Im Netz weltumspannender Vermarktungsketten
Ein 500 Pfund schwerer Thunfisch wird vor der Küste Neuenglands oder Spaniens gefangen, tausende Meilen nach Tokyo geflogen und auf Auktionen für zehntausende US-Dollar an japanische Käufer verkauft. Teile des Fisches werden später möglicherweise zu Küchenchefs in Hongkong, Los Angeles und sogar New York verschifft. Das ist die verrückte Logik des globalen Sushis und ein Beispiel für die globalisierte Arbeitsteilung in der Fischindustrie.
von Theodore Bestor
Rund 40 Fahrtminuten von der Stadt Bath im US-Bundesstaat Maine entfernt, eine gewundene zweispurige Landstraße hinunter, steht ein alterschwacher, hölzerner Fischpier neben einem leeren Parkplatz. Um 18 Uhr passiert hier nicht viel. Drei bluefin tuna (Blauflossen-Thunfische) liegen in einer riesigen Wanne voller Eis auf dem Ladekai. Zwischen 18.45 Uhr und 19 Uhr füllt sich der Parkplatz mit Autos und Lastwagen, den Nummernschildern zufolge aus New Jersey, New York, Massachusetts, New Hampshire und Maine. Zwanzig Thunfischkäufer klettern heraus, die Hälfte davon sind Japaner. Die drei Thunfische, sie wiegen zwischen 270 und 610 Pfund, werden aus der Wanne gehievt.
Die Käufer drängen sich um sie. Sie nehmen winzige Stichproben, um die Farbe zu prüfen, betasten das Fleisch, um den Fettgehalt festzustellen, schätzen die Krümmung des Körpers ab und untersuchen das von der Harpune hinterlassene Loch, um zu sehen, wie viel Schaden sie wohl angerichtet hat. Nach 20-minütiger Begutachtung der Waren kehren viele der Käufer zu ihren Lastwagen zurück, um über Mobiltelefon Japan anzurufen und die Morgenpreise von Tokyos Tsukiji-Markt zu erfahren - der Antwort der Fischindustrie auf die Wall Street. Dort sind die Thunfischauktionen des Tages gerade zu Ende gegangen. Die Käufer mustern den Fisch ein letztes Mal und geben schriftliche Gebote beim Dockmanager ab, der wiederum das jeweilige Höchstgebot an die Crew weitergibt, die den Fisch gefangen hat.
Die Auktionsgebote sind geheim. Jedes Gebot wird gespannt geprüft von einer Gruppe junger Männer, dem Kapitän und der Besatzung eines jeden Harpunenbootes. Väter und Onkels bieten Rat, Frauen und Kinder schauen auf Vaters Fisch. Bruchstücke besorgter Gespräche schweben über den Parkplatz: "Das ist alles? ... Wären wir nicht besser dran, wenn wir es selbst verschiffen würden? ... Ja, aber mein Lastwagen braucht ein neues Getriebe!" Nach wenigen Minuten sind die Geschäfte gemacht. Die Fische werden schnell auf die Lastwagen in Kisten mit zerstoßenem Eis, in der Branche als "Thunfisch-Särge" bekannt, verladen. So schnell wie sie gekommen ist, verlässt die Flottille der Käufer den Parkplatz wieder - drei von ihnen zu New Yorks Kennedy-Flughafen, wo ihr Thunfisch auf dem Luftweg nach Tokyo verfrachtet wird, um dort am nächsten Tag verkauft zu werden.
Blauflossen-Thunfisch scheint auf den ersten Blick eine ungewöhnliche Fallstudie in Sachen Globalisierung zu sein. Doch derweil sich die Welt neu ordnet - um Silikon-Chips, Starbucks-Kaffeehäuser oder Thunfisch von Sashimi-Qualität (Sashimi sind dünne Scheibchen rohen Fischs) -, verbinden neue Kanäle des globalen Kapital- und Warenflusses weit voneinander entfernte Menschen und Gemeinschaften in unerwartet neuen Beziehungen. Der Thunfischhandel ist ein erstklassiges Beispiel für die Globalisierung einer regionalen Industrie, die intensivem internationalen Wettbewerb und schwierigen Umweltvorschriften ausgesetzt ist. Jahrhundertealte Praktiken verbinden sich mit Hochtechnologie, Arbeit und Kapital ordnen sich in Antwort auf internationale Regulierung neu, Märkte verschieben sich, und weltweit breitet sich eine Esskultur mit Vorliebe für Sushi aus - besonders für Blauflossen-Thunfisch.
