Israelische Medien haben ihre kritische Distanz zur Regierung verloren
Seit Beginn der zweiten Intifada Ende 2000 haben die israelischen Medien einen Wandel vollzogen. Zunächst waren sie kritische Beobachter und Kommentatoren der Politik von Premier Ariel Scharon. Doch dann verfochten sie, ohne Fragen zu stellen, seinen einseitigen Plan zum Abzug aus dem Gazastreifen. Und seit dem Lynchmord an zwei israelischen Soldaten in einer Polizeiwache überwiegt die emotionale Berichterstattung, und palästinensische Opfer werden nur knapp unter ferner liefen erwähnt.
von Gal Beckerman
Zum ersten Mal seit dem Sechstagekrieg hat der jüdische Staat freiwillig zusammengepackt und einen Teil des Territoriums verlassen, das die Palästinenser als ihr Heimatland reklamieren wodurch de facto die Besatzung teilweise beendet wurde.
Mit Ausnahme vielleicht jener, die auf eine Intervention des Messias gewartet hatten, gab es nur wenige, die daran gezweifelt haben, dass der Rückzug stattfinden würde. Die einzige Unwägbarkeit bestand wohl darin, wie lange und unter wie großer Gewaltanwendung sich die Siedler der Räumung des Landes widersetzen würden. Doch am Ende waren Schall und Wahn in knapp einer Woche vorüber. In Wahrheit schien der Plan, den Ariel Scharon im Dezember 2003 unter dem trügerisch einlullenden Namen »Loslösung« ankündigte, von Anfang an nicht aufzuhalten zu sein. Das lag nicht einfach daran, dass Scharon, der frühere »Vater der Siedlungen« mit seinem Ruf als Bulldozer von enormer Willenskraft, den Plan ins Leben gerufen und umgesetzt hat. Schon vom ersten Moment an, als der Plan auf dem Tisch war, hatte Scharon einen machtvollen Verbündeten an seiner Seite: die israelische Presse.
Obwohl die entschlossene und medienerfahrene Siedlerbewegung sowie einige einflussreiche Schwergewichte des rechten politischen Establishments anderthalb Jahre lang erbittert dagegen ankämpften, haben die drei größten israelischen Tageszeitungen Haaretz, Yedioth Ahronoth und Maariv Scharons Plan beinahe einhellig unterstützt. Das gilt sowohl für ihre Leitartikel als auch für die Berichterstattung. Sie haben die Öffentlichkeit darauf vorbereitet und mitgeholfen, dem Plan eine dauerhafte und sichere Unterstützung von 60 Prozent Befürwortern zu verschaffen. In der jüngsten Vergangenheit hat die Presse sichergestellt, dass sich Scharons Schachzug in eine bestimmte Richtung und nur in diese entwickeln konnte: ohne Verhandlungen, ohne schriftliches Abkommen, ohne irgendeinen nachhaltigen Mechanismus zur Überwindung des Dilemmas zweier Völker, die versuchen, auf einem winzigen Fleckchen Erde zu koexistieren.
Eigentlich wies der Räumungsplan viel zu viele Stolperdrähte auf, um nicht von skeptischen Medien auseinandergenommen zu werden. Indem allerdings bestimmte lästige Fragen vermieden wurden, der Blick nicht allzu weit in die Zukunft reichte und Scharons zugrunde liegende Motive oder langfristige Strategie nie wirklich hinterfragt wurden, hat die israelische Presse geholfen, einer etwas dürftig ausformulierten nationalen Unternehmung einen zwangsläufigen Charakter zu geben.
Nachrichten sind in Israel nie trivial. Und in den spannungsreichen Wochen vor der Räumung stürzten sich die Israelis auf jede noch so kleine Information, jeden Hinweis darauf, was sie im herannahenden August erwarten würde. Die Risse quer durch die Gesellschaft traten in diesen Wochen deutlich zutage. Die tiefe Spaltung in religiöse und säkulare Juden, Aschkenasim (aus Mittel- und Osteuropa stammende Juden) und Sephardim (aus Spanien und Portugal stammende Juden), Arbeiterklasse und Elite zeigten sich an den bunten Bändchen, die landesweit an fast jeder Autoantenne flatterten: orangefarben für die Siedler und blau für die Masse der Räumungsbefürworter.
