Das Projekt »WM-Schulen« fördert soziale Kompetenz und Eine-Welt-Bildung
Fußball bietet einen guten Zugang, um junge Menschen zur Auseinandersetzung mit Grundsätzen der Fairness anzuregen. Auch für das Nachdenken über Probleme armer Länder bietet er Ansatzpunkte. Beides sucht das Projekt WM-Schulen im Vorfeld der Weltmeisterschaft in Deutschland 2006 zu nutzen.
von Bernd Ludermann
Gambia und Finnland bestreiten ein spannendes Halbfinale. Um jeden Ball wird gekämpft, und lautstark feuern die Zuschauer das eigene Fußballteam an. Die Heimmannschaft aus Finnland berennt vom Anpfiff an das gegnerische Tor. Doch sie geht zu ungestüm vor und lässt die Gambier zu Kontern kommen. Kühl nutzen die das aus und führen am Ende verdient mit 2:1 Toren.
Es handelt sich hier, in der Schule Landskronastraße im Norden von Bremen, nicht um ein gewöhnliches Fußball-Länderspiel. Auf dem Platz stehen keine Profis, sondern Schülerinnen und Schüler der fünften und sechsten Klasse. Das Publikum stellen größtenteils ihre Mitschüler; das Geschrei und Gedränge auf dem Schulhof sind groß.
Das Turnier war Teil des bundesweiten Projekts WM-Schulen Fair Play for Fair Life, das Brot für die Welt, das Netzwerk streetfootballworld, die brandenburgische Sportjugend und das Institut für Friedenspädagogik in Tübingen in Gang gesetzt haben. Den gut 200 deutschen Schulen, die sich beteiligen, wurde je eine der im Fußball-Weltverband vertretenen Nationen zugelost. Unter diesen Flaggen spielen sie nun lokale Turniere wie das in Bremen im Juli sowie ihre eigene Version der Weltmeisterschaft 2006: Vier Kontinentalmeisterschaften wurden im September und Oktober ausgetragen, die Finalrunde zwischen den 32 besten Teams findet im Juni 2006 in Potsdam statt.
Gespielt wird nicht klassischer Fußball, sondern Straßenfußball. Dabei ist der Platz, Court genannt, relativ klein und von einer festen Bande eingefasst. Zu jedem Team gehören vier Mitglieder, und zwar sowohl Jungen als auch Mädchen; die Tore eines Teams zählen nur, wenn mindestens einmal ein Mädchen getroffen hat. Zusätzliche Fair-Play-Regeln vereinbaren die Teams vor jedem Spiel, zum Beispiel dass man gestürzten Gegnern wieder aufhilft und auf Schimpfworte verzichtet. Fairness ist hier spielentscheidend: Neben den Siegpunkten drei für den Sieger nach Toren, einer für den Verlierer und je zwei bei Torgleichheit werden bis zu drei Fair-Play-Punkte pro Team für faires Verhalten und die Befolgung der vereinbarten Regeln vergeben. Wie viele dieser Punkte jedes Team erhält, darüber müssen sich beide gemeinsam nach dem Spiel einigen. Genau wie über alle anderen Entscheidungen: Es gibt keinen Schiedsrichter, sondern nur zwei Teamer, die die Debatten moderieren.
Das Projekt soll erstens Toleranz und soziales Verhalten fördern. Die Spielregeln entstammen der Methode Straßenfußball für Toleranz, die im Jahr 2000 in Brandenburg entwickelt wurde. Sie belohnen rücksichtsvolles und kooperatives Verhalten, nicht den unbedingten Siegeswillen. Das zweite Ziel des Projektes ist die Stärkung der Eine-Welt-Bildung an Schulen, erklärt Ulrich Dill von Brot für die Welt. Die beteiligten Schulen treten als Botschafter der ihnen zugelosten Länder auf und sollen sich mit deren Gesellschaft und Kultur beschäftigen. Sie verpflichten sich, mindestens ein lokales Turnier und mindestens einen so genannten Fair-Life-Tag durchzuführen, an dem Schülerinnen und Schüler ihr Land öffentlich vorstellen. Drittens schließlich soll das Projekt den Sport fördern und den Kindern Spaß machen.