Unter japanischen Konsumenten hat Thunfisch nicht viel Werbung nötig. Er ist ungebrochen Japans populärste Meeresfrucht, und die Nachfrage ist das ganze Jahr über hoch. Außerhalb von Japan erfreute sich Thunfisch, vor allem roher, nicht immer solcher Beliebtheit. Sushi ist den Uneingeweihten nicht leicht nahezubringen. Japans Auftauchen als ein bedeutendes internationales Handelszentrum auf der weltwirtschaftlichen Bühne in den siebziger Jahren - verbunden mit dem wachsenden Überdruss westlicher Konsumenten in Nordamerika und Europa an der traditionell deftigen Fleischküche sowie der Vormarsch von Reis, Fisch und Gemüse - bereiteten die Welt auf den Sushi-Fimmel vor. Die Anziehungskraft der exklusiven Ästhetik des japanischen Designs tat ein übriges. Und so wurde Sushi von einer exotischen, fast ungenießbaren ethnischen Spezialität zur Haute Cuisine der exklusivsten Sorte. Sushi ist nicht nur in, sondern populär - ein Teil dessen, was der amerikanische Journalist Doug McGray Japan's Gross National Cool nennt.
Japan bleibt weltweit der bedeutendste Markt für frischen Thunfisch zur Verarbeitung zu Sushi und Sashimi. Die Nachfrage in anderen Ländern ist eine Folge japanischen Einflusses und der Schaffung neuer Märkte durch einheimische Produzenten, die ihren Aktionsradius zu vergrößern suchen. Die weltweite Popularität von Sushi als Symbol einer intellektuellen, kosmopolitischen Konsumentengruppe trifft wenig überraschend ziemlich genau mit einer tiefgreifenden Veränderung in der internationalen Rolle der japanischen Fischereiindustrie zusammen.
Von den siebziger Jahren an schloss die Ausbreitung der 200-Meilen-Zonen für die exklusiv nationale Fischerei überall auf der Welt ausländische Flotten von den Hauptfischgründen vieler Küstennationen aus. Internationale Umweltkampagnen zwangen viele Länder, darunter auch Japan, ihre Hochsee-Flotten zu verkleinern. Bei einer geschrumpften Fischereiindustrie und steigender Nachfrage nach Sushi mussten sich die Japaner ausländischen Anbietern zuwenden. Der japanische Wunsch nach erstklassigem Blauflossen-Thunfisch in der heimischen Küche - festes rotes Fleisch, leicht marmoriert durch Fettadern, hoch geschätzt (und hoch im Preis) - schuf eine Goldgräbermentalität in den Fischgründen rund um den Globus, wo immer Blauflossen-Thunfisch gefunden werden konnte. Jumbojets brachten Blauflossen-Thunfisch aus Kanada, Neuengland, von den Kanarischen Inseln, aus dem Mittelmeer, der Adria und Australien nach Tokyo.
Das war zu einem Zeitpunkt, als Japans Konsumökonomie - ein Nebenprodukt der jetzt in Verruf geratenen "Seifenblasen"-Jahre - gerade zur Mega-Speed ansetzte. Das Geschäft mit Sushi boomte. Während der achtziger Jahre stieg die Gesamtmenge japanischer Importe frischen Blauflossen-Thunfischs von 957 Tonnen im Jahr 1984 auf den Höchststand von 5814 Tonnen im Jahr 1995 und ist seitdem auf ungefähr 4500 Tonnen pro Jahr zurückgegangen. Der durchschnittliche Großhandelspreis erreichte seinen Höchststand 1990 bei 4900 Yen (34 US-Dollar) pro Kilogramm - mit Knochen und allem drum und dran, was sich auf ungefähr 70 US-Dollar pro genießbarem Kilogramm beläuft. Die durchschnittlichen Großhandelspreise haben sich in den vergangenen Jahren um 2900 Yen pro Kilogramm bewegt.
Atlantischer Blauflossen-Thunfisch (branchenintern "ABT" genannt) ist eine sehr nomadische Sorte, die vom Äquator bis nach Neufundland, von der Türkei bis an den Golf von Mexiko zu finden ist. Blauflossen-Thunfische können riesig sein, der Rekord liegt bei 668 Kilogramm. 270-Kilogramm-Thunfische, drei Meter lang sind nichts Außergewöhnliches, und 100- bis 140-Kilogramm schwere Blauflossen-Thunfische, knapp zwei Meter lang, sind kommerzieller Alltag.