Die Position der Presse war eindeutig: Über jeden gewalttätigen Auftritt von Gegnern der Loslösung wurde an prominenter Stelle negativ berichtet. Die Zeitungen waren voll von Fotos und Artikeln über randalierende bärtige Sandalenträger mit gestrickter Kippa und hageren jungen Frauen mit langen schwarzen Röcken, deren Sitzblockaden die Straßen versperrten. Die israelische Presse tat sich schon immer schwer mit den Siedlern. Traditionellerweise stammen die Redakteure und Journalisten aus der säkularen, liberalen oberen Mittelschicht der israelischen Gesellschaft. Sie wohnen in den weißen, im Bauhaus-Stil errichteten Apartmenthäusern in den wuchernden Vorstädten Tel Avivs und treffen sich auf einen Kaffee in der Dizengoff-Straße, nur wenige Schritte vom Mittelmeer entfernt. Die Ideologie der Siedler ist ihnen fremd.
Die negative Darstellung der Siedler in der Presse war jedoch nur ein geringer Teil der Unterstützung für den Räumungsplan. In den anderthalb Jahren der Vorbereitung und Diskussion über den Rückzug haben es die Medien einfach versäumt, bestimmte Fragen zu stellen, die jetzt überdeutlich werden, wo wir in Zeiten leben, die hier in Israel inzwischen nur noch The Day After genannt werden. Was steckte in Wirklichkeit hinter Scharons Vorschlag? Wollte er den Friedensprozess wieder in Gang setzen oder wie Dov Weisglass, Scharons Chefberater, in einem umstrittenen Interview sagte ihn in »Formalin« konservieren, um den Druck aus dem Westen los zu sein und Israels Ansprüche auf das Westjordanland zu verfestigen? Und warum dieses Beharren auf einseitigem Vorgehen, einem Rückzug ohne Verhandlung mit den Palästinensern? Hätte der Tod Jassir Arafats, dessen Person immer als Haupthindernis für Verhandlungen galt, im November 2004 nicht ein politisches Umschwenken zur Folge haben müssen? Und wie standen überhaupt die Palästinenser zu dem Plan?
Im Vorfeld des 15. August hat sich die israelische Presse kaum die Mühe gemacht, nachzuvollziehen, wie der Rückzug auf sie gewirkt hat. Ist der Eindruck der Palästinenser eher der, dass Israel davongelaufen ist, sich der gnadenlosen Terrorkampagne geschlagen gegeben hat, oder folgt man Israels Argumentation, dass es sich bei der Räumung um einen Ausdruck von Willensstärke gehandelt habe? Und was wird mit der palästinensischen Autonomiebehörde? Ist sie in der Lage, angesichts der Popularität der extremistischen Hamas-Gruppe die Kontrolle über den Gaza-Streifen zu gewinnen? Und wichtiger noch, bedeutet der einseitige Abzug nicht eine Stärkung der Hamas und eine Schwächung für Abbas, der immer betont hat, dass Verhandlungen der einzige Weg zur Beendigung der Besatzung sind? Ist der Rückzug eine Hilfe bei der Schaffung eines Palästinenserstaates oder bedeutet er seinen Untergang?
Solche Fragen hätten Einfluss darauf haben können, wie diese historische Entwicklung vonstatten gegangen ist. Stattdessen gab es im Frühjahr und Sommer kaum jemanden, der solche Fragen gestellt hätte. Die Presse ist ihrer journalistischen Verantwortung nicht gerecht geworden und hat die politische Entscheidung nicht unter die Lupe genommen, um die verschiedenen Auswirkungen zu analysieren. Fünf Jahre Gewalt in Folge hatten einen lähmenden Effekt. Wie fast alle Israelis waren die Journalisten und Redakteure bereit, die komplexen Aspekte dieser Schnelllösung zu übersehen, wenn es nur eine Hoffnung gäbe, dass der unerträgliche status quo damit durchbrochen würde.
Trotz seiner geringeren Verbreitung bei einer Auflage von 80.000 im Vergleich zu Yedioth Ahronoth mit 600.000 und Maariv mit 400.000 hat Haaretz mit seinem Nachrichtenteil und den Leitartikeln einen ernstzunehmenden Einfluss. Keiner der Mächtigen kann es sich leisten, dessen tägliche unsignierte Leitartikel zu ignorieren. Wie The New York Times, Le Monde und The Guardian betrachtet das Blatt sich als einen Mitspieler, der eine andere Sichtweise auf die häufig existentiellen Zwangslagen des Landes pflegt.