Das funktioniert ganz offensichtlich. Beim Turnier in Bremen sind die Kinder Feuer und Flamme nicht nur die Spieler und Spielerinnen, sondern große Teile der Klassen, die das eigene Team siegen sehen wollen. Die Schule an der Landskronastraße vertritt Luxemburg und hat die Bremer WM-Schulen, die unter der Flagge Grenadas und Gambias spielen, zum Turnier eingeladen. Ein halbes Dutzend weitere inoffizielle Mannschaften hat sie selbst aufgestellt so zu Finnland, Estland und Liechtenstein. Auf diese Weise kann sich ein größerer Teil der etwa 250 Schülerinnen und Schüler der Schule, an der nur die Klassen 5 und 6 unterrichtet werden, am Straßenfußball beteiligen. Andere toben sich auf der Hüpfburg oder der Dribbelstrecke aus.
Ähnlich hoch her geht es auf dem Fair-Life-Tag des Eugen-Bolz-Gymnasiums in Rottenburg am Neckar. Auch hier wird auf dem Court ständig gespielt; alle Klassenstufen und ein Lehrer-Team beteiligen sich (die offiziellen Teams der WM-Schulen sind dagegen Mitgliedern der Klassen 5 und 6 vorbehalten). Hochbetrieb herrscht auch an der Torwand und auf der Slalomstrecke für Skateboards.
Für das zweite Ziel, die Förderung des fairen Umgangs und sozialer Kompetenzen, bietet das Projekt WM-Schulen gute Anknüpfungspunkte. Wie man das Thema für den Fair-Play-Tag aufbereiten kann, zeigen etwa selbst geschriebene Theaterszenen der Klasse 5e des Eugen-Bolz-Gymnasiums. Unter anderem spielen die Kinder einen Verkehrsunfall: Einmal flieht der Fahrer, ein andermal holt er Hilfe. Oder sie führen vor, wie Kinder einem Mitschüler das Federmäppchen stehlen und damit herumwerfen, bis der Lehrer hereinkommt. Sollen sie nun den Unfug zugeben, lügen oder heimlich das Mäppchen zurückgeben? Das Publikum Eltern, Lehrer und Schüler muss jeweils die grüne, gelbe oder rote Karte zücken und abstimmen, wie fair oder unfair das Verhalten ist. Die Klasse macht klar, dass sie davon durchaus selbst eine Vorstellung hat; ob die mit der des Publikums übereinstimmt, ist die spannende Frage.
Bei denen, die beim Straßenfußball mitspielen, ist Fairness als erstes auf dem Court gefragt. Sich daran zu halten, kann vor allem für ehrgeizige Jungs eine echte Aufgabe sein. Dass sie die Mädchen auf ungewohnte Weise einbeziehen müssen, scheint kein großes Problem zu sein. Ob sie es in Ordnung finden, dass Tore nur zählen, wenn auch ein Mädchen getroffen hat? Das finden wir gut, erklären drei Jungs der Schule Landskronastraße zwischen zwei Anfeuerungsrunden. Spielen sie denn auch konventionellen Fußball im Verein? Ja natürlich, sagen sie. Und das, ganz klar, macht mehr Spaß. Aber Straßenfußball ist halt etwas anderes und als solcher in Ordnung. Viele Mädchen finden ihrerseits die Regeln zu ihren Gunsten gerade das Gute an diesem Spiel.
Heikel können aber die Debatten zwischen den Teams über Fair-Play-Punkte werden. So beim Spiel zwischen Gambia und Finnland: Fast eine halbe Stunde sitzen beide Teams am Ende im Kreis auf dem Court und streiten über die Verteilung der Punkte. Nur mit Mühe können die beiden Teamer, darunter Simon Groscurth von streetfootballworld, auf einen Kompromiss hinsteuern: Finnland erhält von Gambia einen Punkt für Fairness, Gambia von Finnland gar keinen. Dabei hat Gambia eindeutig viel fairer gespielt, sagt Groscurth, der häufig als Teamer auftritt. Der Sieg ist Gambia wegen der 3:1 Siegpunkte aber auch so nicht zu nehmen.
