Wie die Bewohner des sambischen Gwembe-Tals auf die AIDS-Epidemie reagierten
Seit Mitte der achtziger Jahre AIDS in das sambische Gwembe-Tal eingezogen ist, versuchten dessen Bewohner die Erkrankung auf verschiedene Weise zu deuten. Und als immer mehr Fälle bekannt wurden, suchten sie nach Wegen und Mitteln, um Kranke pflegen zu können oder behandeln zu lassen. Dass nun antiretrovirale Medikamente verfügbar sind, löst keineswegs alle Probleme.
von Elizabeth Colson
Mitte der achtziger Jahre machte in Sambia eine neue Bedrohung namens AIDS von sich reden. Von Anfang an wurde die Reaktion auf AIDS dadurch beeinflusst, dass die Krankheit nur eines von vielen Problemen war, mit denen die Menschen zu kämpfen hatten. Die Epidemie brach aus, als die Lage in Sambia bereits schwierig war. Seit 1973 waren die Preise für Kupfer gefallen, das Hauptexportprodukt des Landes. Gleichzeitig stiegen die Preise für Einfuhrgüter rapide an. Die Strukturanpassungsprogramme, die dem verschuldeten Land ab den achtziger Jahren von der Weltbank und dem Internationalen Währungsfonds aufgedrängt wurden, ließen die Arbeitslosigkeit weiter steigen und den Lebensstandard sinken.
Ein Opfer des wirtschaftlichen Niedergangs war das staatliche Gesundheitswesen, das nach der Unabhängigkeit Sambias im Jahr 1964 ausgebaut worden war. Die Kürzungen im Gesundheitswesen fielen in eine Zeit, in der bei verschiedenen Krankheiten unter ihnen Malaria erste Resistenzen gegen Medikamente festgestellt wurden. Auch die Wirkungen des Klimawandels machten sich bemerkbar. Ab den frühen achtziger Jahren häuften sich in der sambischen Südprovinz die Dürrezeiten, Niederschläge fielen unregelmäßiger. Es gab häufiger Missernten und mehr Jahre, in denen die Menschen zum Überleben auf Importe von Nahrungsmitteln angewiesen waren. Diese reichten aber nicht aus, um allen zu essen zu bieten. In den Städten herrschte hohe Arbeitslosigkeit, und die Lohnentwicklung hielt mit der Inflationsrate nicht Schritt. Die meisten städtischen Familien lebten unterhalb der Armutsgrenze und konnten kaum Geld an die Verwandten auf dem Land schicken.
In Hungerjahren haben sich Menschen in ländlichen Gebieten Sambias manchmal gezwungen gesehen, zu entscheiden, wer zu essen bekommt und wer hungern muss. Entscheidungen, wem wann geholfen wird, folgten nicht der westlichen Prämisse, dass Leben um jeden Preis erhalten werden muss. Man war sich allerdings einig, dass man die Pflicht hat, Angehörigen zu helfen, die krank sind, und dass man Angehörige und Nachbarn, die verstorben sind, gebührend betrauern muss. Schließlich können Verstorbene, denen die Familie während ihrer Krankheit nicht die gebührende Achtung gezollt hat, als Rachegeister zurückkehren und ihre Anverwandten für die schlechte Behandlung oder die unterlassene Trauer strafen.
Die Pflicht zur Pflege trifft aber nicht alle Familienangehörige im gleichen Maße. Bevor es Gesundheitszentren und Krankenhäuser gab, fiel den Familienangehörigen der mütterlichen Linie die Aufgabe zu, für die Kranken und Sterbenden zu sorgen. Und auch später wurde von den Angehörigen erwartet, dass sie die Patienten in die Gesundheitseinrichtungen begleiteten und dort pflegten. Nach allgemeiner Übereinkunft pflegten nur direkte Verwandte (der Mutter, manchmal auch die Kinder eines Vaters) Menschen, die ihrer körperlichen Funktionen nicht mehr mächtig waren. In Einzelfällen sorgten aber auch Frauen für ihre inkontinenten Männer. Menschen kümmerten sich aus ganz unterschiedlichen Gründen um kranke und sterbende Anverwandte: aus Einfühlungsvermögen, Angst vor Vergeltung durch die Geister der Toten oder Sorge um den guten Ruf bei den Nachbarn.
