Die Kirche in Südarmenien setzt sich für eine Modernisierung des Bildungswesens ein
Das armenische Erziehungssystem besaß traditionell einen guten Ruf. Heute ist davon nicht viel übrig geblieben. Schulgebäude sind verfallen, Lehrkräfte leben von privaten Nachhilfestunden und die Lehrmethoden sind völlig veraltet. Der jungen Generation und besonders den weniger Begüterten nimmt das ihre Zukunftschancen.
von Heribert Weiland
Armenien besitzt eine lange Bildungstradition. Viele Armenier waren in der ehemaligen Sowjetunion in Spitzenpositionen zu finden. Das verwundert nicht, wenn man einen Blick in die Geschichte tut. Das Jahrhunderte lang immer wieder in seiner ethnischen und staatlichen Identität bedrohte armenische Volk wurde in erster Linie durch sein gemeinsames Kulturerbe, das heißt Sprache, Schrift und Religion zusammengehalten. Es verfügt über eine Schriftkultur, die eng mit der Tradition des christlichen Armenien zusammenhängt: Die armenisch-apostolische Kirche, entstanden im Jahr 301 also noch vor der Konstantinischen Wende , gilt als die älteste Staatskirche der Welt.
Nach dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums versucht das armenische Volk seit 1991, im Rahmen der neugeschaffenen Armenischen Republik eine eigene, national-staatliche Identität aufzubauen. Der Neuanfang auf dem Scherbenhaufen der Sowjetunion hat jedoch zu enormen Erblasten für das kleine Land geführt, das etwa so groß ist wie Belgien. Die im Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe (COMECON, die 1991 aufgelöste Wirtschaftsgemeinschaft kommunistischer Staaten) koordinierte Produktion kam innerhalb kürzester Zeit zum Erliegen, die Arbeitslosigkeit stieg auf über 70 Prozent, der Lebensstandard der Bevölkerung sank rapide.
Hinzu kamen politische Grenzquerelen und Transportblockaden mit den Nachbarländern Türkei und Aserbaidschan. Kern der Auseinandersetzungen war der Überlebenskampf der autonomen, von Armeniern besiedelten Exklave Nagorno-Karabach. Nach blutigen Auseinandersetzungen behielt die armenische Seite die Oberhand, allerdings unter enormen Kosten. Die hohen Militärausgaben, Vertreibungen und Flüchtlingselend brachten den neuen Staat an den Rand des Bankrotts. Noch heute genießt die einseitig für unabhängig erklärte Bergrepublik Karabach keine internationale Anerkennung und kann nur dank militärischer und finanzieller Hilfe aus Armenien überleben. Die lediglich durch einen brüchigen Waffenstillstand beruhigte, völkerrechtlich völlig ungeklärte Lage kann jederzeit zu einer schwerwiegenden Bestandskrise Karabachs, aber auch ganz Armeniens führen. Spätestens seit Mitte der 1990er Jahre ist das geschundene Armenien, das dann noch 1998 von einem schweren Erdbeben heimgesucht wurde, auf internationale Unterstützung angewiesen.
Die Hilfe ist nicht ausgeblieben. Geopolitische, aber auch humanitäre Gründe sprachen für eine rasche Unterstützung der in Not geratenen südkaukasischen Republik. Wirtschaftliche Hilfe kam aus dem Westen, vor allem aus den USA mit ihrer mehr als zwei Millionen starken, einflussreichen armenischen Diaspora. Politische Unterstützung gab es aber auch von Russland, das angesichts des zunehmend islamisch-fundamentalistischen Gürtels an seiner Südfront in den mehrheitlich christlich orientierten Staaten Georgien und Armenien politisch-militärische Stabilisierungsfaktoren sah.
Die deutsche öffentliche Zusammenarbeit mit Armenien hat sich bisher in Grenzen gehalten. Aber nichtstaatliche Organisationen (NGOs) sind dort seit knapp zehn Jahren zunehmend engagiert. Die inzwischen im EED aufgegangene Evangelische Zentralstelle für Entwicklungshilfe hat 1997 über den Weltkirchenrat mit der armenischen Kirche Kontakt aufgenommen und ist inzwischen an einer Vielzahl von Projekten beteiligt. Vorrangiges Gebiet der Zusammenarbeit ist der Bildungssektor. Darüber hinaus bezieht sich die Kooperation auch auf Basisdienste im sozialen und Gesundheitsbereich, auf die ländliche Entwicklung und Ökologie sowie die Friedens- und Konfliktbearbeitung.