Der Einfluss von Haaretz ist aber nicht ohne Ironie zu sehen. Obwohl die journalistischen Mitarbeiter zu den professionellsten in ganz Israel gehören und die Analysen in dieser Zeitung sicher die tiefstgehenden sind, ist es doch aus redaktioneller Sicht eine der letzten Plattformen einer zunehmend marginalisierten und kontroversen politischen Position: der Linken. Nicht wenige Haaretz-Leser verbindet eine Hassliebe mit dem Blatt, die mitunter noch durch die in den Leitartikeln vertretenen Meinungen angestachelt wird, ohne dass sie in der Lage wären, sich davon zu trennen.
Die zweite Intifada, die Ende 2000 als bewaffneter Aufstand begann, zu einer brutalen Terrorkampagne ausartete und die Symbole zivilisierten Lebens Busse und Cafés zu Stätten von Blutbädern machte, stellte die israelischen Medien vor ein Dilemma: Wie sollte man das nationale Gefühl existentieller Bedrohung, Angst und tiefer seelischer Verletzung wiedergeben und sich gleichzeitig nicht davon überwältigen lassen, um ein gewisses Maß an kritischer Distanz zu bewahren? Das Fernsehen und die Boulevardpresse ergingen sich bald in höchst emotionalen Bildern: schreiende, trauernde Eltern, die nach Selbstmordanschlägen Fotos ihrer lächelnden Kinder hoch hielten; Eindrücke von ausgebrannten Einkaufspassagen mit sichtbaren Blutspuren. Religiöse langbärtige Männer, die den Asphalt nach den winzigsten menschlichen Überresten absuchten. Der Anschlag auf die Diskothek Dolphinarium im Juni 2001, der 21 Teenager das Leben kostete. Das Massaker an 29 Juden bei der Feier des Passah-Festes im März 2002.
Haaretz hatte in dieser gesamten Zeit ein besonderes Problem. Seine Stärke die umfassende Berichterstattung über das Leben im besetzten Palästina erschien unter diesen Umständen selbst den linksorientierten Israelis geradezu unanständig.
Insbesondere wollten sie nichts von Gideon Levy und Amira Hass hören, zwei Haaretz-Reportern, die als einzige israelische Journalisten regelmäßig über die Lebensbedingungen von Palästinensern berichten. Hass ist die einzige israelische Journalistin, die in den besetzten Gebieten wohnt, und hat seit zehn Jahren ihren Wohnsitz in Ramallah und Gaza-Stadt. Als ich israelischen Freunden erzählte, dass ich mich mit den beiden unterhalten wollte, reagierten sie so, als hätte ich gesagt, ich wollte Arafat an seinem Grab in Ramallah die letzte Ehre erweisen. Sogar viele gemäßigte Israelis verunglimpfen die beiden, insbesondere Levy. Die meisten Journalisten sogar einige seiner eigenen Kollegen glauben, er drücke nur auf die Tränendrüse, weise Israel unbillig die Schuld zu und überschreite allen Ernstes die Grenze zur naiven Fürsprache. Nur eine Sammlung seiner Artikel aus diesem Frühjahr in einem Wochenblatt namens Twilight Zone erschien hinreichend harmlos: ein Besuch in einem Arbeitsamt für Bewohner des Gaza-Streifens, die sich erfolglos um Arbeit in Israel bemühen, ein Schwätzchen mit frustrierten jugendlichen Schülern im Westjordanland und das Profil eines palästinensischen Rettungsschwimmers am Strand von Gaza. Allerdings wurden diese Artikel in einer Zeit relativer Ruhe geschrieben. Seine Kritiker beschuldigen ihn, bei seinen Interviews mit Palästinensern, an deren Händen israelisches Blut klebe, zu unterwürfig zu sein und nicht die wirklich harten Fragen zu stellen Beschuldigungen, angesichts derer Levy nicht ganz unschuldig aussieht.
