschen, etwa die Hälfte von ihnen in den wuchernden Slums. Tausende fühlen sich angezogen von dieser Stadt, wo der Triumphbogen Gateway of India und der Bahnhof im viktorianischen Stil von der einstigen Größe des britischen Kolonialreiches zeugen. Gegenüber dem Gateway of India im Stadtteil Colaba zieht das renommierte und prunkvolle Hotel Taj Mahal Intercontinental gut betuchte Gäste an.
Nur wenige Straßenzüge entfernt, auf der Shahid Bhagar Singh Road, dem ehemaligen Colaba Causeway, schlafen nachts Menschen, die noch weniger besitzen als Shamin Khan: Die Obdachlosen von Mumbai, die nicht einmal ein Viereck aus Plastikplanen und Wellblech ihr Eigen nennen. Etwa 60 Prozent des 1200 Kilometer langen städtischen Straßennetzes sollen sich nach Einbruch der Dunkelheit in Schlafstätten verwandeln. Der neue Wohlstand der indischen Mittelklasse aufgebaut auf den Erzeugnissen der boomenden Hightech-Branche hat längst nicht alle Inder erreicht. Noch immer lächelt der Megastar des international erfolgreichen Bollywood-Kinos, Shah Rukh Khan, von Plakatwänden und Häusermauern herab auf gestrandete Menschen, deren Träume von einer besseren Zukunft in den Straßenschluchten der Großstadt ein jähes Ende finden.
Auch Shamin Khan könnte seiner Herkunft nach einer dieser Gestrandeten sein. In den Slums von Mumbai ist er aufgewachsen. Hier lebt er. Hier will er bleiben. Aber Shamin Khan hat einen Traum. Für den lernt und arbeitet er, seit er denken kann: Shamin Khan studiert Jura. Als die Polizei anrückte, um die Hütte seiner Familie einzureißen, lernte der ehrgeizige Inder gerade für eine Examensarbeit.
Noch ist sein Lächeln scheu und zurückhaltend. Leicht fällt es ihm nicht, mit fremden Menschen aus einer anderen Kultur zu sprechen. Mit Bedacht formt er die englischen Worte. Aber was er will, das weiß er genau: "Ich will den Menschen hier helfen. Sie haben niemanden, der ihre Rechte vertritt. Und sie wissen nicht, dass sie überhaupt Rechte haben", sagt er und lächelt schüchtern.
Als Zehnjähriger kam Shamin Khan mit seinen Eltern aus dem indischen Bundesstaat Uttar Pradesh in die Slums von Mumbai. Aus dem ländlichen Teilen Indiens kommen die meisten Slum-Bewohner. Wenn ihre Äcker sie nicht mehr ernähren, flüchten die Menschen nach Delhi, Kolkata (dem ehemaligen Kalkutta) oder nach Mumbai und versuchen im ungewohnten Großstadt-Dschungel zurechtzukommen. Kaum 20 Prozent der erwachsenen Slum-Bewohner können lesen und schreiben. Die Menschen leben in engen Hütten aus Holzpflöcken und Plastikplanen, die besseren haben gemauerte Wände und Wellblechdächer. In der Luft hängt ein Geruch aus Nässe und Fäulnis.
Die Geräusche sind in den ungepflasterten Gassen der Slums allgegenwärtig. Motoren lärmen, Hunde bellen, Menschen unterhalten sich lautstark. Die dünnen Plastikplanen schützen nicht davor, das Leben der Nachbarn mitzuerleben. In den Seen, die der große Monsunregen im schwül heißen Sommer hinterlässt, sammelt sich der Müll. Irgendwann entsteht aus der durchweichten Masse ein halbwegs fester Untergrund, auf dem wieder neue Hütten errichtet werden. In den von Müll übersäten freien Plätzen suchen Kinder nach Gegenständen, die noch irgendeinen Wert haben. Wer hier geboren wird, hat es schwer, seinem Leben eine Wende zum Besseren zu geben. Einer von denen, die es schaffen könnten, ist Shamin Khan, der Jura-Student im dritten Jahr.
