Einsame Spitze
Chile steht am Beginn einer neuen Ära: Im Oktober 2003 hat das südamerikanische Land formal seinen Antrag für den Beitritt zur “Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung” (OECD) gestellt - den Club der entwickelten Industrieländer. Der wirtschaftliche Aufschwung des Landes ist in erster Linie dem Export und den bilateralen Handelsabkommen mit den USA oder der Europäischen Union (EU) geschuldet. Solche Sonderbeziehungen trüben aber Chiles Verhältnis zu den Nachbarn, die eine regionale Integration anstreben.
von Ernst Hillebrand
Der “Club der Reichen” wird der Zusammenschluss der OECD gelegentlich etwas abfällig genannt, und man denkt an die USA, Japan oder Kanada. Aber Chile? Der formale Schritt vom Entwicklungs- zum Industrieland stellt Chile vor eine Reihe von Herausforderungen, nicht zuletzt für seine Außenpolitik. Das Land muss seine globalen und regionalen Beziehungen neu gestalten. Mit einer aktiven multilateralen Außenpolitik im Rahmen der Vereinten Nationen (UN) und ihrer Sonderorganisationen und durch eine erfolgreiche Außenwirtschaftspolitik verzeichnete Chile bereits gute Erfolge. Im regionalen Umfeld dagegen hat das Land erhebliche Schwierigkeiten. Chile präsentiert sich als vergleichsweise isoliertes Land, dessen Beziehungen zu seinen Nachbarländern gespannt bis konfliktreich sind. Während es seit dem Ende der Diktatur von General Pinochet - unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten betrachtet - in Riesenschritten vorangekommen ist, hat sich seine Regionalpolitik als zu einfach gestrickt und kurzsichtig erwiesen. Sie blieb gefangen in jener “Insel-Logik”, die die geopolitische Wahrnehmung der chilenischen Eliten seit der Unabhängigkeit Anfang des 19. Jahrhunderts prägte. Im Süden das ewige Eis der Antarktis, im Norden die Atacama-Wüste, im Westen die Weite des Pazifik und im Osten die kaum überwindliche Barriere der Anden: In diesem Denken gleicht Chile mehr einer Insel als einem Festland-Staat. Wer die Welt so sieht, braucht sich um Nachbarn kaum zu kümmern.
Entsprechend stand in den vergangenen Jahren nicht die Pflege des Verhältnisses zu den Nachbarländern im Zentrum der chilenischen Außenpolitik, sondern der Ausbau und die vertragliche Absicherung der Wirtschaftsbeziehungen zu den wichtigsten überseeischen Handelspartnern. Höhepunkt dieser Politik war der Abschluss bilateraler Freihandelsabkommen mit der Europäischen Union (EU) im Jahr 2002 sowie mit den USA und Südkorea im Jahr 2003. Chiles Außenpolitik in den letzten eineinhalb Dekaden war wenig mehr als Außenwirtschaftspolitik - sieht man von der Einbindung in das System der Vereinten Nationen (UN) ab. Sie wurde systematisch betrieben, nicht zuletzt mit dem Ziel, die außenpolitische Isolation des Pinochet-Regimes endgültig zu überwinden.
Während diese Außenpolitik im Hinblick auf die angestrebten Ziele durchaus erfolgreich war, zeigte sie sich als unfähig, das historisch belastete Verhältnis zu den Nachbarstaaten nachhaltig zu entspannen. Dies hat die Regierung Chiles im Laufe der vergangenen zwei Jahre schmerzhaft erfahren. Während sich das Land in der Sonne des bilateralen Freihandelsabkommens mit den USA aalte - “Chile in der Liga der Großen” titelt die Regionalzeitung El Sur am Tag der Vertragsunterzeichnung - verschlechterte sich das Klima zu den Nachbarländern deutlich. Insbesondere, weil in diesem Zeitraum alle Anrainer in tiefe politische, soziale, und ökonomische Krisen glitten, deren Ursachen auch in der Außenpolitik Folgen zeigten.