Diese Linie vertrat mir gegenüber auch David Landau, der derzeitige verantwortliche Chefredakteur. Es gehört zur Aura des Blattes, zu dem, als was es sich selber gerne sieht: eine Insel der Erleuchtung und Ausgewogenheit in einem Meer turbulenter Emotionalität. Im Gespräch mit Landau wurde mir aber auch klar, dass die politische Linie von Haaretz in diesen letzten fünf Jahren nicht unverändert geblieben ist. Auch Haaretz ist durch die Selbstmordattentate getroffen und geprägt worden. Das deutlichste Anzeichen war die überschwängliche und unkritische Unterstützung des Blattes für den Räumungsplan.
Wenn man von irgendwelchen Leitartiklern erwarten durfte, dass sie gegenüber der Einseitigkeit der Loslösungsstrategie skeptisch sein würden, zumal sie aus der völlig unerwarteten Richtung ihres Initiators Ariel Scharon kam, dann waren es die von Haaretz. Die Zeitung hatte sich nämlich nicht nur immer für Verhandlungen nach dem Prinzip »Land für Frieden« eingesetzt, sondern darüber hinaus war Scharon auf ihren Seiten jahrzehntelang als Staatsfeind Nummer eins dargestellt worden, eine Art Kreuzung aus Al Capone und Mussolini. Unmittelbar nach der Ankündigung des Plans Ende 2003 hörten sich die Leitartikel der Tageszeitung Haaretz auf einmal an, als hätten Scharons Redenschreiber sie verfasst. Die Löslösung ist die »lebensrettende Medizin für eine Krankheit, die rasch und gierig neue Opfer fordert«, hieß es im Leitartikel vom 6. Oktober 2004. Die Entscheidung der Regierung für den Plan im vergangenen Februar wurde als »eine der wichtigsten und vielleicht entscheidendsten ... seit der Entscheidung zur Gründung des Staates Israels« bezeichnet. Um die Weichen für die Räumung zu stellen, sahen sich die Medien in der Verantwortung, den Premierminister zu schützen. Der damit verbundene Verzicht auf journalistische Verantwortung wurde in den Wochen vor der Räumung offen und schamlos zugegeben. Amnon Abramovitz, ein erfahrener Kommentator des einflussreichen Fernsehsenders Channel 2, ging so weit, Scharon mit einer heiligen religiösen Ikone zu vergleichen, die man »bis zur vollständigen Räumung sorgfältig in ein versiegeltes Päckchen einpacken, mit Schwämmchen und Watte polstern und mit Zellophanpapier überziehen« muss.
Das war etwas Neues. Mindestens dreißig Jahre lang waren die israelischen Medien aufmerksame Wächter. Ihr Watergate ereignete sich im Anschluss an den Jom-Kippur-Krieg 1973, als sie die mangelhafte Vorbereitung der Regierung auf den Überraschungsangriff aufdeckten und dadurch den Rücktritt von Premierministerin Golda Meir provozierten. Scharon selbst war schon immer ein beliebtes Ziel der Kritik und wurde im Libanonkrieg 1982 heftig angegriffen, als die Presse sich weigerte, sich ruhig zu verhalten trotz der von der Regierung ausgegebenen Devise Quiet! We're Shooting (Ruhe! Wir schießen). Dabei wurde damals aufgedeckt, wie Scharon als Verteidigungsminister sein Mandat in schwerwiegender Weise überschritten hatte, indem er den Krieg bis nach Beirut ausgedehnt hatte.
Die blinde Unterstützung des Räumungsplans war nur dadurch möglich, dass die Medien aufrichtig an dessen Notwendigkeit geglaubt haben. Die Presse hatte sich nicht nur Scharons Plan zu eigen gemacht, sondern auch Scharons hebräischen Namen für den Plan, Hitnatkut, was übersetzt »loslösen, abnabeln, abschalten« heißt. Die Medien haben wie so viele Israelis die von Premier Ehud Barak nach dem im Jahr 2000 gescheiterten Gipfelgespräch mit Jassir Arafat in Camp David verbreitete Sichtweise von der mangelnden Friedensbereitschaft der Palästinenser freudig angenommen und sind nie mehr davon abgewichen. Um einen Prozess zu unterstützen, der die Palästinenser völlig aus dem Spiel lässt, muss man erst einmal zu dem Schluss kommen, dass die Palästinenser den Gedanken einer friedlichen Koexistenz aufgegeben haben.