Solche Auseinandersetzungen sind dann besonders hart, wenn im K.o.-System gespielt wird und die Verlierer ausscheiden, also wenn richtig etwas auf dem Spiel steht, sagt Groscurth. Dann kann schon einmal ein kleiner Hitzkopf die Beherrschung verlieren so wie der quirlige Junge aus dem Team Finnland, der nach dem Spiel einer gegnerischen Spielerin einen Stein hinterher wirft und sie wohl ohne Absicht am Kopf trifft. So etwas zeigt auch, dass bei solchen Turnieren Kinder aus unterschiedlichen Schichten aufeinander treffen, bemerkt Ulrich Dill. Die des ökumenischen Gymnasiums, das Gambia vertritt, stammen deutlich aus stärker gebildeten Schichten. Für sie hat Fußball für die eigene Identität nicht den Stellenwert wie in der Landskronastraße. Üblicher ist hier Tennis oder Hockey. Das Team des Gymnasiums spielt denn auch weniger verbissen als manche der Jungs aus der Landskronastraße, die unbedingt gewinnen wollen.
Doch genau weil Fairness nicht selbstverständlich ist, wird das Projekt gebraucht. Sport kann einen Zugang zu Jugendlichen öffnen, die man sonst nicht leicht ansprechen kann, erläutert Ulrich Dill. Schon bei der Entstehung der Methode des Straßenfußballs stand dieser Gedanke Pate: Jürgen Griesbeck hat sie in Kolumbien mit Jugendlichen entwickelt, die Gewalt und Drogen ausgesetzt waren, und dann nach Brandenburg mitgebracht. Griesbeck ist heute Geschäftsführer von streetfootballworld, das Straßenfußballer in verschiedenen Ländern miteinander vernetzt. Die Ziele der Kicker und damit die Spielregeln sind je nach Land verschieden: In Kolumbien darf man nur drogen- und waffenfrei auf den Platz, in Kenia wird der Einsatz für die Umwelt belohnt, in Nigeria das Spiel mit Aids-Aufklärung verbunden und in Europa ist der Einsatz gegen Rassismus und Geschlechterdiskriminierung vielerorts ein Ziel. Auch ein Projekt von Brot für die Welt in Costa Rica nutzt den Zugang über den Sport, erklärt Dill. Er funktioniere allerdings nur für die Altersgruppe bis höchstens 18 Jahren: Bewusst wenden die WM-Schulen sich an Jüngere, die man noch beeinflussen kann.
Einen guten Anknüpfungspunkt bieten die WM-Schulen auch für die Beschäftigung mit anderen Ländern. In der Schule Landskronastraße wie im Eugen-Bolz-Gymnasium ist es zu einer Identifikation mir dem zugelosten Land gekommen. Die Zehn- bis Zwölfjährigen in Bremen führen stolz ein selbst entwickeltes Quiz über Luxemburg vor, informieren über dessen Schulsystem und schmettern vor dem Spiel dessen Nationalhymne. Im Gymnasium in Rottenburg, das als Frankreich antritt, hat das Einstudieren der Marseillaise nicht ganz geklappt. Doch auch hier säumen während des Fair-Life-Tages viele Schautafeln über Frankreichs Geschichte und Kultur den Schulhof, und Schüler bieten typisches Gebäck ihres Landes an. Offenbar ist die Botschafterrolle als Zugang gut geeignet.
Allerdings hat Uli Jäger vom Institut für Friedenspädagogik beobachtet, dass die Beschäftigung mit den Ländern auch in höheren Klassen oft auf Landeskunde beschränkt ist. Kritische, in Hinsicht auf Fair Life interessante Fragen wie zum Beispiel nach der französischen Kolonialgeschichte blieben meist außen vor. Zudem lenkt die Identifikation mit einem Land nur da automatisch den Blick auf arme Länder, wo der Schule ein Entwicklungsland zugelost worden ist. Dritte-Welt-Themen sind schwierig zu transportieren, wenn man ein europäisches Land vertritt, erklärt Wolfgang Pasche vom Eugen-Bolz-Gymnasium. Der beste Ansatzpunkt ist dann der faire Handel, der in Gemeinschaftskunde oder Religion behandelt wird. Vor allem natürlich der Handel mit Fußbällen die Bälle für das Projekt sind sämtlich fair gehandelt und ohne Kinderarbeit hergestellt.