Chile hat historisch mehr oder weniger belastete Beziehungen zu seinen Nachbarn. Im Verhältnis zu Peru und Bolivien sind die Nachwirkungen des Pazifikkrieges von 1879 noch immer spürbar. In diesem Krieg - chilenische Truppen besetzten damals zwei Jahre lang Lima - verlor Bolivien seinen Zugang zum Pazifik und Peru jene südlichen Landesteile, auf deren natürlichen Ressourcen die Erfolge der chilenischen Wirtschaft in den letzten hundert Jahren im Wesentlichen beruhten: der Salpeterboom des ausgehenden 19. Jahrhunderts, der das Pro-Kopf-Einkommen des Landes schon einmal in die Nähe der westeuropäischen Werte brachte, und der Kupferboom, der die tragende Säule der wirtschaftlichen Entwicklung Chiles seit 50 Jahren ist.
Der Verlust des Zugangs zum Meer hat in Bolivien eine tiefe symbolische Bedeutung und wird vom bolivianischen Staat im Bewusstsein der Bevölkerung als klaffende historische Wunde wachgehalten. Schuld an der Unterentwicklung Boliviens, so die herrschende Lesart, sei nicht etwa die Politik der bolivianischen Eliten, sondern das “Einsperren” Boliviens als Binnenland. Dieses Thema - lange Zeit eher politfolkloristischer Art - rückte plötzlich wieder in den Vordergrund der politischen Diskussion: Bolivien besitzt in seinen Amazonas-Gebieten die zweitgrößten Erdgas-Reserven Lateinamerikas. Von Anfang an war der Widerstand im Land gegen den Plan groß, dieses Erdgas mittels einer Pipeline durch das “räuberische” Chile zu leiten. Letztendlich stürzte im April 2002 der damalige Präsident Sanchez de Lozadas über die Mobilisierung verschiedener Protestgruppen und Bewegungen. Der neue Präsident Carlos Mesa benutzte in der Folge geschickt die Frage des Meerzugangs Boliviens und der Gas-Pipeline als Instrument, um den Unmut über die Lebensumstände und die Frustrationen der bolivianischen Bevölkerung umzulenken. Um diese Debatte offenbarte sich ein weit verbreiterter, unterschwellig aggressiver “Anti-Chilenismus”.
Nachdem es der äußerst wackeligen Regierung Mesa gelungen war, die innenpolitische Situation zu stabilisieren, indem sie den chilenischen Sündenbock hervorzog, entdeckte ein anderer angeschlagener Staatschef der Region den Charme dieses Spiels: Alejandro Toledo, der mit Zustimmungswerten im einstelligen Prozentbereich amtierende Präsident Perus. Im Zuge der Diskussion um den bolivianischen Meereszugang setzte auch die Regierung Toledo auf den anti-chilenischen Faktor. Toledo erinnerte sich an einen angeblichen Disput um den genauen Verlauf der Meeresgrenze zwischen Peru und Chile, um sich innenpolitisch wieder Luft zu verschaffen. Zwar gelang es den Regierungen, die Streitigkeiten einzudämmen. Der Eindruck eines weiterhin gespannten Verhältnisses aber blieb und gipfelte schließlich in Hinweisen peruanischer Regierungsmitglieder, Peru sei jederzeit zu einem Waffengang mit jedem Gegner bereit. Im gleichen Zeitraum führten die chilenischen Streitkräfte im Norden des Landes Manöver durch, deren Übungsziel, wie ein Militärsprecher mitteilte, die Abwehr eines Angriffes zweier nicht genannter Nachbarländer sei, die den Durchbruch zum Pazifik planten.
Doch nicht nur mit den Traditionskandidaten Peru und Bolivien liegt Chile über Kreuz, sondern ebenso mit anderen lateinamerikanischen Ländern. Zu Spannungen kam es mit Argentinien, dessen Regierung im April 2004 angesichts interner Versorgungsengpässe einseitig und vertragswidrig die Gaslieferungen nach Chile halbierte. Während in Chile aufgrunddessen ein Energienotstand drohte, sprang Bolivien kurzfristig mit Lieferungen nach Argentinien ein. Im Gegenzug musste die argentinische Regierung zusichern, dass, so der bolivianische Präsident Mesa wörtlich, “nicht ein Molekül bolivianischen Gases” über das argentinische Pipelinenetz nach Chile gelangen würde. Form und Ton der Auseinandersetzungen zwischen Santiago und Buenos Aires, wer für diesen Gang der Dinge die Verantwortung trage, waren nicht immer von diplomatischer Höflichkeit. Der aussichtsreiche Präsidentschaftskandidat der chilenischen Rechtsparteien, Joaquin Lavín, forderte auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzung im Mai 2004 einen Boykott argentinischer Waren als Strafaktion für die schrumpfenden Gaslieferungen. Schlussendlich entschärften professionelle Diplomatie und direkte politische Kontakte zwischen den Regierungen und einzelnen Politikern die Krise.