Zum Verständnis des weitreichenden Einflusses dieser Sichtweise ist es wichtig, den Blick auf den Oktober 2000 zu lenken, den Monat, in dem die zweite Intifada begann und in dem diese Überlieferung entstand. In den ersten zwei Oktoberwochen jenes Jahres hatten sowohl die Palästinenser als auch die Israelis ihr spezifisches Medienereignis, das ihnen die vollständige Verderbtheit der jeweils anderen Seite zu bestätigen schien: zwei kurze Sequenzen von Fernsehbildern, die seitdem tausende Male wieder ausgestrahlt worden sind. Zuerst kam es zur Erschießung von Mohammed al-Dura, einem zwölfjährigen Palästinenserjungen, der mit seinem Vater an einem Kontrollposten im Gaza-Streifen in ein Kreuzfeuer geriet. Das Bild seines kleinen zusammengekauerten und zitternden Körpers, der dann tot in sich zusammensinkt, hat in der gesamten arabischen Welt eine außerordentliche Wirkung entfaltet. Dann am 12. Oktober der Lynchmord an zwei israelischen Soldaten in einer Polizeiwache in Ramallah mit dem Bild eines Mannes, dem das Blut von den Händen troff.
Wenn der Tod des Jungen einen Wendepunkt in der arabischen Welt darstellte, so entfaltete die Tötung der Soldaten eine ähnliche Wirkung unter den Juden. Allerdings schreibt Daniel Dor, Professor für Medienkunde an der Universität Tel Aviv und ehemaliger Zeitungsredakteur, in seinem Buch Intifada Hits the Headlines: »Der Lynchmord war nicht die einzige schreckliche Gewalttat in jenen Tagen. Er war Teil einer komplexen Wirklichkeit einer gewaltsamen, tragischen, komplizierten und vollständig paradoxen Wirklichkeit. Die Boulevardpresse jedoch hat daraus ein Ereignis von mythischer Bedeutung gemacht, losgelöst von Zeit und Raum, das ein für alle Mal die »mörderische Natur« eines jeden Palästinensers offenbart hat. Und als solches blieb der Lynchmord während der gesamten Intifada in das kollektive Gedächtnis der Israelis eingeschrieben.«
Die Schlagzeilen am nächsten Tag sagten alles: »Die Palästinenser sind Tiere, keine Menschen« hieß es in Yedioth Ahronoth und »Unmenschen« in Maariv.
Dor weist darauf hin, dass der Ton der Kommentare und Reportagen widerzuspiegeln begann, was als neue Realität angesehen wurde. Am 13. Oktober schrieb Nachum Barnea von Yedioth Ahronoth: »'Keine Tränen mehr, kein Blutvergießen mehr', hat Itzhak Rabin vor über sieben Jahren auf dem Rasen des Weißen Hauses gesagt. 'Es ist Zeit für Frieden.' Jetzt aber stellt sich heraus, dass Rabin sich geirrt hat. Wir alle haben uns geirrt. Zwischen dem Meer und dem Jordan gibt es immer noch ungestillten Hunger nach Blut und Tränen, und manche warten nur darauf, uns damit zu versorgen.«
Am 27. Oktober schrieb Ari Shavit in einem vielbeachteten Interview mit Barak in Haaretz unter der Schlagzeile »Baraks Kopernikanische Wende« über einen Paradigmenwechsel, der im Hinblick auf die Wahrnehmung der Palästinenser stattgefunden hatte. »Die Maskerade ist zu Ende. Das Make-up ist entfernt, die Kostüme sind abgelegt «, schrieb Shavit. »Jetzt können wir das wahre Bild der beteiligten Akteure sehen. Jetzt sehen wir alle der grausamen Realität ins Auge, die uns Barak offengelegt hat und die in der Person Arafats ihren Ausdruck findet.«
Dor merkt an, dass das, was in jenem Oktober so abrupt stattfand, zu einem Vorbild für die Berichterstattung über den Konflikt in den kommenden fünf Jahren wurde: eine betont emotionale Darstellung der israelischen Seite der Geschichte wie unter dem Vergrößerungsglas und das Ausblenden der Story der Palästinenser. Palästinensische Todes- und Unfallopfer rückten auf einmal in den Zeitungen immer weiter nach hinten. Am 2. Oktober schrieben alle drei Zeitungen über palästinensische Todesopfer bei einem gewaltsamen Protest. Einen Tag später begann die Berichterstattung über palästinensische Todesfälle abzunehmen, bis sie ganz auf den hinteren Seiten gelandet ist, wo sie auch geblieben ist.