Wie aber studiert es sich an einem Ort, an dem es keine Ruhe, geschweige denn einen Platz zum Lernen gibt? "Ich lerne meistens in der Nacht und in den ganz frühen Morgenstunden. Außerhalb der Uni-Bücherei gibt es keinen Ort, an dem ich wirklich Ruhe hätte. Aber ich kann mich sehr gut konzentrieren. Außerdem hilft mir meine Disziplin und mein starker Wille", sagt Shamin Khan und schließt für einen Moment die Augen, als wäre es ihm peinlich, sich selbst zu loben.
Das tun sonst andere. "Von einem noch ahnungslosen Jungen, der sich in seinem Streben nach Bildung und in seinen Ambitionen nicht einschüchtern ließ, zu einem jungen Mann, der im dritten Jahr Jura studiert seinem Traum ganz nah. Was soll man dazu sagen? Großartig!", erklärt ein Mitarbeiter von PATH. Die 1987 gegründete Peoples Association for Training and Health hat den angehenden Juristen bereits während seiner Schulzeit beraten und unterstützt. PATH hat auch dafür gesorgt, dass Shamin Khan nebenbei Kinder unterrichten kann. Mit diesem kleinen Lehrer-Gehalt finanziert der junge Mann sein Studium.
15 Vollzeit- und 13 Teilzeit-Mitarbeitende sowie zwischen zehn und zwölf zeitweilige Mitarbeiter und Volontäre arbeiten für PATH. Mit ihren Bildungs- und Gesundheitsdiensten erreichen sie etwa 200.000 Menschen. Finanziell unterstützt wird die Organisation unter anderem von "Brot für die Welt". K.T. Chacko, Mitbegründer und Leiter von PATH, erklärt: "Regelmäßig arbeiten wir in sieben Slums. Durch unsere breit angelegten Bildungsprogramme sind wir dann und wann aber auch in weiteren Slums tätig. Drei, in denen PATH regelmäßig arbeitet, genießen begrenzten rechtlichen Schutz. Das heißt die Menschen dort haben das Recht auf eine alternative Unterbringung, wenn sie schriftliche Beweise dafür haben, dass ihre Hütten vor dem Jahr 2000 errichtet worden sind. Die anderen vier Slums haben keinerlei rechtlichen Schutz und ihre Hütten können jederzeit zerstört werden ohne jede Vorwarnung und ohne Entschädigung."
Die Lebensbedingungen in den Slums sind unterschiedlich: "In den halb-legalen Slums gibt es drei Basisleistungen, wenn auch nicht ausreichend: Wasser, Elektrizität und sanitäre Anlagen. In den illegalen Slums gibt es das überhaupt nicht. Die meisten Menschen, die dort leben, sind Gelegenheitsarbeiter, zumeist im Dienstleistungssektor, auf dem Bau, im Straßenbau oder ähnlich. Ihre Jobs sind sehr unsicher und sehr schlecht bezahlt. Manche verkaufen kleine Artikel im Haus-zu-Haus-Verkauf und auf der Straße. Andere sind Handwerker wie Schreiner, Schneider und Sticker. Viele sind arbeitslos. Und wenn sie Arbeit haben, dann handelt es sich oft um Saisonarbeit", erklärt K.T. Chacko.
Auch Deepali Waghmare hat hart gearbeitet an der Zukunft ihrer Familie. Nur wenige Jahre ist es her, dass die heute 39-jährige Frau sich und ihre drei Kinder umbringen wollte aus schierer Verzweiflung. Ihr Mann, damals Kontraktarbeiter in der Textilindustrie, verdiente kaum genug zum Leben. Die Familie hungerte. Der Vater konnte seine Schulden nicht zurückzahlen. Heute sitzt Deepali Waghmare, gekleidet in einen dunkelroten Sari mit hellen Streifen, auf dem Boden eines kleinen gemauerten Hauses in den Slums von Mumbai. Ihre langen, dunklen Haare trägt sie straff zurückgekämmt. Auf ihrer Stirn leuchtet das Bindi, der rote Fleck, der die verheiratete Hindu-Frau kennzeichnet. Sie erzählt ihr Schicksal ruhig, ohne sichtbare Emotionen. Dann und wann unterstreicht sie einen Satz mit Gesten. "Für meine Kinder hatte ich damals mehr Wasser als Milch. Sie sind hungrig ins Bett gegangen und hungrig aufgestanden", sagt sie leise.
