Unter dem Titel "Den Armen Gerechtigkeit 2000" hat "Brot für die Welt" Ende letzten Jahres ein neues Positionspapier veröffentlicht. Was dort über die Globalisierung zu lesen ist, greift jedoch analytisch viel zu kurz, es ist eindimensional und im entscheidenden Punkt zudem widersprüchlich. Wer in der dritten kapitalistischen Revolution sozialpolitisch handeln will, muss sie erst einmal verstehen.
Ende Juni 2000 erschien in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" eine kleine Glosse, in der die EKD massiv kritisiert wurde. Daniel Deckers, der in der politischen Redaktion für die Katholizismus-Berichterstattung zuständige Redakteur, warf dem Rat der EKD vor, in Fragen der Ökumene die Deutsche Bischofskonferenz zu erpressen. Als Beispiel nannte Deckers die von den Protestanten mit ritueller Larmoyanz vorgetragenen Bitten um ein gemeinsames Abendmahl. Zudem verwies er auf gesellschaftspolitische Erklärungen, die EKD und Bischofskonferenz gemeinsam publizieren. Die EKD nötige die katholischen Bischöfe, sich den alten autoritären protestantischen Staatsglauben zu Eigen zu machen. Denn es sei so, "dass in "Gemeinsamen Erklärungen" wie dem "Wort zur wirtschaftlichen und sozialen Lage" aus dem Jahr 1997 und der jüngsten Verlautbarung über die Rentenreform ein unerträglicher sozialstaatstragender, ja sozialstaatshöriger Protestantismus durchschlägt". "Wenn die EKD der auf faule Kompromisse angelegten Rentenpolitik der rot-grünen Bundesregierung Flankenschutz geben will, ist das ihre Sache. Aber warum muss die Bischofskonferenz das Spiel mitspielen, und sei es in der Hoffnung, die Gewichte einzelner Aussagen noch zu Gunsten von "Eigenverantwortung" zu verschieben?" Man muss sich die Pointe dieser scharfen Kritik vor Augen führen: Deckers erhebt für die römisch-katholische Kirche den Anspruch, sich im Gegensatz zum Protestantismus der freien Selbstverantwortung des Individuums anzunehmen. Die evangelische Kirche sieht er demgegenüber von einer autoritären, antiliberalen Mentalität geprägt.
Man mag von der FAZ denken, was man will. Man mag als Protestant den Katholiken nun umgekehrt vorwerfen, den "Partner" unter Druck zu setzen, um spezifisch katholische Sichtweisen mit der Aura höherer ökumenischer Verbindlichkeit auszustatten. Doch wie Deckers polemische Fundamentalkritik auch immer zu beurteilen ist: Der Vorwurf einer autoritären Staatsnähe des deutschen Protestantismus bedarf selbstkritischer Reflexion. Hat der deutsche kirchliche Protestantismus in politischer Ethik und öffentlicher Verantwortung seit 1945 weniger gelernt als viele seiner führenden Repräsentanten gern behaupten? Ist die konservative Staatsgläubigkeit des 19. und frühen 20. Jahrhunderts in den kirchlichen Funktionseliten seit 1945 bloß nach links hin, zu Gunsten der Sozialdemokraten, umgepolt worden? Wer die sozialpolitischen Verlautbarungen aus fünfzig Jahren EKD bilanziert, kann erstaunliche Kontinuitätslinien zum alten staatsnahen Sozialpaternalismus entdecken. Noch immer denken viele protestantische Kirchenfunktionäre und Ethiker primär vom Staat her. Jedenfalls nehmen sie für die Lösung gesellschaftlicher Probleme vorrangig den Sozialstaat in Verantwortung. Die Eigenverantwortung der Individuen und die Selbstorganisationskräfte der Gesellschaft treten demgegenüber zurück.
Im November 1999 veröffentlichte "Brot für die Welt" ein Positionspapier, um "Erfahrungen aus 40 Jahren ökumenischer Diakonie zu reflektieren und weiterführende Handlungsperspektiven zu gewinnen". Zustimmend zitiert "Brot für die Welt" diverse andere Leitbilder, mit denen die EKD und das Diakonische Werk ihre Standorte in einer schnell sich wandelnden Welt bestimmten. Der Themenkomplex "Globalisierung" spielt dabei eine wichtige Rolle. Noch in der knappen Einleitung, gleich auf Seite 1 des Textes, wird allerdings mitgeteilt, dass die "Veränderungen der neunziger Jahre" keinen Anlass zu einer prinzipiellen Revision der eigenen Tätigkeit geben. "Armut, Not, Elend und soziale Ausgrenzung" prägten noch immer das Leben vieler Menschen im Süden und hätten mittlerweile auch Menschen in Mittel-und insbesondere Osteuropa in eine verzweifelte Lage gebracht. "Insofern sehen wir keinen Anlass, unsere grundsätzliche Orientierung zu verändern." Mir ist keine andere sozialpolitisch aktive Organisation bekannt, die die tiefgreifenden politischen, ökonomischen, technologischen und kulturellen Veränderungsschübe des ausgehenden 20. Jahrhunderts vergleichbar selbstzufrieden kommentiert.