Die Wirkung dieser Art von Berichterstattung auf die Israelis war sofort deutlich. In einer Umfrage, die Maari am 10. November veröffentlichte, antworteten 38 Prozent der Befragten, dass die Israelis in den ersten fünf Wochen der Intifada mehr gelitten hätten als die Palästinenser, ein Eindruck der sich keineswegs mit den tatsächlichen Zahlen der Toten und Verletzten deckte.
Dor arbeitet noch heute mit Media Watch Groups zusammen, die verfolgen, wie die Erzählweise, die sich in jenem Monat herausgebildet hat, die Berichterstattung der letzten Jahre vorgegeben und festgelegt hat. Und er ist zu einer interessanten Schlussfolgerung gekommen: Es sind nicht so sehr die Berichte selber, die von der vorgegebenen Erzählweise beeinflusst wurden. Die Berichterstattung ist größtenteils leidenschaftslos, ausgewogen und professionell geblieben. Vielmehr ist es der Rahmen, in den die Berichte eingebettet werden, die Fotos, Schlagzeilen und die Platzierung der Artikel also die Arbeit der Redakteure , in der er eine zu starke Vereinfachung des Konflikts ausmacht. Ein Artikel, der beide Seiten des Ereignisses beleuchtet, wird durch eine Schlagzeile unterminiert, die nur einen dieser Aspekte hervorhebt. Eine Geschichte, die ohne emotionale Untertöne auskommt, steht neben einem bedrohlich wirkenden Foto. Jede abweichende Meinungsäußerung wird auf die hinteren Seiten der Zeitung verdrängt. Das trifft Dor zufolge sogar für Haaretz zu und selbst für Levy und Hass. Sie bekommen ihren Platz, um die palästinensische Sichtweise darzustellen, aber ihre Geschichten stehen nie auf Seite eins.
Dieser Trend das anhaltende In-den-Mittelpunkt-Rücken israelischer Terroropfer, das Übergehen der Palästinenser und die Weigerung, die Konflikte anders als unter emotionalen Gesichtspunkten zu sehen ist durch die Zunahme der Gewalt nur noch stärker geworden. Vor der Intifada hatten die Israelis zumindest Kontakt mit wirklichen Palästinensern und sei es, dass sie als Tellerwäscher oder Bauarbeiter für sie gearbeitet haben. Aber seit ein paar Jahren schon wird den Palästinensern die Einreise verweigert, so dass die Israelis sie nur noch aus den Medien kennen. Und das Gesicht, das sie in den Medien sehen, ist gewöhnlich unter einer schwarzen Kapuze versteckt und gehört einem wütenden jungen Mann, der sein Testament verliest, bevor er sich nach Israel aufmacht, um sich dort in die Luft zu sprengen.
Die Person, die diese Situation vielleicht am meisten bedauert, die täglich versucht, dieses Bild abzumildern, ist der Haaretz-Reporter Gideon Levy. Das, was Yavin in seiner Dokumentation als skandalöse Enthüllung präsentiert, ist Levys tägliches Brot. Traurig sieht er aus, hat dunkle Ringe unter den Augen. Schon nach den ersten zehn Minuten unseres Gespräches gesteht er mir sein Gefühl der Einsamkeit. Überraschend ist das nicht. Er veranstaltet schließlich eine Ein-Mann-Show bei dem Versuch, die palästinensische Perspektive der Dinge darzustellen. Und es gibt nicht einen einzigen (außer seiner Kollegin Hass), der es ihm gleichtut. In seinen Augen ist das Wegsehen der israelischen Medien »kriminell«.
»Wenn ein israelischer Soldat durch einen fliegenden Stein einen Kratzer abbekommt, steht die Nachricht auf Seite eins. Wenn fünfzehn Palästinenser von einer Bombe getötet werden, ist das eine kleine Notiz auf Seite sechzehn,« so Levy. »Und was ist die Botschaft? Die Botschaft ist, dass fünfzehn Palästinenser ja nicht so viel wert sind. Sie sind keine Menschen so wie wir. Wissen Sie was: Ihre Leben sind wie fünfzehn tote Hunde.«
Er glaubt, dass ein Prozess der »Entmenschlichung und Dämonisierung« stattgefunden hat. Vielleicht nicht bewusst, aber vielleicht aus wirtschaftlichen Gründen, zur Steigerung der Auflagen. Aber im Endergebnis, so glaubt er, ist das Image des palästinensischen Volkes reduziert worden auf das einer tobsüchtigen Meute.