Sogar gegenüber der größten Nation Lateinamerikas, Brasilien, herrscht alles andere als eitel Sonnenschein. Hier rächt sich im Moment vor allem die unglückliche Rolle, die Chile im Laufe der Verhandlungen über das geplante gesamtamerikanische Freihandelsabkommen ALCA (Area de Libre Comercio de las Américas) gespielt hat. Brasilien verfolgt unter der Regierung Lula da Silvas eine Strategie der getrennten Verhandlungsführungen: Im Rahmen der ALCA sollten nur allgemeine Zollpräferenzen und Bedingungen für den Marktzugang im kontinentalen Warenhandel geregelt werden. Die - sehr viel schwierigeren und weitreichenderen - neuen Handelsthemen wie Investorenrechte, Agrarsubventionen oder Patent- und Copyright-Bestimmungen, sollten dagegen im Rahmen der Welthandelsorganisation (WTO) verhandelt werden. Dort verspricht sich Brasilien im Zusammenschluss mit anderen Dritte-Welt-Ländern ein größeres Verhandlungsgewicht. Diese Politik Brasiliens wurde von Chile behindert und das chilenische Außenministerium drang - durchaus im Sinne der USA - immer wieder auf ein umfassendes, über die reinen Zoll- und Marktzugangsfragen hinaus gehendes ALCA-Abkommen. Die Gründe für diese Haltung sind selbst für einzelne Beamte im chilenischen Außenministerium und Parlamentarier der Regierungskoalition nicht immer nachvollziehbar gewesen. Dies erfährt man in privaten Gesprächen, öffentlich sagt das niemand. Als Erklärung bleibt die Psychologie: Chile hat für seinen frühen Vertragsabschluss mit den USA im Rahmen des bilateralen Freihandelsabkommens viele bittere handels- und wirtschaftspolitische Pillen schlucken müssen. Jetzt wollte es verhindern, dass andere Länder Lateinamerikas ähnliche Zugeständnisse für ihren Handel zu einem geringeren Preis bekommen sollten. Hier rächte sich die Politik des “glänzenden Alleinseins”. Brasilien hat diese Rolle Chiles nie gern gesehen und dies in unterschiedlichen Formen durchaus zu verstehen gegeben. Allerdings liegen die außenpolitischen Positionen von Chile und Brasilien ohnehin weit auseinander. Dahinter verbergen sich grundsätzlich unterschiedliche Interessenlagen: Chile, als kleines Land und weltweiter Handelsparter, hat ein strukturelles Interesse an einer wirklich multilateralen Außenpolitik, in deren Zentrum die rechtliche Absicherung des Außenhandels und ein gutes Verhältnis zu allen großen Staaten und Märkten der Erde steht. Brasilien dagegen setzt auf eine Strategie der wirtschaftlichen und politischen Regionalintegration in Südamerika, die sich um Brasilien als mit Abstand größtem Land der Region zentrieren würde.
Die Frage, warum das wirtschafts- und sozialpolitisch erfolgreichste Land des Subkontinents in diese Isolation in Lateinamerika geraten konnte, ist nicht ganz einfach zu beantworten. Die chilenische Standardantwort ist schlicht und einfach: Neid. Während das Land dank seiner wirtschaftlichen Erfolge immer besser da stehe, mit den “Großen” der Erde Handelspartnerschaften eingehe und nun an die Tür der Ersten Welt klopfe, taumelten die Nachbarländer von einer Krise in die andere. Diese Einschätzung hört man immer wieder bei Diskussionen, auf Tagungen, vom Podium, im persönlichen Gespräch. Der “Musterschüler, fleißig, erfolgreich und ordentlich”, schreibt die links-liberale Wochenzeitung Siete+7, werde von den anderen Schülern selten geliebt.