Manchmal können Pflichten gegenüber den Lebenden oder den Toten gar nicht erfüllt werden. Dann mag eine symbolische Handlung als Zeichen dafür ausreichen, dass man durchaus tun möchte, was die Pflicht fordert, es aber unter den gegebenen Umständen nicht leisten kann. Beispielsweise erkennen Schuldner ihre Schulden an, auch wenn sie sie nicht bezahlen. Ein symbolisches Zugeständnis kann auch die Geister der Toten vorübergehend zufrieden stellen. Gibt es in einem Hungerjahr kein Korn zum Brauen und fordert ein Geist Bier, dann wird ersatzweise Wasser angeboten, in dem ein paar Getreidekörner gequollen sind, und dem Geist wird mitgeteilt, dass er Bier bekommen wird, sobald man wieder brauen kann. Bestattungen werden schon einmal verschoben, bis es für die Trauernden etwas zum Essen gibt. Kranke erhalten in schwierigen Zeiten eine Mindestversorgung als Symbol für das, was man unter anderen Umständen zu leisten bereit wäre.
Die meisten Menschen im Gwembe-Tal müssen in ihrem Leben häufiger Kompromisse zwischen der Pflicht und dem Möglichen schließen. Die Reaktionen auf die AIDS-Epidemie sind da keine Ausnahme. Die Hilfe, die geleistet wird, variiert von Fall zu Fall und im Lauf der Zeit. Bestimmende Faktoren sind das Wissen über HIV/AIDS, die Einschätzung der verfügbaren Mittel für eine Behandlung oder für die Betreuung eines kranken oder sterbenden Menschen, eine Beurteilung des zu erwartenden Behandlungserfolgs, die Angst vor Ansteckung, die Angst vor Stigmatisierung und schließlich, wenn die Krankheit als AIDS erkannt wird, die Angst vor künftiger Rache seitens des Geistes des Toten, wenn dieser wegen des Pflichtversäumnisses seiner Angehörigen verärgert aus dem Leben scheidet.
Auch nachdem die meisten Menschen in Sambia schon zehn Jahre und länger von AIDS wussten, mochten sie falls sie selbst infiziert waren oder bereits AIDS hatten sich das aus vielerlei Gesichtspunkten nicht eingestehen und auch Angehörige nicht mit HIV oder AIDS in Verbindung bringen. Was immer sie in jenen ersten Jahren über HIV/AIDS wussten, eines hatten sie früh gelernt: Eine AIDS-Diagnose kam einem Todesurteil gleich. In der Tat starben Menschen in Sambia in der Regel etwa zwei Jahre nach dem ersten Ausbruch des vollen AIDS-Krankheitsbildes. Es hieß auch, HIV/AIDS werde durch unerlaubten Geschlechtsverkehr übertragen. Das implizierte, dass die Betroffenen selbst für die Krankheit und die Probleme, die sie anderen damit bereiteten, verantwortlich waren.
Vor allem charismatische Kirchen, die seit den neunziger Jahren enormen Zulauf verzeichneten, unterstützen diese Ansicht indem sie verkünden, dass HIV/AIDS Gottes Strafe für die Sünden der Menschen oder ein Werk des Teufels sei.
Wenn Kranke abstritten, AIDS zu haben, dann wiesen sie sowohl diese Verantwortung als auch den eigenen nahen Tod von sich. Sie verließen sich auf andere Diagnosen mit besseren Zukunftsperspektiven und rechtfertigten so auch ihren Anspruch auf Hilfe und den Einsatz von Geldern der Familie.
Zu Anfang der Epidemie, im Jahr 1982, achtete niemand besonders auf Symptome, die man später als Hinweise auf AIDS zu sehen lernte, etwa geschwollene Beine, Gewichtsverlust und Durchfall. Das hatte es doch schon immer gegeben. Gewichtsverluste wurden in Verbindung gebracht mit Nahrungsmangel infolge schlechter Ernten, niedriger Löhne oder Arbeitslosigkeit, und Durchfälle wurden auf Ruhrerkrankungen zurückgeführt, die in der Region ebenso wie Lungenentzündungen gang und gäbe waren. Diese Krankheiten konnte man erfahrungsgemäß behandeln. Man versuchte sie entweder mit traditionellen afrikanischen Heilmitteln oder in Krankenhäusern und ländlichen Gesundheitszentren mit den Mitteln der Biomedizin zu kurieren. Allerdings hatten sich die Leistungsqualität und die Medikamentenversorgung in den Gesundheitseinrichtungen infolge des Niedergangs der sambischen Wirtschaft bereits verschlechtert. Wer sich um steigende Todes- und Krankheitszahlen Gedanken machte, behielt das lieber für sich.