In den Wassern Neuenglands werden die meisten Blauflossen-Thunfische einzeln gefangen, mit Angelrute und Spule, mit Handangelschnur oder mit der Harpune - Techniken kleiner Fischer, nicht die einer Fabrikflotte. Auf der europäischen Seite des Atlantik und im Mittelmeer arbeitet die Industrie unter komplett anderen Bedingungen. Statt Angelrute und Spule oder Harpune ist die typische Ausrüstung industriell - der Purse Seiner, ein Fischereifahrzeug, das ein großes Netz rund um einen Fischschwarm schließt, oder die Langleine, mit der Fisch mit beköderten Haken gefangen wird, die an Schnüren befestigt und viele Meilen hinter einem Schnellboot hergezogen werden. Zunehmend haben sich in den Gewässern von Kroatien, Spanien, Malta und Italien ebenso wie in Australien und Mexiko Thunfischfarmen - große Käfige im Wasser oder Netze, in denen Thunfisch für den Markt gemästet wird - zu einem großen Geschäft entwickelt.
Die Fangtechniken mögen sich von Hafen zu Hafen und von Land zu Land unterscheiden, aber diese Fischer angeln alle nach dem selben Tsukiji-Yen vom Markt in Tokyo - und, wie einige Biologen erklären, in vielen Fällen nach einem Teil des selben Thunfischbestand. Fischereigemeinschaften begreifen sich selbst oft als eng zueinander gehörig und sind stolz auf den inneren Zusammenhalt, aber die plötzliche Globalisierung dieser Industrie hat Fischer in Kontakt - und oft in Konflikt - gebracht mit Kunden, Regierungen, Aufsichtsinstanzen und Umweltschützern rund um die Welt.
Zwei Meilen vor der Küste Barbates in Spanien schlängelt sich ein riesiges Labyrinth von Netzen mehrere Meilen hinaus in spanische Gewässer nahe der Straße von Gibraltar. Ein in Japan hergestelltes Hochgeschwindigkeitsarbeitsboot fährt hinaus zu den Netzen. An Bord sind fünf spanische Besatzungsmitglieder, ein japanischer Leiter, 2500 Kilogramm gefrorene Heringe und Makrelen, importiert aus Norwegen und Holland, und zwei US-amerikanische Forscher. Das Boot absolviert eine seiner zwei täglichen Touren zu den spanischen Netzen, die im Mittelmeer gefangenen Thunfisch enthält, der unter japanischer Aufsicht zur Abfischung für den Export nach Tsukiji aufgezogen wird.
Hinter den Wachbooten, die 24 Stunden am Tag die Netze beaufsichtigen, sind in der Ferne die Landspitzen von Marokko im verschwommenen Violett zu erblicken. Nahe den weißen Klippen von Barbate in Richtung Nordwesten blinkt das Licht auf dem Kap von Trafalgar. 20 Minuten lang werfen die Männer des Arbeitsbootes Heringe und Makrelen über Bord, während Thunfische mit der Größe (und Geschwindigkeit) von Motorrädern unter dem Boot schwimmen, kaum sichtbar, bis sie, begleitet von einem Funkeln von Silber und Blau, herumschwenken, um einen der treibenden Happen zu schnappen.
Die Netze, Schnüre und Bojen sind Teil einer almadraba, einer riesigen Fischfalle, die in Spanien wie auch in Sizilien, Tunesien und Marokko verwendet wird. Die almadraba besteht aus Meilen von Netzen, die im Boden verankert sind, aufgehängt an Tausenden von Bojen. All das ist arrangiert, um die Wanderrouten, die der Blauflossen-Thunfisch beim Verlassen der Meerenge nutzt, zu sperren. Diese almadraba verbleibt dort für ungefähr sechs Wochen im Juni und Juli, um den Thunfisch abzufangen, der das Mittelmeer verlässt, nachdem die Laichsaison vorbei ist. Die Thunfische, die sich in dem Labyrinth verlieren, enden in einem riesigen Käfig, ungefähr so groß wie ein Fußballfeld. Am Ende des Zuges der Fische durch die Meerenge sind darin ungefähr 200 Blauflossen-Thunfische.