Diese Wahrnehmung enthält vermutlich einen Funken Wahrheit. Auch im Falle von Bolivien und Peru springt deutlich ins Auge, dass anti-chilenische Gefühle stets gerne geschürt werden, wenn es innenpolitisch kriselt. Dennoch scheint diese Erklärung verkürzt. Vielmehr handelt es sich bei den Ursachen um ein Gemisch, in dem sich neben Neid und Chauvinismus in den Nachbarländern zumindest zwei weitere Ursachen erkennen lassen: Arroganz und Selbstgefälligkeit. Die Haltung weiter gesellschaftlicher Kreise in Chile gegenüber dem lateinamerikanischen Umfeld ist von großer Überheblichkeit gekennzeichnet. Chile sei, formulieren es Gesprächpartner, die das politische Geschehen verfolgen, “ein gut geführtes Haus in einem schlechten Viertel”. Dieser Diskurs geht mehr oder weniger bewusst durch alle gesellschaftlichen und politischen Schichten. Das Beharren chilenischer Politiker aller Lager darauf, dass Chile im Gegensatz zu anderen ein “ernstzunehmendes Land” sei, gehört ebenso dazu wie die herablassende Art gerade der chilenischen wirtschaftlichen und akademischen Eliten. Eines von vielen Beispielen dafür ist ein Zitat des chilenischen Volkswirtschaftlers Sebastian Edwards, der an der kalifornischen Universität ULCA lehrt. In einem Interview mit dem Zentralorgan der herrschenden Kreise Chiles, der Tageszeitung El Mercurio vom 06. Juni 2004 erklärte er, er sei sehr erleichtert, dass die Einbindung Chiles in den Mercosur nicht stattgefunden habe. Schließlich handele es sich dabei - der Mann spricht im Falle des Mitglieds Brasilien immerhin von der achtgrößten Volkswirtschaft der Erde - “um wenig seriöse Länder”, mit denen sich einzulassen nur Nachteile haben könne. Und selbst in der oben zitierten, halb selbstironischen Formulierung des Wochenblattes Siete+7, das die Isolation Chiles durchaus kritisch reflektiert, schwingt dieselbe Assoziation mit: Wenn der “Musterschüler” Chile fleißig, erfolgreich und ordentlich ist, was sind dann die anderen Länder?
Vergleicht man die Breite des Instrumentariums, mit der die Staaten Europas nach dem Zweiten Weltkrieg daran gingen, das Verhältnis zwischen den Völkern zu sanieren, dann fällt auf, wie wenig derartige Instrumente Chile in den Beziehungen zu den einstigen Kriegsgegnern Peru und Bolivien eingesetzt hat. Lediglich mit Argentinien - beide Länder standen in den siebziger Jahren kurz vor einem Krieg, und in Argentinien ist keineswegs vergessen, dass Chile im Falkland-Krieg die Seite Englands ergriff - kann von einer politischen Zusammenarbeit gesprochen werden, unterstützt seit dem Jahr 1997 durch die Mitarbeit Chiles in den politischen Institutionen des Mercosur.
Chile bietet im Bereich seiner Außenpolitik das Bild eines Landes, dem der eigene Erfolg über den Kopf gewachsen und dem es nicht gelungen ist, seine rasche wirtschaftliche Entwicklung mit einer qualitativen Weiterentwicklung seines außenpolitischen Instrumentariums zu begleiten. Das Land, dem aufgrund seiner Stabilität, seiner Wirtschaftskraft und der demokratischen Legitimität seiner Institutionen unfreiwillig die Rolle eines Stabilitätsankers in einer zunehmend instabilen Region zugewachsen ist, ist im Moment kaum in der Lage, diese Rolle auszufüllen.