Der Bildungssektor bietet sich für eine Unterstützung besonders an. Armenien verfügte noch in der Sowjetzeit über ein gutes Bildungswesen, das jedoch aufgrund der öffentlichen Verarmung in den letzten Jahrzehnten immer mehr verkümmert ist. Die vormaligen Aktivposten hohe Einschulungsquoten, kostenfreier Zugang, gute Ausstattung und qualifizierte Lehrerschaft konnten nicht aufrecht erhalten werden. Die Wirtschaftsmisere hat zu sinkenden Einschulungsraten und frühzeitigem Schulabbruch, zur Verwahrlosung der Schulgebäude, zum Verschwinden des Unterrichtsmaterials und schließlich zur Abwanderung der Lehrer und zur Privatisierung des Unterrichts geführt. Das öffentliche Schulsystem ist nicht mehr in der Lage, den Anforderungen einer modernen, international wettbewerbsfähigen Ausbildung gerecht zu werden.
Ein Schwerpunkt der Zusammenarbeit des EED liegt im Süden Armeniens, in den Provinzen Vajots Dzor und Syunik. Ein Hauptpartner ist dort die Syunik-NGO, eine nichtstaatliche Organisation, die aus der armenisch-apostolischen Diözese Syunik hervorgegangen ist und deren Spiritus Rector der dortige Bischof Abraham Mkrtchian ist. Kernstück des Engagements der Syunik-NGO ist die Unterstützung der vom Karabach-Krieg stark betroffenen ländlichen Bevölkerung Südarmeniens. Hilfe erhalten vor allem die Kriegswaisen und Vertriebenen aus den früheren armenischen Siedlungsgebieten in Aserbaidschan. Bischof Abraham hat sich bemüht, für sie adäquate Unterkünfte, soziale Sicherung und Beschäftigung zu finden. Mit internationaler Unterstützung aus der Diaspora konnte er ein Hausbauprogramm einleiten, ein Feriendorf für Kinder und Jugendliche einrichten und mit fachlicher und finanzieller Unterstützung des EED Sozialzentren in fünf verschiedenen Orten Südarmeniens errichten.
Besondere Aufmerksamkeit wurde von Anfang an auf die Bildungsförderung gelegt. Nur über Bildung können langfristig sozialer Aufstieg, wirtschaftliche Besserstellung und das politische Überleben sichergestellt werden. Diese Lehre, die die Armenier aus ihrer wechselhaften Geschichte ableiten, ist eine wichtige Antriebskraft für die Bildungsprogramme, die die Syunik-NGO mit Hilfe des EED gegenwärtig betreibt.
Zusammen mit dem National Institute for Education (NIE), dem Think Tank des Erziehungsministeriums, aber auch mit internationaler Unterstützung hat die Syunik-NGO Ansatzpunkte für eine Reformstrategie in Südarmenien entwickelt. Es geht darum, das marode Erziehungssystem zu modernisieren, zu demokratisieren und international wettbewerbsfähig zu machen.
Ein erster Schritt war die Einrichtung von Computer- und Sprachkursen in Englisch für Jugendliche in den Sozialzentren der südarmenischen Städte. Nur wenige Armenier beherrschen eine westliche Fremdsprache, und die so genannte digitale Kluft stellt auch für Armenien ein wesentliches Entwicklungshindernis dar. Mit den Kursen soll der ländlichen Jugend die Möglichkeit geboten werden, kostengünstig Zugang zum modernen Sektor zu erhalten und dadurch ihre Aufstiegs- und Jobchancen zu erhöhen. Inwieweit dies gelungen ist, kann nur für Einzelfälle nachgewiesen werden. Denn wie anderswo stellen auch in der Hauptstadt Eriwan Englisch- und Computerkenntnisse keine Fachqualifikation mehr dar, sondern werden mehr und mehr zur Ausbildungsvorbedingung für eine qualifizierte Beschäftigung.
Weitreichender als die Qualifizierungskurse sind die Reformansätze, die sich mit den Auswirkungen der vorherrschenden Erziehungsstrukturen, insbesondere in der Sekundarschule, befassen. Ansatzpunkt ist der selektive Zugang zu den Universitäten: An sie kommt man nur über das Nadelöhr privater Nachhilfestunden. Die kostspieligen Vorbereitungskurse für die Aufnahmeprüfungen werden von den Lehrern und Lehrerinnen selbst gegeben, die dadurch ihr Einkommen erheblich aufbessern können 600 bis 1000 US-Dollar jährlich nehmen sie pro Schüler. Das private Nachmittagsengagement der Lehrer erklärt sich vor allem aus der Tatsache, dass ihr offizielles Gehalt 20 US-Dollar im Monat kaum übersteigt. Um das lukrative Zubrot nicht zu gefährden, werden die prüfungsrelevanten Inhalte im normalen Unterricht nur unzureichend behandelt.
Die Folge ist, dass sozial benachteiligten Schülerinnen und Schülern der Zugang zu tertiären Bildungsanstalten von vornherein verschlossen ist. Nur eine umfassende Bildungsreform, die ein neues Prüfungssystem, verbindliche Lehrpläne, adäquate Gehälter und eine veränderte Pädagogik vorsieht, könnte einen Ausweg aus dieser Bildungsfalle weisen. Trotz eines von der Weltbank zugesagten, aber nur langsam anlaufenden Millionenkredits für eine umfassende Reform zeichnet sich auf absehbare Zeit nur wenig Änderung ab.