Wie auch in der westlichen Welt wurde daher die erste HIV/AIDS-Welle im Gwembe-Tal kaum bewusst wahrgenommen. Vielleicht verstärkte sie das allgemeine Unbehagen der frühen achtziger Jahre. Vielleicht war sie Mitauslöser für die Flut von Hexereivorwürfen und Hexenjagden, die die Südprovinz in den Jahren 1981 und 1982 überschwemmte, als ein Dorf nach dem anderen versuchte, die Krankheit und Tod bringenden Hexer und Hexen ausfindig und unschädlich zu machen. Wahrscheinlicher ist aber, dass die Menschen so auf die allgemeine wirtschaftliche und politische Misere reagierten, unter der das ganze Land ab Mitte der siebziger Jahre litt. Diese erschien besonders bitter, weil sie auf den stürmischen Wirtschaftsaufschwung nach der Unabhängigkeit 1964 und die überschäumenden Hoffnungen auf ein besseres Leben folgte. Die AIDS-Epidemie schlich sich so leise ein, dass sie neben all den enttäuschten Hoffnungen und gewachsenen Ängsten keinen allzu großen Eindruck machte.
In den zwanzig Jahren nach 1982, in denen das Wissen über HIV, seine Übertragung und seine Wirkungen auf den menschlichen Körper wuchs und einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich wurde, durchliefen die Menschen unterschiedliche Phasen des Leugnens und der Akzeptanz. In Afrika reagierten die meisten auf die Epidemie zunächst mit Leugnen. Die lange Inkubationszeit ließ einen Zusammenhang zwischen Infektion und ersten körperlichen Symptomen zweifelhaft scheinen. Es war schwer zu akzeptieren, dass jemand, der gesund aussah, eine tödliche Infektion in sich tragen sollte, diese auf andere übertragen werden konnte und in wenigen Jahren zum Tod führen würde. An eine Epidemie mochten viele Sambier erst glauben, als Präsident Kenneth Kaunda Ende 1988 im Rundfunk den AIDS-Tod seines Sohnes bekannt gab und dringend dazu aufrief, sich vor einer Infektion zu schützen. Aber selbst dann war die Mehrheit im Gwembe-Tal immer noch der Meinung, AIDS gebe es nur in anderen Ländern.
In den Dörfern des Gwembe-Tals sprach sich allmählich herum, wie AIDS übertragen wird. Zu akzeptieren, dass die Übertragung durch sexuelle Kontakte erfolgen sollte, fiel ihnen schwer. Zum einen waren sie als Folge der Arbeitskräftewanderung mit sexuell übertragbaren Krankheiten seit langem vertraut und wussten, dass diese mit Antibiotika geheilt werden können. Zum anderen gab es unbestreitbar Menschen, die gesund blieben, obwohl sie bekanntermaßen wechselnde Sexualpartner hatten.
Im Jahr 1990 gaben 99 Prozent der Frauen, die im Rahmen einer Bevölkerungs- und Gesundheitsstudie in Sambia befragt wurden, an, sie hätten von HIV/AIDS schon gehört, und 90 Prozent wussten, dass AIDS durch Geschlechtsverkehr übertragen wird. Das galt für Frauen auf dem Land gleichermaßen wie in den Städten. Weniger Frauen wussten aber, dass AIDS auch von Müttern an ihre Kinder übertragen werden kann. 1992 waren die Wirkungen von AIDS nicht mehr zu übersehen, Berichte von Krankheits- und Todesfällen häuften sich. Zu beobachten war auch, dass Menschen, die lange in Städten gelebt hatten, mit nicht näher definierten Krankheiten in ihre Heimatdörfer zurückkehrten.
Inzwischen war HIV/AIDS eine mit Stigma behaftete Krankheit. Was die Menschen über HIV/AIDS auch theoretisch wissen mochten, im konkreten Fall waren sie nicht bereit zuzugeben, dass sie oder einer ihrer Angehörigen AIDS haben könnten, und sie sprachen auch nicht darüber, dass andere Bewohner ihres Dorfes oder ihnen nahe stehende Menschen an AIDS erkrankt sein könnten. Sie sagten höchstens einmal: »Er hat geschwollene Beine«, oder: »Er ist sehr dünn«, oder: »Man könnte sagen, es sieht wie AIDS aus«. Dass eigene Angehörige AIDS haben, hörte ich 1998 zum ersten Mal, aber in der Regel nur, wenn diese nicht im gleichen Haushalt lebten.