Für die Zukunft lassen sich für das “Industrieland Chile” regionalpolitisch drei Herausforderungen klar erkennen. Dazu gehört erstens, sich in der Region ernsthaft an den Entwicklungen zu beteiligen und eine nachbarschaftliche Politik zu entwerfen, die sich an unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen ausrichten muss. Dazu würde auch zählen, weit engagierter als bisher und mit eigenen Mitteln die staatliche Entwicklungsagentur ACI von einer Empfängeragentur zu einer Entwicklungsagentur, die die Zügel in die Hand nimmt, umzubauen und den ärmeren Ländern Lateinamerikas eine ernsthafte technische und organisatorische Zusammenarbeit anzubieten. Zweitens muss die Regierung ihre Politik des “glänzenden Alleinseins” und der “Insellogik” aufgeben und sich stattdessen den Integrationsprozessen im südlichen Lateinamerika zuwenden, die sich immer mehr beschleunigen. Allerdings darf sie dabei nicht die erfolgreiche Strategie der Wirtschaftspolitik aufgeben, sich in den Weltmarkt einzubinden. Außerdem muss drittens eine ernsthafte Diskussion über die Rolle des chilenischen Militärs in der Politik und die Höhe der Verteidigungsausgaben geführt werden. Chiles Verteidigungsausgaben sind gemessen am Bruttosozialprodukt die höchsten Lateinamerikas. Die noch immer geltende “Pinochet-Verfassung” aus dem Jahr 1980 sichert den Streitkräften zu, dass sie jährlich Anschaffungen in Höhe von 10 Prozent des Umsatzes des staatlichen Kupferkonzerns Codelco, des größten Kupferproduzenten der Welt, tätigen können. Diese Anschaffungspolitik hat zu einer durchgehenden Erneuerung des Materials der chilenischen Streitkräfte geführt. Hinsichtlich der Qualität der Ausstattung und des Ausbildungsstands der Truppen dürfte sie allen anderen Armeen Lateinamerikas, mit Ausnahme Brasiliens, überlegen sein. Chile täte gut daran, Teile dieses Geldes in den Ausbau der transkontinentalen Infrastruktur - vor allem der Verkehrsverbindungen in das Amazonasgebiet und in den Mercosur-Raum - und in die wirtschaftliche, wissenschaftlich-technische und kulturelle Zusammenarbeit mit den Nachbarländern zu investieren.
Was Chile an der Schwelle seines Eintritts in die OECD bräuchte, wäre eine Politik des aufgeklärten Selbstinteresses, nämlich gutnachbarschaftliche Beziehungen. Dies liegt nicht zuletzt im langfristigen Interesse der chilenischen Wirtschaft. Das Land verfügt über leistungsfähige und sich internationalisierende Großunternehmen vor allem im Dienstleistungssektor und im Agrobusiness. Wollten sie sich ausweiten, so könnten sie dies der Einfachheit halber über die nachbarschaftlichen Grenzen tun. Dort arbeiten bereits eine Reihe chilenischer Firmen sehr erfolgreich. Die Luftfahrtgesellschaft LAN zum Beispiel hat Filialen in Peru und Ecuador eröffnet, die Holding Cencosud hat mit ihrer Supermarktkette Jumbo in Argentinien Fuß gefasst, in Peru expandiert die Kaufhauskette Fallabella. Eine Reihe chilenischer Weingüter und Obstanbauer investieren in den Nachbarländern, ebenso Unternehmen aus anderen Rohstoff-Sektoren wie Holz und Zellulose.
Auf der anderen Seite kann man sich fragen, ob das Land nicht ganz andere Probleme vordringlich zu lösen hat. Chile hat bei allem Erfolg eine der ungleichsten Einkommensverteilungen der Welt. Allein die Mitgliedschaft im Club der Reichen ändert daran noch nichts.