Zunächst werden in einer teils religiös-theologischen, teils moralisierenden Sprache die normativen Grundlagen von "Brot für die Welt" erläutert. Für die Gestaltung der internationalen Ordnung wird mehrfach auf das vor allem von Ökonomen vielfältig kritisierte Sozialwort der Kirchen aus dem Jahr 1997 verwiesen. Dies ist insoweit fatal, als die Aussagen des Sozialworts zum Themenkomplex "Globalisierung" nur wenig analytische Deutungskompetenz erkennen lassen. Die Sprache des moralischen Appells überdeckte schon 1997 den Mangel an differenzierter Beschreibung von Globalisierungsprozessen und ihren vielfältigen Folgeproblemen.
Auch "Brot für die Welt" hält sich nicht lange mit Beobachtungen auf. Der Analyse der gegenwärtigen Lage sind knapp fünf Seiten gewidmet. Für die eigenen Ziele, Forderungen, Handlungsfelder und Methoden der Umsetzung benötigen die Autorinnen und Autoren demgegenüber 24 1/2 Seiten. Der hohe Aufwand an Therapie setzt voraus, dass die Diagnose immer schon feststeht. Der gute Wille will schnell zur helfenden Tat schreiten.
Die tiefgreifenden ökonomischen, politischen und kulturellen Folgewirkungen von Globalisierungsprozessen bilden inzwischen den Gegenstand einer intensiven Debatte von akademischen Experten aller Art. Diese Diskurse werden international geführt. In den letzten Jahren haben sie sich auf die je besondere Leistungskraft der unterschiedlichen Typen des Kapitalismus, die Folgeprobleme der neuen wissenschaftlich-technologischen, vor allem kommunikationstechnologischen Wissensrevolutionen und die widersprüchlichen kulturellen Konsequenzen der kapitalistischen Transformation von bisher nicht oder nur am Rande kapitalistisch geprägten Gesellschaften konzentriert.
"Brot für die Welt" hat diese kontrovers geführten Debatten konsequent ignoriert. Statt einer rationalen Auseinandersetzung mit den Globalisierungsdebatten wird im knappen Analyse-Teil (S. 10-15) nur die pauschale Botschaft mitgeteilt: "Die vielen Gespräche mit Partnern haben uns ... zu der Einsicht gebracht, dass heute die meisten globalen Entwicklungen auf der politischen, sozialen und ökonomischen Ebene der Verwirklichung der biblischen Visionen und unserer Hoffnungen von Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung entgegenlaufen." Gern möchte man wissen, für welche der neuen globalen Entwicklungen dies gilt und welche anderen möglicherweise der Realisierung biblischer Visionen entsprechen. Aber der Leser wird enttäuscht. Bis auf die knappe Mitteilung, dass einige Länder in der Anerkennung von Menschenrechten Fortschritte erzielt haben, bleibt die Beschreibung der Globalisierungsprozesse auf den Grundton moralisierender Wehklagen gestimmt. Die vielen neuen Chancen, die durch ökonomische Globalisierung vor allem mittelständischen Sozialgruppen in Ländern der Dritten Welt eröffnet wurden, werden nirgends thematisiert.
Keineswegs soll hier Globalisierung schön geredet werden. Es geht darum, eine technologische und ökonomische Revolution mit Blick auf ihre vielfältigen Folgewirkungen zu erfassen. Wie schon die früheren kapitalistischen Revolutionen vollzieht sich die Globalisierungsrevolution mit einer ungeheuren, sich noch immer beschleunigenden Dynamik. Dieser äußerst schnelle Wandel provoziert in allen von Globalisierungsprozessen erfassten Gesellschaften tiefgreifende strukturelle Veränderungen und soziale Konflikte. Diese tangieren die betroffenen Gesellschaften in unterschiedlicher Weise. Alte Industriegesellschaften des Westens wie die Bundesrepublik werden von Globalisierungsprozessen anders betroffen als viele Gesellschaften der Dritten Welt, für die die dritte kapitalistische Revolution auch neue Zugänge zu den internationalen Güter-und Kapitalmärkten eröffnet hat.