200 Fische klingt vielleicht nicht viel, aber wenn diese Fische die nächsten sechs Monate überleben, wenn sie ihr Zielgewicht erreichen, wenn die Fische zum gewünschten Preis auf den Markt kommen, dann können diese 200 Blauflossen 1,6 Millionen US-Dollar wert sein. Im November und Dezember, wenn die Blauflossensaison in Neuengland und Kanada lange vorbei ist, wird der Thunfisch eingebracht und per Luftfracht nach Tokyo gesandt, genau rechtzeitig zum Jahresende, dem Höhepunkt beim Verbrauch von Meeresfrüchten.
Die Käfige im Wasser als riesige Futterplätze für Thunfisch, sind eine relativ neue Erfindung, doch die almadraba nicht. Ein paar Meilen von Barbate die Küste hinunter befindet sich die Siedlung Zahara de los Atunes (Zahara der Thunfische), wo Miguel de Cervantes, der Dichter von Don Quijote, im späten 16. Jahrhundert für kurze Zeit gelebt hat. Das Herzstück des Dorfes ist ein riesiger, gepflasterter Hof, der die Männer und Netze von Zaharas almadraba zu Cervantes Tagen beherbergte, als der Hafen nur in der Saison von Thunfischfängern besetzt war (Cervantes sprach von Halunken). Die drei oder vier almadraba entlang der Costa de la Luz, die nach wie vor existieren, arbeiten noch immer unter der Kontrolle lokaler Fischereichefs. Sie haben die traditionellen Fischereirechte, die Netze, Arbeiter, Boote und das lokal verankerte kulturelle Kapital, um die almadraba am Laufen zu halten - wenn auch für entfernte Märkte und in Zusammenarbeit mit kleinen japanischen Fischereifirmen.
In der Meerenge von Gibraltar, an der Küste von Cartagena, arbeitet eine andere Sorte von Thunfischfarmen unter völlig anderer Schirmherrschaft, die weder lokale Fähigkeiten noch traditionelle Technologie benutzt. Die Farmen von Cartagena sind auf französische Purse Seiners angewiesen, um gefangenen Thunfisch in ihre Käfige zu schleppen. Dort haben Gemeinschaftsunternehmen zwischen japanischen Handelsfirmen und großen spanischen Fischereigesellschaften Farmen mit der neuesten japanischen Fischereitechnologie errichtet. Die Gewässer und die Arbeiter sind spanisch, aber fast alles andere ist Teil eines globalen Flusses von Techniken und Kapital: Die Finanzierung besorgen die größten japanischen Handelsgesellschaften, japanische Schiffe bedienen die Netze. In Australien entwickelte Aquakultur-Techniken kommen zum Einsatz, Vitaminzusätze von europäischen Pharma-Giganten werden gefrorenem Hering aus Holland zugesetzt, der zur Fütterung des Thunfischs über Bord gehievt wird. Computermodelle zu Fütterprogrammen, Gewichtszunahme und angestrebten Marktpreisen wurden von japanischen Technikern und Fischereiwissenschaftlern entwickelt.
Diese "spanischen" Farmen konkurrieren mit Unternehmen überall im Mittelmeer, die auf ähnliche Hochtechnologie angewiesen sind, das Hochkapital steigt ins Fischgeschäft ein. In der Adria zum Beispiel entwickelt sich Kroatien zu einem gewaltigen Thunfischproduzenten. Im Falle von Kroatien wurde die Technologie und das Kapital von kroatischen Emigranten eingeführt, die aus Australien ins Land zurückkamen, als Kroatien 1991 die Unabhängigkeit von Jugoslawien erlangte. Australien hat seinerseits eine bedeutende Aquakultur-industrie für südlichen Blauflossen-Thunfisch entwickelt, eine Spezies, die eng mit der atlantischen im Nordatlantik und Mittelmeer verwandt und auf japanischen Märkten fast genauso begehrt ist.
Sushi ist in der einen oder anderen Form überall erhältlich, in den exklusiven Restaurants der Fifth Avenue New Yorks, den Baseballstadien von Los Angeles, an Snackwagen auf dem Flughafen von Amsterdam, in einer Wohnung in Madrid (angeliefert mit dem Motorrad) oder in Buenos Aires, Tel Aviv oder Moskau. Doch das bedeutet nicht, dass Sushi seinen Status als japanisches Kulturgut verloren hat. Die Globalisierung homogenisiert nicht notwendigerweise kulturelle Differenzen, noch beseitigt sie das Hervortreten kultureller Labels. Ganz im Gegenteil, das Franchising (Lizenz-Vertrieb in Marken-Ketten) nimmt zu.