Die Betroffenen und die Angehörigen, die für sie sorgten, klammerten sich an andere Diagnosen. Sie erkannten Symptome der Tuberkulose, Malaria, Ruhr oder einer anderen ihnen lange vertrauten Krankheit, sie diagnostizierten jedes Krankheitszeichen als eigene Krankheit die es im Grunde auch war , und sie hielten jede dieser Krankheiten für medizinisch behandelbar, denn Tuberkulose, Ruhr und Lungenentzündung konnten mit Antibiotika geheilt werden. Wenn das nichts half, schob man die Schuld gern auf die Biomedizin, die die Beschwerden nicht richtig gedeutet habe und nicht wisse, wie sie zu behandeln seien. Viele glaubten, dass das, was die Biomedizin AIDS nannte, in Wirklichkeit eine Krankheit sei, die in der Sprache Tonga unter dem Namen Kahungo oder Chihungo bereits seit langem bekannt war. Man zog sie sich durch Kontakt mit einer Frau zu, die nach einer Fehl- oder Totgeburt nicht gereinigt worden war. Einige afrikanische Heilkundige konnten sie behandeln.
Bei der Einschätzung der frühen Reaktionen ist es wichtig zu wissen, dass viele der mir bekannten ersten AIDS-Patienten im Gwembe-Tal zur gebildeten Elite gehörten, die am ehesten von der Biomedizin Heilung erwartete. Im Gegensatz zur jungen Generation des frühen 21. Jahrhunderts wuchsen sie in einem Sambia auf, in dem ab den sechziger Jahren viele Kinderkrankheiten durch Impfung unter Kontrolle gebracht wurden, Malaria durch den Einsatz von DDT in den sechziger und siebziger Jahren praktisch ausgerottet war, zahlreiche bis dahin nicht behandelbare Leiden wie Tuberkulose mit Antibiotika schnell geheilt werden konnten, sogar Lepra erfolgreich behandelt wurde in einem Sambia, in dem die Sterberate dramatisch gesunken war und die Lebenserwartung kontinuierlich stieg.
Mitte der achtziger Jahre sank das Ansehen der Biomedizin. Die Antibiotika und Malariamedikamente waren nicht mehr so wirksam, weil sich medikamentenresistente Stämme von Krankheitserregern entwickelt hatten. Als bekannt wurde, dass die Biomedizin AIDS diagnostizieren und eine HIV-Infektion feststellen konnte, aber keine Heilung anzubieten hatte, wollte man von den Diagnosen und Prognosen der Biomedizin nichts mehr wissen. Menschen suchten anderswo Hilfe, in der traditionellen afrikanischen Heilkunde, auch in neuen Formen der Geistheilung. Dass afrikanische Heilkundige, die behaupteten, AIDS heilen zu können, in Wirklichkeit Lügner und nur auf Geld aus seien, hörte ich zum ersten Mal 1996 von Menschen, deren Kinder nach erfolgloser Behandlung gestorben waren. Aber auch dann wollten viele die Hoffnung nicht aufgeben. Sie behaupteten, die Krankheit sei durch bösen Zauber hervorgerufen. In solch einem Fall war Heilung möglich, wenn der Hexer erkannt und zum Aufhören gezwungen oder aber ein Gegenzauber wirksam wurde.
In dieser Phase sagten Menschen häufig, wenn es Zauber sei, dann könne es nicht AIDS sein, wenn es dagegen AIDS sei, könne es kein Zauber sein. Bei den meisten Bestattungszeremonien auf dem Land wurden noch Seher befragt, um die Todesursache herauszufinden. Dass dabei ein Tod auf AIDS zurückgeführt wurde und nicht auf Hexerei oder einen Fluch seitens der Vorfahren, akzeptierten nicht alle Trauernden.