Diese neuen Perspektiven werden von "Brot für die Welt" ignoriert. Die wenigen Sätze zur Globalisierung enthalten einige Aussagen, die selbst prominente Kritiker der "Globalisierungsfalle" für falsch erklären. In Ziffer 36, dem ersten kurzen Abschnitt zur Globalisierung, wird behauptet, dass die weltweite Expansion des Kapitalismus zu zunehmender ökonomischer Machtkonzentration im Norden geführt, einige Länder und Metropolen des Südens in den weltweiten Handel integriert und die ärmeren Länder des Südens noch stärker als bisher aus der Weltwirtschaft ausgeschlossen habe. Letzteres ist zutreffend. Die beiden ersten Aussagen bedürfen jedoch kritischer Differenzierung. Die alten dogmatischen Grundunterscheidungen von Nord und Süd, reich und arm, mächtig und schwach, innovativ und unterentwickelt werden den komplexer und pluraler gewordenen neuen ökonomischen, sozialen und kulturellen Realitäten nicht gerecht.
Jahrelang hat "Brot für die Welt" Entwicklungshilfe in Indien geleistet. Jetzt hofft die Bundesrepublik darauf, mit der Hilfe der neuen "technischen Intelligenz" und der educated middle class Indiens ihre eklatanten Entwicklungsrückstände in Sachen Informationstechnologie beheben zu können. Nach dem Ende der Diktatur Salazars transferierten alle demokratischen Parteien der Bundesrepublik (allen voran die SPD) viel Kapital und Bildungskompetenz nach Portugal, um dort den Aufbau einer parlamentarischen Demokratie zu fördern. Heute investiert Portugal vergleichweise mehr in das Bildungssystem und die zukunftsorientierte Forschung als die Bundesrepublik, und Portugals zweite Nationalmannschaft kann auf ihre faszinierende Weise demonstrieren, wie reformunfähig und von gerontokratischen Starrsinnsaposteln beherrscht die Bundesrepublik derzeit ist. "Brot für die Welt" fügt sich trotz der rituellen Klage über die deutschen Verhältnisse perfekt in dieses System der Lernverweigerung ein. "In unserem eigenen Land beobachten wir die beunruhigende Tendenz, dass eine auf internationale Konkurrenzfähigkeit der heimischen Unternehmen ausgerichtete Wirtschaftspolitik ein immer größeres Gewicht gewinnt." Will "Brot für die Welt" eine Wirtschaftspolitik empfehlen, die die Bundesrepublik weiter ins Hintertreffen gegenüber anderen, reformfähigeren Industriegesellschaften bringt?
Seit den siebziger Jahren werden in ökumenischen Ethik-Debatten gern transnationale Unternehmen für viele Übel in den Ländern der Dritten und Vierten Welt verantwortlich gemacht. "Brot für die Welt" hält an dieser dogmatischen Sicht fest. Behauptet wird, dass sich die "Transnationalen Konzerne ... in wachsendem Maße ihrer Verantwortung" entziehen. Zahlreiche Studien, denen zufolge gerade ausländische Investoren in vielen Dritt-und Viertwelt-Gesellschaften sich stärker als einheimische Unternehmen an soziale Standards gebunden wissen, werden ignoriert.
Stattdessen beschwört "Brot für die Welt" nur die alte Kritik am liberalen Konkurrenzkapitalismus und an offenen Märkten. Unter den Bedingungen der Globalisierung nehme die Handlungsmacht des politischen Systems ab. "Der Staat als Ordnungsmacht zieht sich weitgehend aus wichtigen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entscheidungsprozessen zurück. Er überlässt deren Gestaltung den Kräften und Mechanismen des Marktes." Auch diese Beschreibung aktueller Wandlungsprozesse dürfte differenzierungsfähig sein. Leiden wir in Deutschland unter einem allzu schlank gewordenen Staat? Oder haben wir viele Probleme unserer Gesellschaft selbst erzeugt, indem wir, alten sozialpaternalistischen Traditionen des starken Gemeinwohlstaates gemäß, eine wachsende Zahl an Aufgaben dem Staat zugewiesen haben? In welchen gesellschaftlichen Prozessen gibt es zu viel Markt und zu wenig Staat?