Das Markenkapital von Sushi als japanischem Kulturgut trägt in der globalen Konsumökonomie zum Prestige sowohl des Landes als auch der Küche bei. Ein texanischer chinesisch-amerikanischer Restaurantbetreiber erzählte mir zum Beispiel, dass er mit seiner Restaurantkette von chinesischer auf japanische Küche umgestiegen ist, weil er wegen des Prestigefaktors der letzteren etwas auf den Preis aufschlagen könne. Seine Kunden könnten nicht zwischen chinesischen und japanischen Angestellten unterscheiden (und würden oft nicht einmal bemerken, dass einige der Chefs hinter seinen Sushibars Latinos sind).
Das Kapital der Marke wird von komplizierten Flüssen von Arbeit und ethnischen Vorlieben aufrechterhalten. Japanische Arbeitskräfte oder wenigstens so aussehende zu haben, gilt außerhalb von Japan als ausreichende Garantie für Sushi-Kompetenz. Leitfäden für die heutige Generation der japanischen globalen Wandervögel raten manchmal jungen Japanern, die in einer entfernten Stadt nach Arbeit suchen, als Sushi-Koch zu arbeiten. Die Konsulate der USA in Japan erteilen jährlich mehr als 1000 Visa für Sushi-Köche, Thunfischkäufer und andere Arbeiter im globalen Sushigeschäft.
Eine Handelsschule in Tokyo, die unter dem Name Sushi Daigaku (Sushi-Universität) arbeitet, bietet kurze Schulungen in der Zubereitung von Sushi an, damit die "Studenten" potenzielle Arbeitgeber mit einem imponierenden Zertifikat beeindrucken können. Selbst ohne Urkunde bleibt Sushi in den Köpfen von Japanern wie Ausländern fest mit der japanischen kulturellen Identität verbunden. Überall auf der Welt halten von Koreanern, Chinesen oder Vietnamesen geführte Sushi-Restaurants japanische Identität aufrecht.
Auch auf den Docks steht die japanische kulturelle Kontrolle von Sushi außer Frage. Japanische Käufer und "Thunfisch-Techniker", die für saisonale Arbeit vom Tsukiji-Markt aus auf Docks überall in der Welt geschickt werden, unterweisen die ausländischen Fischer mühselig in den korrekten Techniken für das Fangen, die Behandlung und Verpackung des Thunfischs für den Export. Ein Blauflossen-Thunfisch muss hinsichtlich Farbe, Beschaffenheit, Fettgehalt, Körperform und so weiter der passenden kata, der idealen Form, entsprechen - alles vorgeschrieben von japanischen Spezifizierungen. Die Verarbeitung erfordert ebenso ungeteilte Aufmerksamkeit. Von Japan aus schickt man Spezialpapier für das Einwickeln des Fisches, bevor dieser in zerstoßenem Eis gelagert wird. Trotz der hohen Verschiffungskosten und dem Umstand, dass 50 Prozent des Bruttogewichts eines Thunfischs nicht verwendbar sind, wird der meiste Thunfisch im Ganzen nach Japan geschickt und nicht geschnitten in verkäufliche Portionen. Die Verderblichkeit ist ein Grund dafür, die Form ein anderer. Jeder in der Branche stimmt überein, dass japanische Arbeiter viel besser im Schneiden und der Entgrätung von Thunfisch ausgebildet sind als Ausländer. Und niemand würde riskieren wollen, verpfuschte Schnitte nach Japan zu senden.