Die Tücken des chilenischen WirtschaftsmodellsGefährliches GefälleChile zählte in den vergangenen zwanzig Jahren mit einer durchschnittlichen Pro-Kopf-Wachstumsrate von 4,2 Prozent zu den zehn Volkswirtschaften der Welt, die am schnellsten wachsen. Dieser Boom fußt vor allem auf einer erfolgreichen Strategie der Integration der chilenischen Wirtschaft in den Weltmarkt. Der Außenhandelsanteil Chiles am Bruttoinlandsprodukt liegt bei 40 Prozent. Ungefähr die Hälfte der Exporteinnahmen von rund 20,4 Milliarden US-Dollar stammt dabei von lediglich vier Produkten, von deren Nachfrage- und Preisentwicklung auf dem Weltmarkt das Land extrem abhängig ist: Kupfer, Zellulose, Fischmehl und Früchte. Trotz seiner erfolgreichen Entwicklung ist das Land somit weitgehend ein Rohstoffexporteur geblieben. Der Anteil von weiterverarbeiteten Produkten an den Exporten liegt bei lediglich 16 Prozent im Vergleich etwa zu Mexiko mit 83 Prozent oder Indien mit 79 Prozent. Chiles Wachstumsmodell ist somit ausgesprochen anfällig für Schwankungen. Das chilenische Wirtschaftsmodell hat also Stärken und Schwächen. Die Stärken sind klar erkennbar: Das Land kann auf seine Rohstoffe bauen, denn auf absehbare Zeit – nicht zuletzt wegen der Wachstums- und Industrialisierungstendenzen in Asien – sind bei diesen eine solide Nachfrage und damit gute Preise zu erwarten. Hinzu kommt, dass das Land auch bei den so genannten nicht-traditionellen Exportgütern sehr gute Ergebnisse erzielt. Star unter diesen ist sicherlich der chilenische Wein. Im ersten Quartal 2004 wurden 16 Prozent mehr als im gleichen Quartal des Vorjahres ausgeführt, nachdem im gesamten Jahr 2003 mit einem Wert von 285 Millionen US-Dollar bereits 12 Prozent mehr als in 2002 exportiert worden sind. Aber auch die chilenische Lachsproduktion und andere Aquakulturen sind äußerst wettbewerbsfähig und erfolgreich. Chile ist nach Norwegen der zweitgrößte Lachsproduzent in der Welt. Im Jahr 2004 dürfte der Lachsexport des Landes den Wert von einer Milliarde US-Dollar überschreiten. Lachs und Forellen werden dann zwischen fünf und sechs Prozent des Exports ausmachen. Chile besitzt eine Reihe von sehr leistungsfähigen Großunternehmen im Dienstleistungssektor, etwa Finanzdienstleister, deren Anlagefonds wegen des privatisierten Rentensystems eine bedeutende Rolle spielen oder die Supermarktketten Cencosud und die Kaufhauskette Falabella oder die Fluggesellschaft LAN. Es gibt eine erfolgshungrige moderne Unternehmerschaft in den “neuen Sektoren” wie dem Weinbau, dem Obstexport oder der Holzverarbeitung. Das gesellschaftliche Klima ist wirtschafts- und unternehmerfreundlich, und die Regierung hat sich die Förderung der Wirtschaft – auch über die Exportförderungsgesellschaft Prochile – klar zur Aufgabe gemacht. Darüber hinaus hat das Land seine exportorientierte Wachstumsstrategie durch Freihandelsabkommen mit den zentralen Exportmärkten USA, Europäische Union und Südkorea strategisch abgesichert. Mit diesen Stärken des chilenischen Wirtschaftsmodells gehen aber auch deutlich erkennbare Schwächen einher. Dazu zählt erstens die geringe Tiefe der industriellen Fertigung. Die wichtigen Exportbranchen haben bisher nur vergleichsweise schwache Rückkopplungseffekte für die Industrie der chilenischen Volkswirtschaft ausgelöst. Die Zulieferindustrie ist immer noch recht unbedeutend. Damit fungieren die Exportbranchen kaum als Lokomotiven für das verarbeitende Gewerbe und den Arbeitsmarkt. Mit durchschnittlich sieben bis neun Prozent blieb die Arbeitslosigkeit denn auch für ein Land mit derartigen Wachstumsraten in den letzten 15 Jahren ungewöhnlich hoch. Ein zweites Problem sind die geringen Investitionen in Forschung und Entwicklung. Chile investiert mit 0,7 Prozent des Brutto-Inlandsprodukts zu wenig in diesen Bereich. Dabei handelt es sich vor allem um staatliche Investitionen, die Beiträge der privaten Investitionen sind sehr gering. Im August 2004 scheiterte eine Regierungsinitiative zur Einführung einer Bergbau-Royalty (einer Abgabe für ausländische Bergbau-Großgesellschaften) an der Lobby der internationalen Kupferkonzerne und der rechten Oppositionsparteien. Deren Einnahmen sollten für den Aufbau einer chilenischen Forschungs- und Hochschullandschaft genutzt werden. Drittens steht einer Reihe leistungsfähiger und moderner Unternehmen ein Heer von Kleinunternehmen im einfachen verarbeitenden Gewerbe gegenüber, die in vielerlei Hinsicht nicht wettbewerbsfähig