"Brot für die Welt" weist darauf hin, dass Globalisierungsprozesse in nahezu allen betroffenen Gesellschaften Polarisierung und Desintegration fördern. In der Tat führt die revolutionäre Expansionsdynamik in den alten Industriegesellschaften dazu, dass bestimmte gesellschaftliche Gruppen zunehmend ins soziale Abseits zu geraten drohen. Stärker als je zuvor werden hier soziale Chancen nach Kriterien wie Bildung, Kommunikationskompetenz und Expertenwissen verteilt. Für schlecht Ausgebildete gibt es kaum noch Arbeitsplätze, weil entsprechende Tätigkeiten von sehr viel billigeren Arbeitskräften in anderen Gesellschaften effizienter (und ökonomisch rationaler) erbracht werden können.
Im Hinblick auf die Transformationsgesellschaften Osteuropas und bestimmte Gesellschaften der Dritten und Vierten Welt sind Globalisierungsprozesse deshalb positiv zu würdigen. Die Globalisierung des Kapitalismus hat in Verbindung mit den neuen Kommunikationstechnologien hier dazu geführt, dass von Güter-, Finanz-und Dienstleistungsmärkten bisher ausgeschlossene soziale Gruppen nun einen eigenen Zugang zu globalen Märkten gewonnen haben. In vielen dieser Gesellschaften lässt sich seit den sechziger Jahren die Bildung eines neuen Mittelstandes beobachten, der häufig durch ein hohes Arbeitsethos, rigide moralische Selbstdisziplinierung und eine extrem starke Lernbereitschaft geprägt ist.
Viele der Forderungen, die in den Entwicklungshilfedebatten der fünfziger und sechziger Jahre erhoben wurden, sind durch kapitalistische Globalisierung in Erfüllung gegangen. Diese neuen bürgerlichen Sozialgruppen sind nicht mehr von externer Hilfe abhängig, sondern haben sich vor allem durch starke Bildungsanstrengungen ihre eigenen Wege sozialen Aufstiegs erkämpft. Man mag ihre Wertorientierungen ablehnen, weil sie häufig autoritär sind. Man mag ihren Frömmigkeitsstil verwerfen, weil er uns bisweilen als fundamentalistisch erscheint. Aber man muss den tiefgreifenden gesellschaftlichen Wandel ernst nehmen, der sich beispielsweise in Brasilien, Indien, Korea oder den Tigerstaaten seit den siebziger Jahren beobachten lässt.
Die von "Brot für die Welt" erneut gezeichneten Bilder vom reichen Norden und armen Süden spiegeln bestenfalls noch den nostalgischen Wunsch, an der guten alten Übersichtlichkeit festzuhalten. Realitätsadäquat sind sie nicht mehr. Sowohl in den höchst unterschiedlichen Gesellschaften "des Nordens" als auch im "Süden" sind die Verhältnisse inzwischen sehr viel komplizierter und widersprüchlicher, als sich in der Perspektive eines moralischen Reduktionismus wahrnehmen lässt.
Globalisierung ist ein äußerst widersprüchlicher Prozess. Er wirkt gleichzeitig inklusiv und exklusiv. Er eröffnet neuen sozialen Gruppen Zugänge zu Märkten und schließt in den alten Industriegesellschaften einstmals zentrale Gruppen von der Teilnahme an Märkten aus. "Den" Kapitalismus gibt es jedoch nicht. Ökonomen haben in den letzten Jahren zunehmend die Differenzen zwischen den einzelnen Typen des modernen Kapitalismus betont. Der "rheinische Kapitalismus", den wir als "soziale Marktwirtschaft" preisen, ist durch andere Arrangements zwischen Markt und Institutionenordnung geprägt als etwa der anglo-amerikanische Kapitalismus. Die verschiedenen ostasiatischen Kapitalismen lassen sich nur verstehen, wenn man die besonderen kulturellen und religiös-mentalen Traditionen in den Blick nimmt, die den Umgang der Menschen auf Märkten oder in Unternehmen beeinflussen.
Die These, dass der globale Kapitalismus alle kulturelle Verschiedenheit vernichte und alles gleich mache, ist zu eindimensional. Tendenzen zur Homogenisierung sind häufig mit neuer kultureller Differenzierung und der Beschwörung partikularer Identitäten verbunden. Alle schreiben mit dem Computer, und viele benutzen dabei Windows. Aber die Texte lassen ein extrem breites Spektrum divergenter und häufig auch gegensätzlicher kultureller Orientierungen und ethischer Einstellungen erkennen. Zwar mag die Aussage zutreffen: "Massenmedien verändern das soziale Zusammenleben und beeinflussen das Wertesystem" (Ziffer 42). Der nächste Satz ist jedoch wenig überzeugend: "Religiöse und ethische Werte fallen konsum-und marktorientierten Ideologien zum Opfer. Es findet eine weltweite Angleichung von Lebens-und Konsummustern statt, deren Leitbilder stark von international verbreiteten Produkten und der Werbung für diese Waren bestimmt sind." Gewiss, Coke wird jetzt auch in China und Nordkorea getrunken, und Levis-Jeans finden nicht nur in Lateinamerika, sondern auch in zahlreichen afrikanischen Ländern reißenden Absatz. Aber dies impliziert keineswegs einen generellen Schwund an überkommenen religiösen Normen oder die "konsumistische" Auflösung alter Gemeinschaftswerte.