Dass Deepali Waghmare und ihre Familie heute ihr Auskommen haben, verdanken sie dem Familienberatungsdienst von PATH. Die Organisation übernahm die Verhandlungen mit den Gläubigern, verschaffte der Mutter eine Teilzeitstelle als Lehrerin und Hausangestellte. Nachts näht sie für andere Familien. Ihr Mann hat sich damit abgefunden, dass seine Frau außerhalb des Hauses arbeitet und damit für den Lebensunterhalt der Familie sorgt. Mit seinem Verdienst als Rikschafahrer trägt er ein wenig zum Familieneinkommen bei. "Heute bin ich der Kopf der Familie. Die Kinder fragen den Vater schon gar nicht mehr", sagt Deepali Waghmare selbstbewusst. "Die Kinder sollen lernen und unabhängig werden."
Ein Path-Mitarbeiter zeigt sich voll Bewunderung über das, was Deepali Waghmare erreicht hat: "Als sie begriff, dass es Menschen gibt, die ihr beistehen, entwickelte sie neue Hoffnung und neues Vertrauen. Sie entdeckte ihr Potenzial und ihre Kraft. Sie hat jede Möglichkeit genutzt, um ihre Familie weiterzubringen", sagt er. "Sie hat Qualitäten, die ihr geholfen haben: Sie war bereit, hart zu arbeiten, sie konnte mit unseren Vorschlägen umgehen und sie konnte mit begrenzten Ressourcen auskommen. Außerdem", fügt er an, "war sie bereit, ihren Ehemann auf diesem Weg mitzunehmen trotz seiner Unzulänglichkeiten."
Viel Verantwortung ruht nun auf ihren Schultern. Fühlt sie sich von ihrem Mann im Stich gelassen? Deepali Waghmare lacht herzhaft: "Es gibt Männer, die besser für ihre Familien sorgen. Er ist misstrauisch und eifersüchtig, früher wegen mir, heute wegen der Kinder. Aber ich habe gelernt, mit ihm zu leben." Und sie hat gelernt zu reden. "Es erleichtert und ist eine Art Psychotherapie für mich." Zwar glaubt sie, dass viele Frauen in den Slums sie bewundern. Aber sie glaubt nicht, dass viele ihrem Beispiel folgen werden. "So etwas braucht eine lange Zeit", sagt sie.
Das sieht Shamin Khan anders. Er ist überzeugt davon, dass sein Beispiel eine Signalwirkung haben kann: "Die jungen Leute sagen sich: Wenn der das kann, dann kann ich das auch." Allerdings: Shamin Khan ist ein Mann, Deepali Waghmare eine Frau. Dieser kleine Unterschied wiegt schwer in einer Gesellschaft, in der der Mann traditionell das Oberhaupt der Familie ist und nur wenige Frauen beruflich und finanziell unabhängig sind.
K.T. Chacko weiß, warum vielen anderen der Aufstieg in ein besseres Leben so schwer fällt: "Die meisten Slum-Bewohner leben zeitweise an ihren Geburtsorten und zeitweise in den Slums der Großstädte. Die Grauzone zwischen legal und illegal ist breit und oft wird dieser ungewisse Status von Einzelnen und von verschiedenen Gruppierungen missbraucht. Diesem System stehen viele Menschen hilflos gegenüber. Wenn die Slum-Bewohner aber Fortschritte machen und es sich wirtschaftlich leisten können, dann ziehen sie fort aus den Slums und andere Zuwanderer nehmen ihren Platz ein. So werden die Slum-Gemeinschaften ständig ihrer erfahrenen Leute beraubt." Wenig hilfreich ist auch die hinduistische, von Fatalismus geprägte Kultur: "Es ist schwierig, Slum-Bewohner einzubinden in langfristig angelegte Maßnahmen, die dazu dienen sollen, ihre Lage zu verbessern. Teilweise sind die Umstände daran schuld und teilweise liegt es am ständigen Überlebenskampf, den diese Menschen führen müssen."
aus: der überblick 03/2006, Seite 104
AUTOR(EN):
Annette Lübbers
Annette Lübbers ist freie Journalistin in Wuppertal. Sie hat die Slums von Mumbai im Auftrag von "Brot für die Welt" besucht.