Alle Straßen führen nach Tsukiji, Tokyos wuchtigem Großhandelsmarkt für Meeresfrüchte: dem Zentrum des globalen Handels mit Thunfisch. 60.000 Händler kommen jeden Tag hierher, um Meeresfrüchte für Tokyos 27 Millionen Münder zu kaufen und verkaufen. Sie bewegen mehr als 2,4 Millionen Kilogramm in weniger als zwölf Stunden. Preistreiber fördern den anheimelnden Blick, Tsukiji sei Tokyo no daidokoro - Tokyos Speisekammer. Aber es ist eine Speisekammer, in der jedes Jahr Fisch im Wert von fast 6 Milliarden Dollar die Hände wechselt. Die Thunfische werden in einer Moving Auction verkauft. Der Auktionator, begleitet von Assistenten, die in Lichtgeschwindigkeit Preise notieren und Rechnungen ausstellen, schreitet Reihen und Reihen von Fisch ab, bewegt sich schnell von einem Schemel zum nächsten, ohne eine Runde oder ein Gebot zu verpassen. In wenig mehr als einer halben Stunde verkaufen Auktionator-Teams von fünf Auktionshäusern mehrere hundert (an einigen Tagen mehrere tausend) Thunfische. Erfolgreiche Käufer reißen ihre Mobiltelefone heraus, um ihren Chefs ihre Einkäufe durchzugeben. Währenddessen bringen Faxe und SMS mit entscheidenden Informationen zu Preisen und anderen Marktkonditionen Fischern in entfernten Häfen die Ergebnisse der Morgenauktion von Tsukiji zur Kenntnis. Umgekehrt wird Tsukiji konstant mit Informationen über Thunfischkonditionen von Montauk, Cape Cod, Cartagena, Barbate und mit Fangergebnissen anderer Fischgründe rund um die Welt versorgt.
Tsukiji ist der Kommandoposten für den globalen Handel mit Meeresfrüchten. Dabei übersteigen auf dem Auktionsblock ausländische Meeresfrüchte einheimische japanische Produkte weit an Wert (die Händler von Tsukiji witzeln, dass Tokyos internationaler Flughafen Narita Japans führender Fischereihafen sei). Auf Tsukijis aalglattem Auktionsboden geht Thunfisch aus Massachusetts für über 30.000 US-Dollar das Stück zur Auktion über den Tisch, nebenan Tintenfisch aus Senegal, Aal von Guangzhou, Krabbe aus Sakhalin, Lachs aus British Columbia und Hokkaido, Snapper aus Kyushu und Seeohr aus Kalifornien.
Das Versteigerungssystem und die Warenketten, die in den Markt hinein- und herausfließen, integrieren Fischer, Firmen und Restaurants weltweit in ein komplexes Netzwerk lokaler und translokaler Ökonomien. Als unbestrittener Mittelpunkt der Fischereiwelt schafft und nutzt Tsukiji weltweit enorme Mengen japanischen kulturellen Kapitals. Seine Kontrolle der Informationen, seine enorme Rolle beim Dirigieren und Antworten auf japanische kulinarische Vorlieben und seine fast hegemoniale Definition von Angebot und Nachfrage verschafft ihm das unangreifbare Privileg, seine eigenen Qualitätsstandards einzuführen - Standards, die Produzenten weltweit beachten müssen.
Manchmal schafft Tsukijis Position im Zentrum dieses globalen Handels offensichtliche Widersprüche. Ein Teil des besten Thunfischs von Neuengland könnte zum Beispiel direkt nach New York oder Los Angeles gelangen, er kommt aber über Tokyo - als Topqualität (und mit einem Top-Preis), bewertet durch die Entscheidung, ihn per Luftfracht nach Japan für den Verkauf in Tsukiji zu senden, wo er vielleicht von einem der Handvoll von Tsukijis Sushi-Exporteuren eingekauft wird, die die besten ausländischen Sushi-Köche in den führenden Städten der Welt beliefern. Wie Amsterdam und New York für die Bewertung von Diamanten, so ist Tsukiji der ultimative Platz für die Preisbildung bei Thunfisch.
Und manchmal ist die Preisbildung selbst fast unglaublich. Am 5. Januar 2001, dem ersten Auktionstag im neuen Jahrtausend, machte ein Händler aus Tsukiji weltweit Schlagzeilen mit dem Einkauf eines 202 Kilogramm schweren Blauflossen-Thunfischs (gefangen im nördlichen Japan) für 20,2 Millionen Yen (damals rund 185.000 Euro). Mit dem Preis von 100.000 Yen (rund 900 Euro) je Kilogramm - Haut und Knochen eingeschlossen - hatte er den vorherigen Auktionsrekord ungefähr verdoppelt und gewöhnliche Auktionspreise für frischen Thunfisch weit übertroffen: Ein außergewöhnlicher Thunfisch bringt etwa 10.000 oder 12.000 Yen und ein gewöhnlicher 3.000 bis 4.000 Yen pro Kilogramm. Dieser Auktionspreis wurde von der ausländischen Presse weithin als Richtwert missverstanden, aber Branchenkenner erkannten ihn als Werbegag, wenn auch als vielleicht fehlgeschlagenen. So konnten für ein paar Tage eine Handvoll Konsumenten in wenigen sehr elitären Sushi-Restaurants in Tokyo sich selbst und ihre Freunde mit dem Wissen beschenken, dass sie gerade den teuersten Sushi aller Zeiten essen.