sind, andererseits jedoch 80 Prozent der Arbeitsplätze des Landes schaffen. Dieser Teil der Wirtschaft kann weder modernste Technik absorbieren noch als Zulieferer für eine anspruchsvolle, hoch technisierte Produktion für internationale Märkte dienen. Viertens besteht die Gefahr, dass die Deviseneinnahmen als Folge erfolgreichen Rohstoffexports den Wechselkurs des Peso nach oben treiben. Bereits während der neunziger Jahre verursachte der Boom der Rohstoffexporte einen deutlichen Aufwertungstrend für den chilenischen Peso. Dieser Effekt ist zwar unproblematisch für die Exportbranchen mit deutlichen Wettbewerbsvorteilen gegenüber ausländischen Konkurrenten, er verteuert aber die Waren anderer Produzenten im Vergleich zur Konkurrenz im Ausland und ist somit nachteilig für die Produktion für den Binnenmarkt und den Export solcher Waren. Es besteht dann die Tendenz zur Spezialisierung, die technologische und industrielle Innovationsprozesse auf breiter Front eher blockiert als fördert. Von der Nachfrage auf dem Binnenmarkt ist ebenfalls kein Impuls für die Konsumgüterproduktion zu erwarten. Hier rächt sich, dass Chile in den 15 Jahren nach der Rückkehr zur Demokratie zwar große Fortschritte im Kampf gegen die Armut gemacht hat, das Einkommen jedoch immer noch in höchstem Maße ungleich verteilt ist. Mit einem Gini-Koeffizienten von 0,571 liegt das Land zwar noch hinter Brasilien (mit 0,61), aber doch deutlich in der Spitzengruppe der zehn Länder weltweit, in denen das Einkommen sehr ungleich verteilt ist. (Der Gini-Koeffizient misst die Einkommensverteilung; beim Wert Null herrscht Gleichverteilung, beim Wert Eins hat einer alles; für Deutschland liegt er bei 0,3). Die Demokratie und das Wirtschaftswachstum haben an dieser Entwicklung nichts geändert, im Gegenteil: Laut Weltbankreport Nr. 22037-Ch aus dem Jahr 2001 (mit empirischen Daten der Jahre 1987 bis 1998) hat das Einkommensgefälle zwischen Reich und Arm in dieser Zeit sogar zugenommen – im Gegensatz etwa zu Brasilien, Mexiko oder Kolumbien. Auch die Sozialpolitik der seit dem Jahr 1989 regierenden Koalition (Concertación) – an sich durchaus erfolgreich – hat daran nichts wesentliches geändert. Die Unterschiede in der Lebenswirklichkeit der Bevölkerung des “Industrielandes” Chile sind daher dramatisch: Während die wohlhabendsten 10 Prozent der Bevölkerung 47 Prozent des Volkseinkommens beziehen, liegt der Anteil der ärmsten 20 Prozent bei lediglich 3,4 Prozent. 75 Prozent der chilenischen Bevölkerung verdienen weniger als der statistische Durchschnitt. Das bedeutet Platz zwei auf der Ungleichheitsskala Lateinamerikas, dem Kontinent mit den größten Disparitäten überhaupt. Die Lebenswelt der Menschen ist daher geprägt von tief sitzenden Erfahrungen, in der chilenischen Klassen- und Rassengesellschaft an den Rand gedrängt und diskriminiert zu werden: Laut einer im Mai 2004 veröffentlichten Studie der von Regierungschef Ricardo Lagos gegründeten Stiftung Chile 21 erklärten 44 Prozent der Befragten, selbst Opfer von Diskriminierung geworden zu sein: weil sie arm sind, weil sie Indígenas sind oder weil sie aus den falschen Vierteln der sozial tief gespaltenen Städte Chiles kommen. Große Hoffnung, dass sich das ändern wird, hat die Bevölkerung nicht: 20 Prozent der Bevölkerung meinen, dass die Ungleichheit in den letzten zehn Jahren zugenommen habe, 56 Prozent, dass sie genauso schlimm sei wie immer und dies auch so blieben werde. Lediglich 24 Prozent der Befragten sind der Meinung, dass heute weniger Ungleichheit als vor zehn Jahren existiere. Keine beeindruckende Bilanz nach 20 Jahren Wirtschaftsboom. Ernst Hillebrand |
aus: der überblick 04/2004, Seite 83
AUTOR(EN):
Ernst Hillebrand :
Dr. Ernst Hillebrand ist Projektleiter der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) in Chile. Von 1990 bis 1996 arbeitete er in Kamerun, Cote d'Ivoire und Benin als Projektleiter der FES.