Mit Unterstützung des EED hat die Syunik-NGO seit einigen Jahren das Problem des ungleichen Zugangs angepackt und versucht, sozial benachteiligten Schülern zu helfen. In den Sozialzentren des Südens wird der teure Privatunterricht durch kostenlose oder kostengünstige Kurse für begabte, aber mittellose Schüler ersetzt. Sie sollen dadurch in die Lage versetzt werden, an den Hochschulaufnahmeprüfungen teilzunehmen. Die bisherige Erfolgsbilanz kann sich durchaus sehen lassen: Mehr als vier Fünftel der in den Zentren geförderten Jugendlichen haben in den letzten zwei Jahren die Zulassungsprüfungen zu den tertiären Bildungsinstitutionen bestanden.
Allerdings kann damit die soziale Benachteiligung zwar abgemildert, nicht aber das strukturelle Problem einer besseren Schulpädagogik gelöst werden. In Verbindung mit dem Erziehungsministerium und mit Hilfe des EED versucht die Syunik-NGO deshalb, der überfälligen Bildungsreform auch inhaltlich vorzugreifen: Sie hat ein Fortbildungsprogramm für Lehrkräfte aufgelegt. Die vorherrschenden Unterrichtsmethoden haben sich seit vielen Jahrzehnten kaum verändert: Sie sind autoritär geprägt, lehrerzentriert und auf bloße Wissensanhäufung ausgerichtet, das heißt von einem Denken beherrscht, das den Anforderungen einer modernen Wettbewerbsgesellschaft kaum gerecht wird. Das Fortbildungsprogramm zielt darauf ab, die Lehrer mit einer schülerzentrierten, interaktiven Didaktik vertraut zu machen.
Entsprechend wurden praxisbezogene Methodenlehrgänge organisiert, die von erfahrenen westeuropäischen Pädagogen geleitet werden. Aus sprachlichen Gründen muss sich der Einsatz jedoch in erster Linie auf die westeuropäischen Fremdsprachen wie Englisch, Deutsch und Französisch beschränken, die in den Schulen gelehrt werden und über die überhaupt eine Verständigung mit den Lehrkräften möglich ist. Für eine methodische Fortbildung in den übrigen Fächern wäre die Beherrschung des Armenischen oder zumindest des Russischen notwendig eine Voraussetzung, die zumindest unter westeuropäischen Fachkräften für Methodik kaum zu finden ist. Ob der bislang nur kleinflächige Einsatz im Fremdsprachenbereich, an wenigen Orten und nur von begrenzter Dauer tatsächlich zu spürbaren Verhaltensänderungen führt, ist noch nicht abzusehen, obwohl die individuellen Rückmeldungen mehrheitlich positiv sind.
Die Fortbildungsmaßnahmen sind nicht nur auf die Lehrkräfte ausgerichtet, sondern auch auf die Schulleitungen und die Verantwortlichen im Erziehungsministerium, die sich mit den neuen Methoden auseinandersetzen und dazu Stellung nehmen müssen. Allerdings kann man sich fragen, ob mit derartigen Methodenseminaren nur an Symptomen kuriert wird, bevor es zu umfassenderen und tragfähigeren Änderungen im Rahmen einer größeren Reform kommt. Dennoch haben die Verantwortlichen der Syunik-NGO in Abstimmung mit dem EED bewusst entschieden, mit den Reformbemühungen so bald wie möglich zu beginnen, um die Schulen auf Veränderungen vorzubereiten und wenn möglich einen Schneeballeffekt auszulösen.
Für Innovationen braucht es engagierte Personen, die Veränderungen anstoßen. In der EED-Kooperation mit Armenien treibt der charismatische Bischof Abraham Mkrtchian den Reformprozess immer wieder voran. Fasziniert von der Vision, durch eine breit angelegte Bildungsoffensive ein neues leistungsfähiges Armenien zu schaffen, lässt er sich weder von der Größe der Aufgabe noch von der Vielzahl der administrativen Hindernisse einschüchtern. Innerhalb von zwei Jahren hat er ein weiteres großes Projekt zur Bildungsreform auf den Weg gebracht: Mit Spenden aus der Diaspora hat er in Yeghegnadzor im verarmten Süden des Landes eine private, aber staatlich anerkannte Universität aus dem Boden gestampft, die sich in einer ersten Phase vornehmlich auf die Ausbildung der zukünftigen Lehrkräfte konzentrieren wird. Moderne Sprachen und moderne Lehrmethoden stehen dabei im Vordergrund. Hier scheint das Unmögliche möglich zu werden: Wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg.
aus: der überblick 04/2005, Seite 88
AUTOR(EN):
Heribert Weiland
Prof. Heribert Weiland ist Geschäftsführer des Arnold-Bergstraesser-Instituts in Freiburg im Breisgau, das Forschung und Politikberatung zu überseeischen Staaten betreibt. Er begleitet die Projektarbeit des EED in Armenien.