Da AIDS in den neunziger Jahren weiter um sich griff und alle Bekämpfungsversuche scheiterten, suchten viele bei Hexenfindern Zuflucht. Die junge Generation vor allem in ländlichen Gebieten glaubte, die Älteren wollten sich mit Hilfe von Zaubermitteln bereichern, die anderen die Lebenskraft raubten. Sie rächten sich, indem sie einen Hexenfinder hinzuzogen, der den Zauber einer verdächtigen Person aufdecken und brechen oder ein ganzes Dorf oder Stadtviertel von Hexern und Hexen säubern sollte. Auch das war nicht unentgeltlich zu haben, in der Regel kostete jeder erkannte und unschädlich gemachte Hexer den Gegenwert von vier Rindern, aber die Hoffnung auf Heilung oder der Wunsch nach Vergeltung rechtfertigten den Aufwand.
Nachdem man es mit der Hexenfindung versucht hatte und Menschen immer noch krank wurden und starben, begann man andere Möglichkeiten auszuloten. Ende der neunziger Jahre fingen die Menschen an zu spekulieren, dass HIV/AIDS eine Strafe für die Missachtung alter Rituale und Tabus sei, dank derer sie in Harmonie mit den Geistern der Toten und den Geistern des Landes gelebt hatten, und dass es ratsam sein könne, diese wieder verbindlich einzuführen.
Auf der Suche nach Heilung ziehen die Menschen ebenfalls von Kirche zu Kirche. Im Gwembe-Tal ebenso wie in anderen Teilen Sambias experimentierten sie seit den Achtzigern, verstärkt aber Ende der Neunziger, viel und gerne mit den jungen charismatischen Kirchen. Diese predigen zwar, dass AIDS die Strafe für sündhafte sexuelle Aktivität sei oder etwas, das der Teufel gesandt habe; sie predigen aber auch, dass ein ausreichend starker Glaube an Jesus der sich häufig an der Bereitschaft misst, die Kirche finanziell zu unterstützen Krankheiten heilen und Wohlstand in dieser Welt bringen könne. Manche behaupten, durch Handauflegen zu heilen.
Die Menschen klammerten sich also trotz desillusionierender Erfahrungen weiter an die Hoffnung und zahlten, was sie aufbringen konnten, für alles, was Heilung versprach. Es fehlte in der Folge oft an Geld für den Kauf von Nahrung, Kleidung oder für die Schulgebühren der Kinder. Als Anfang des 21. Jahrhunderts antiretrovirale Medikamente auf den Markt kamen, hatten viele Familien kein Geld mehr übrig, um sie zu bezahlen. Um zu zeigen, dass sie sich weiter um die Infizierten kümmerten, gaben sie jedoch als symbolische Leistung weiter Geld für billigere Behandlungsmethoden aus.
Die Aktivitäten der Schulmedizin und ihrer Verbündeten, der internationalen karitativen Einrichtungen, waren durchaus vergleichbar. In den Jahren, bevor antiretrovirale Medikamente zur Verfügung standen, hatten diese den Infizierten keine Hoffnung anzubieten, hielten es aber für notwendig, etwas zu tun. Also gaben sie einen Großteil ihrer Mittel für die Förderung von Aufklärungsprogrammen zum Thema HIV/AIDS aus. Sie informierten über das Virus und seine Übertragungswege, über die Notwendigkeit, die Zahl der Sexualpartner zu begrenzen, von den Gesundheitszentren bereitgestellte Kondome zu benutzen und so das Risiko einer Übertragung beim Geschlechtsverkehr zu minimieren. Später kämpften sie auch gegen die Stigmatisierung der HIV-Positiven, der an AIDS erkrankten und der ihnen nahestehenden Menschen. Die Informationen wurden über Rundfunk und Presse und bei öffentlichen Veranstaltungen vermittelt, in Sketchen wurde dargestellt, wie wichtig es ist, eine Infektion zu vermeiden.
Zunächst waren die Programme tatsächlich das effektivste verfügbare Mittel im Kampf gegen HIV/AIDS. Bis in die späten neunziger Jahre floss in diese ein Großteil der bereitgestellten Mittel. Allerdings deutete Ende der neunziger Jahre bereits vieles darauf hin, dass man nur noch denen predigte, die die Botschaft bereits vernommen hatten. Und auch sie wollten nichts mehr davon hören, dass sie im Fall einer Infektion, die viele befürchteten, zu einem frühen Tod verurteilt seien. Deshalb jagten die Informationsprogramme denen, die sie hörten, noch mehr Angst ein, trugen aber weniger dazu bei, sexuelles Verhalten zu ändern. Kondome waren, sofern sie überhaupt zur Verfügung standen, unbeliebt teils, weil sie angeblich das Empfinden sexueller Lust einschränkten, teils aber auch, weil einige Kirchen predigten, die Verwendung von Kondomen sei Sünde. Damit waren diese Kirchen vielleicht erfolgreicher als die, die Predigten über die Sündhaftigkeit außerehelicher Sexualbeziehungen hielten.