»Das ist für alle vorteilhaft,« bemerkt er sarkastisch. »Wir haben eine ganz ungewöhnliche Koalition. Die Leser, die nichts davon lesen wollen. Die Reporter, die nichts darüber schreiben wollen. Die Herausgeber, die es nicht publizieren wollen, weil es sich nicht verkauft. Und die Regierung, die kein Interesse daran hat, dass überhaupt irgend jemand es wahrnimmt.«
Levys Hauptvorwurf, dass die Erfahrungswelt der Palästinenser selten thematisiert wird, ist zweifellos wahr. Aber es ist auch wahr, dass es in den Jahren seit Beginn des Oslo-Prozesses 1993 gewisse Verbesserungen gegeben hat. Selbst die düstersten Tage dieser zweiten Intifada lassen sich nicht mit denen der ersten vergleichen, als jedes Interview mit einem Palästinenser vom Direktor der Rundfunkbehörde genehmigt werden musste und Journalisten gehalten waren, in Bezug auf Palästinenserführer vom Gebrauch des Wortes »Person« abzusehen, weil das hebräische Worte dafür Wichtigkeit und Respekt vermittelt. In diesen Tagen gehen jede Woche Dutzende Telefonate zwischen israelischen Journalisten und palästinensischen Quellen hin und her. Führer der palästinensischen Autonomiebehörde (Leute wie Hannan Ashrawi, Mohammed Dahlan und Saeb Erekat) sind heutzutage allen möglichen Leuten in Israel bekannt. Sie tauchen in politischen Karikaturen auf, ohne dass jemand eine Erklärung braucht, wer sie sind.
Und wenn sich die israelischen Medien in einem verbessert haben, so ist das ihre Bereitschaft, Aufpasser über die Soldaten des eigenen Landes zu sein. Viele Artikel in den vergangenen Jahren haben von Misshandlungen an Kontrollpunkten und der unmoralischen Behandlung palästinensischer Gefangener berichtet. Im Juni diesen Jahres brachte Maariv, die als die rechtslastigste der großen Tageszeitungen betrachtet wird, groß die Geschichte einer Auge-um-Auge-Rachemission des Jahres 2002, bei der israelische Soldaten fünfzehn palästinensische Polizisten getötet hatten, um den Tod von sechs israelischen Soldaten am selben Tag zu rächen.
Was allerdings immer noch fehlt, ist jede Form der Berichterstattung über das, was die Palästinenser denken. Nehmen Sie zum Beispiel die Berichte über die palästinensische Reaktion auf die nahende Räumung des Gaza-Streifens. Jede Vorstellung darüber, wie sie den Abzug wahrnehmen, eine kritische Frage stammte in der Hauptsache aus Annahmen, Mutmaßungen und Spekulationen des israelischen Militärs und nicht von irgend jemandem an Ort und Stelle. Scharons genialer Schachzug bestand darin, einen Plan aus der Tasche zu ziehen, den die Presse niemals zurückweisen konnte. Ein Plan, der den meisten Israelis keine Änderung ihrer Meinung über den Konflikt abverlangte. Ein Plan, der ihnen keine Änderung ihrer Meinung über die Palästinenser abverlangte. Sie würden keine neue Geschichte lernen müssen, sondern sich einfach nur immer wieder die alte vorhalten. Das ist der Grund, warum der Plan so populär war, einfach eine natürliche Fortsetzung dessen, was die meisten Israelis sowieso schon für sich akzeptiert hatten: die Aussichtslosigkeit, Frieden zu erreichen.
aus: der überblick 04/2005, Seite 48
AUTOR(EN):
Gal Beckerman
Gal Beckerman ist ehemaliges Mitglied des Redakteurskollegiums des »Columbia Journalism Review« (CJR). Derzeit schreibt er an einem Buch über die Bewegung zur Befreiung von Juden aus der Sowjetunion in Zeiten des Kalten Krieges. Dies ist die gekürzte deutsche Fassung eines Artikels, der im CJR vom September/Oktober 2005 erschienen ist. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.