In vielen Gesellschaften lässt sich das Gegenteil beobachten: Globalisierungsprozesse erzeugen einen hohen Veränderungsdruck, auf den viele Gruppen durch Revitalisierung alter Verbindlichkeiten oder durch eine neue Erfindung (vermeintlich) überkommener starker Identitäten reagieren. "Brot für die Welt" weist in Ziffer 43 selbst auf neue Fundamentalismen hin, "die einer Sinnsuche scheinbar entgegenkommen und Heimat und Orientierung versprechen". Das "scheinbar" spiegelt jene westliche kulturelle Arroganz, die "Brot für die Welt" anderen gern vorhält. Angehörige von Bewegungen, die wir in einer liberalen westlichen Perspektive als "fundamentalistisch" klassifizieren, erleben ihre religiösen Symbolwelten als bergende Sinnkosmoi. Man mag ihre Glaubensüberzeugungen ablehnen. Aber ist es legitim, ihre Sinnsuche von vornherein zu disqualifizieren? Wie passt die pauschale Kritik der Fundamentalismen zu dem von "Brot für die Welt" pathetisch proklamierten Recht ethnischer Minderheiten und indigener Völker, nicht nur Land und angemessene Lebensbedingungen, sondern auch ihre Kultur und ihre Verschiedenheit zu wahren (Ziffer 53)? Sind diesen Minderheiten fundamentalistische Identitäten erlaubt?
In Theologie und Kirche gibt es derzeit nur wenig Sensibilität für die Sprachen, in denen wir überkommene Grundeinsichten des Christentums zu kommunizieren versuchen. Der von "Brot für die Welt" veröffentlichte Text bietet allen Anlass zu einer Kritik der kirchlichen Verbandssprache. Ob eine der Autorinnen oder ein Autor an B. Brechts "Maßnahme" gedacht hat, als er die Formulierung durchsetzte, dass zur Fortentwicklung des Geschlechterverhältnisses "auch spezielle Maßnahmen für Männer durchgeführt werden" können? Sind mögliche Spannungen zwischen den vielen einzelnen Forderungen zureichend bedacht worden? Oder hat man versucht, sie mit vagen Begriffen und in diffusen Formulierungen zum Verschwinden zu bringen, weil man sich nicht eingestehen wollte, dass niemand, auch "Brot für die Welt" nicht, gleichzeitig ein universalistisches Menschenrechtsverständnis, starke Rechte ethnischer bzw. kultureller Minoritäten und eine Kritik der harten "fundamentalistischen" Identitätskonstruktionen vertreten kann?
Das von "Brot für die Welt" formulierte Leitbild ist im entscheidenden Punkt widersprüchlich: Es wird einerseits eine unbedingte globale Verbindlichkeit allgemeiner (klassisch westlich gedeuteter) Menschenrechte eingeklagt. Dazu passt die Kritik an religiösen Fundamentalismen und die Absage an die Unterdrückung von Frauen, wie sie in vielen Gesellschaften institutionalisiert ist. Es wird andererseits allen möglichen kollektiven Subjekten in Gesellschaften "des Südens" ein Grundrecht auf Wahrung partikularer Identität(en) zuerkannt. Gewiss, "Brot für die Welt" will gleichwohl keine "Verstöße gegen die Menschenrechte legitimieren" (Ziffer 59). Aber dann muss man auch die möglichen Konfliktpotenziale präzise benennen. Wer wollte "Brot für die Welt" nicht darin zustimmen, dass Dialog, Verständigung, Frieden und politische Konfliktlösungen zu fördern sind? Wer einen Universalismus der Menschenrechte proklamiert, beteiligt sich unter den gegebenen Bedingungen faktisch an der Verschärfung von Konflikten. Guter Wille allein reicht nicht. Wir bedürfen auch der selbstkritischen Einsicht, dass die Komplexität und Widersprüchlichkeit der von der dritten kapitalistischen Revolution verwandelten Welt auch die Wohlmeinenden in Widersprüche treibt.
Erwiderung von Cornelia Füllkrug-Weitzel (Brot für die Welt)
aus: der überblick 03/2000, Seite 89