Auf Druck Angehöriger, die sich vor einer Infektion schützen wollten, wurde die rituelle Praxis, Überlebende unter anderem durch Geschlechtsverkehr von der Todesbefleckung zu reinigen, Ende der neunziger Jahre geändert oder abgeschafft. Das geschah noch bevor die traditionellen Oberhäupter der Gemeinschaften im Gwembe-Tal Anfang des 21. Jahrhunderts dazu bewegt werden konnten, die rituelle Reinigung zu verbieten. Wenn jemand infolge von AIDS starb, glaubte man nun, der überlebende Ehepartner sei ebenfalls infiziert, auch wenn er einen gesunden Eindruck machte. Man nahm deshalb Abstand von dem Brauch, dass ein Bruder oder Onkel des toten Ehemanns die Witwe erbte. In anderen Bereichen setzten sich die Menschen aber unverändert Risiken aus, auch wenn inzwischen offen gesagt wurde, dass man sich nicht mit der Pflege derjenigen belasten wolle, die sich wissentlich in Gefahr begeben.
Seit Ende der achtziger Jahre ist HIV/ AIDS mit einem Stigma behaftet, und mit der wachsenden Angst vor einer Infektion nimmt die soziale Ausgrenzung zu. Die Menschen wissen, dass AIDS sexuell übertragbar ist. Sie glauben auch, dass AIDS durch Kontakt mit Gegenständen, die eine infizierte Person benutzt hat, oder durch Kontakt mit dem Blut oder anderen Körperflüssigkeiten der Infizierten übertragen wird. In der Südprovinz versuchten Menschen sich von denen fernzuhalten, die sie für HIV-infiziert hielten, noch bevor AIDS-Symptome wahrnehmbar wurden. Das galt selbst für ihnen Nahestehende. Damit sie nicht in Gefahr gerieten, ausgegrenzt zu werden, stritten HIV-Infizierte und ihre Angehörigen in der Öffentlichkeit eine Infektion weiter ab, selbst wenn sie erkannten, dass eine Krankheit mit AIDS zusammenhängt. Nur sehr wenige wollten genau wissen, ob sie HIV-infiziert sind.
Mit der Einführung der antiretroviralen Therapie stellte sich die Frage neu, ob man über eine HIV-Infektion bei sich oder anderen Bescheid wissen wollte. Ein wichtiges Argument dagegen war, dass die Kosten einer Behandlung für die meisten Menschen und ihre Angehörigen unerschwinglich waren. Selbst als 2003 ein Krankenhaus im Gwembe-Tal eine entsprechende Therapie zu subventionierten Preisen anbot, waren die Kosten für die Behandlung einer Person immer noch so hoch, dass die meisten sambischen Familien sie nicht bezahlen konnten. Und in einigen Familien gab es zudem mehrere HIV-infizierte Mitglieder.
Auch im Jahr 2004, als internationale Geber die kostenlose antiretrovirale Behandlung von 100.000 HIV-infizierten Sambiern zusagten, setzte nicht gerade ein Wettlauf um HIV-Tests und Zulassung zu dem Programm ein, obwohl nach Schätzungen des sambischen Central Board of Health (CBOH) über 15 Prozent der Menschen zwischen 15 und 49 Jahren HIV-infiziert sind. Wer von der Möglichkeit einer kostenlosen Behandlung wusste, der wusste auch, dass diese auf fünf Jahre begrenzt war. Danach hätten die Betroffenen selbst oder die Regierung die Kosten übernehmen müssen, was nicht sehr realistisch war. Die Behandlung erforderte zusätzliche Maßnahmen: Um den Ausbruch von AIDS zu verhindern, musste die behandelte Person neben den Medikamenten eine angereicherte Diät zu sich nehmen. Wo sollte die herkommen, wenn eine Familie ohnehin schon nicht genug zu essen hatte? Wer sich zur Behandlung anmeldete, gestand damit außerdem seine HIV-Infektion öffentlich ein.