Auch wo die Schule ein armes Land vertritt, hängt es vom Engagement der Lehrkräfte aus den passenden Fächern ab, wie stark das Thema im Unterricht behandelt wird. Besonders gut klappt die Vermittlung anscheinend an Schulen, die das Thema Dritte Welt traditionell stark beachten.
Zum Beispiel an der Gesamtschule Wulfen, das zur Kleinstadt Dorsten auf der Grenze zwischen Ruhrgebiet und Münsterland gehört. Ihr Leiter Johannes Kratz erzählt, dass es hier schon im Gründungsjahr 1973 eine Dritte-Welt-Gruppe gab nicht zuletzt weil damals viele Vietnamesen und später andere Ausländer hier lebten. Dorsten hat eine Partnerstadt in Nicaragua, so dass ab und zu Besucher von dort an die Schule kommen. Und da ein Lehrer fünf Jahre Fachkraft in Guatemala war, unterhält die Gesamtschule Beziehungen zu einer Schule in Guatemala. An der Stirnwand der Schulmensa hängt ein Plakat über Nicaragua, und Schüler betreiben ständig einen Schreibwarenladen, dessen Erlös den Schulen in Mittelamerika zugute kommt.
Kratz möchte, dass Schüler die Welt als Gesamtzusammenhang begreifen lernen. Das Projekt WM-Schulen hilft bei dieser schulischen Arbeit enorm, sagt er. Seine Schule vertritt Kamerun. Nach der Auslosung hat ein Lehrer herausgefunden, dass eine katholische Kirchengemeinde in der Nähe eine Partnergemeinde im kamerunischen Edea hat, erzählt Kratz. Zwei Deutschlehrer von dort, die zu Besuch bei der Gemeinde waren, wurden daher auch an die Schule in Wulfen eingeladen; jetzt unterstützt die Gesamtschule den Bau eines Sportplatzes an der Schule in Edea. Außerdem wurden zwei kurze Filme über Kinder in Kamerun im Unterricht eingesetzt und Ende Juni ein Fair-Life-Tag über Kamerun durchgeführt.
Die Schülerinnen- und Schülervertretung (SV) unterstützt das Projekt. Bianca zum Beispiel, die in die 10. Klasse geht, zeigt sich von den Filmen aufgewühlt; die Armut in Kamerun hat sie erschreckt und empört. Vielen in ihrer Klasse ging es ähnlich, erzählt sie. Der jüngere Phillip aus der 7. Klasse, selbst ein Fußballer, ist besonders betroffen davon, dass die Kinder in Kamerun in Plastiklatschen und mit einem Lumpenbündel als Ball kicken müssen. Die Mädchen möchten genauer erfahren, ob Frauen in Kamerun ähnlich oder noch mehr benachteiligt werden als in Deutschland. Und von sich aus will die SV einen E-Mail-Austausch zwischen den Schülern in Wulfen und in Edea beginnen und in der Schulzeitung veröffentlichen.
Dass Hilfswerke in Afrika Unterstützung leisten, finden die Schülerinnen und Schüler gut. Anders als die, deren Schulen Frankreich oder Luxemburg vertreten, vertrauen sie allerdings nicht darauf, mit Spezialitäten ihres Landes Geld für die Schule in Edea aufzubringen: Das kamerunische Essen, das die Mensa während des Kamerun-Tages verkauft hat, mochten sie alle nicht gern. Auf dem Weihnachtsmarkt werden sie dieses Jahr doch lieber einheimische Kekse verkaufen und den Erlös nach Kamerun schicken.
Für Fußballfans bleibt nachzutragen, dass Gambia das Turnier in Bremen am Ende gewonnen hätte, wenn sie nicht so fair gewesen wären: Nach Toren lagen sie vorn, gaben aber dem Gegner drei Fairness-Punkte und bekamen, sehr zu Unrecht, nur einen. So gab es in Bremen am Ende zwei Sieger. Und das WM-Schul-Finale in Potsdam haben die Gambier auf dem Kontinentalturnier leider verpasst genau wie die Schule an der Landskronastraße. Das Eugen-Bolz-Gymnasium und die Gesamtschule Wulfen werden dagegen in Potsdam dabei sein.
aus: der überblick 04/2005, Seite 82
AUTOR(EN):
Bernd Ludermann