Hinzukam, dass HIV sich in wirtschaftlich schwierigen Zeiten ausbreitete, in denen die Gelder fehlten, um die Auswirkungen der Epidemie auf die Infizierten und auf die, die für sie sorgen müssen, abzufedern. Die staatliche Unterstützung für das Gesundheitswesen wurde in den neunziger Jahren radikal gekürzt. Zum Teil war das die Folge von Strukturanpassungsprogrammen, die auf die Grundbedürfnisse der Menschen keine Rücksicht nahmen. Seitdem müssen die Menschen für ehemals kostenlose Leistungen bezahlen, und das bei oft schlechter Arzneimittelversorgung und einer dünner werdenden Personaldecke im Gesundheitswesen, weil miserabel bezahlte Ärzte und Pflegekräfte in andere Länder abwandern. Die Hygienebedingungen einschließlich der Wasserversorgung sind mittlerweile wahrscheinlich schlechter als 1980, Choleraausbrüche keine Seltenheit. Die hohe Arbeitslosigkeit und die Häufung von Dürrejahren bringen es mit sich, dass die Menschen weniger Geld für Lebensmittel oder für medizinische Leistungen aufbringen können. Viele können sich das nährstoffreiche Essen nicht leisten, das sie bräuchten, um Krankheitsschübe hinauszuzögern und sich von ihnen besser zu erholen.
Pflegende haben manchmal nicht die einfachsten Mittel für die Pflege zur Hand wie Seife, saubere Kleidung oder frisches Bettzeug. Manche sind selbst schlecht ernährt, hungrig, erschöpft, und sie fühlen sich von der Außenwelt abgeschnitten, weil das Stigma AIDS heute nicht nur den Patienten anhaftet, sondern auch denen, die mit ihnen in nahem Kontakt stehen. Sie wissen, dass sie gefährdet sind, denn hart arbeitende Hände haben so manche Verletzung und kommen ungeschützt mit Körperflüssigkeiten in Berührung. Mit Ausnahme einiger Kirchen tun wenige externe Stellen etwas, um den Pflegenden zu helfen. Die Pflege übernehmen meistens Frauen, die in ländlichen Gebieten zumeist auch für die Ernährung der Familie zuständig sind. Sie arbeiten in dem Wissen, dass sie Menschen versorgen, die unweigerlich sterben werden.
Selbst der phänomenale Mitgliederzulauf zu charismatischen Kirchen hat wenig materielle Unterstützung gebracht. Zu groß ist die Furcht vor Stigmatisierung durch Mitgläubige, wenn bekannt wird, dass man HIV-infiziert ist oder mit einer HIV-infizierten Person in engem Kontakt steht. Auf der anderen Seite können Zusicherungen, dass der Glaube an Gott ein Weg zu Heilung und materiellem Erfolg sei, manchen Menschen die Last erleichtern.
Es spricht sehr für das moralische Rückgrat der Menschen in afrikanischen Regionen mit hohen Infektionsraten, dass sie weiterhin für die Kranken sorgen, die Toten gemeinsam begraben, und versuchen, sich um die hinterbliebenen Kinder zu kümmern. Zu einer sozialen Katastrophe ist es nicht gekommen. Viele haben ein hohes Maß an Mitmenschlichkeit aufgebracht nicht nur für den Augenblick, sondern für die Dauer monate- oder jahrelanger Krankheiten von Menschen, für die sie die Verantwortung übernommen haben. Früher hätte man sagen können, sie tun das als Teil eines allgemeinen Gegenseitigkeitssystems: So wie sie für andere sorgten, konnten sie erwarten, selbst versorgt zu werden. Aber nachdem so viele Menschen der mittleren Generation gestorben sind und die Alten zurückbleiben, ohne noch jemanden zu haben, der für sie selbst sorgt, ist etwas anderes als Gegenseitigkeit im Spiel: Sie bewahren ihre Selbstachtung, indem sie sich als verantwortungsvolle Menschen verstehen, die so gut sie können ihre Pflichten erfüllen.
aus: der überblick 02/2005, Seite 31
AUTOR(EN):
Elizabeth Colson
Elizabeth Florence Colson ist emeritierte Professorin für Ethnologie an der »University of California at Berkeley«, USA.
Dieser aktualisierte Artikel beruht auf einem Vortrag, den die Autorin auf dem Symposium »AIDS and the Moral Order« gehalten hat, und auf einem Artikel, den sie in dem von Philippe Denis und Charles Becker herausgegebenen Band »History of AIDS in Africa« veröffentlichen wird. Dieser Band wird auch auf französisch bei den Verlagen Academia-Brylant und Karthala publiziert.