Die Thunfischauktion im Yankee Co-op in Seabrook, New Hampshire, findet während der lokalen Thunfischsaison (ungefähr August bis Oktober) mehrere Male pro Woche statt. Es hängt alles davon ab, was die Boote einbringen. Wenn genug Fisch reinkommt, ruft der Manager die regelmäßigen Käufer an, ungefähr ein Dutzend umherziehende Thunfischhändler, die sich dann versammeln, um den Fang des Tages zu begutachten. Hängt die Durchführung einer Auktion von der lokalen Versorgung ab, werden die Umsätze vom globalen Angebot und Tokyos Nachfrage bestimmt. So verfolgen all die Käufer nicht nur die Verkaufszahlen von Tsukiji aufs genaueste, sondern gleichzeitig die Neuigkeiten von den spanischen Thunfischfarmen und den französischen Purse Seiners, beobachten australische Exporte und kanadischen Harpunen-Fischfang.
Der Fischfang ist in lokalen Gemeinschaften und lokalen Ökonomien verwurzelt - selbst zwischen Fischern, die ihre Angelschnüre (oder Netze) in das selbe Wasser halten, können Welten liegen, die ein paar hundert Meilen betragen. Heute kann sich der Lebensunterhalt eines Fischers in Massachusetts innerhalb von Stunden durch einen sprunghaften Anstieg der Marktpreise auf der anderen Seite des Globus oder ein Desaster auf einer Fischfarm auf der anderen Seite des Atlantiks verändern. Gigantische Fischereikonglomerate in einem Teil der Welt verkaufen ihren Fang Seite an Seite mit Familienbetrieben aus dem anderen. Umweltorganisationen eines Kontinentes schimpfen über Industrieregulationen, die einen Ozean entfernt durchgeführt werden.
Solche Fälle von Konvergenz sind in einer globalisierten Welt normal. Im Fall der heutigen Fischer von Thunfisch ist aber überraschend und vielleicht tieferschürfend, wie komplex das Zusammenspiel von Industrie und Kultur ist, wie die esoterische Küche eines abgeschotteten Teils der Welt zum globalen Tick einer Generation wird, antreibend und angetrieben durch eine neue Art des Fischereigeschäfts. Es ist ein Beispiel dafür, wie sich ein regionales Nahrungsmittelsystem plötzlich zu einem Teil des globalen Nahrungsmittelsystems ausweitet. Ein Phänomen, das sich auf der ganzen Welt immer wieder wiederholt, in verschiedenen Geschwindigkeiten und verschiedenen Ausmaßen. Das ist kennzeichnend für die Nahrungsmittelversorgung in der heutigen Welt.
Viele Fischer von Neuengland, deren traditioneller Lebensunterhalt nun von ungewohnten Geschmäckern und entfernten Märkten abhängt, greifen auf eine Art Küchenanthropologie zurück, um die Fähigkeit Japans zu einer weltweiten Verwandlung des Thunfischs von Dreck zu Gold zu erklären. Für einige ist einfach nationale Symbolik die schnelle Antwort. Das dunkle Rot des Thunfischs, serviert als Sashimi oder Sushi, kontrastiert mit dem sehr weißen Reis und ruft das rot und weiß der japanischen Nationalflagge ins Gedächtnis. Andere wissen, dass rot und weiß im japanischen rituellen Leben eine vielversprechende Farbkombination ist (genau aus diesem Grund sind auf japanischen Hochzeiten Hummerschwänze so populär). Wieder andere meinen, der kulturelle Gewinn sei ein Kampfgeist, reiner Machismo, sowohl ihr eigener als der des Thunfischs. Mit Angelrute und Spule gefangen, kann ein Thunfisch für vier oder fünf Stunden mit dem Fischer kämpfen. Manche Thunfische kämpfen wirklich bis zum Tod. Für einige Fischer ist die Bedeutung des Thunfischs - seine Gleichsetzung mit japanischer Identität - einfach: Thunfisch ist nichts weniger als der Samurai-Fisch.
Natürlich ist solch eine Mystifikation für das Verlangen entfernter Märkte nach einer einheimischen Ware nicht einmalig. Jahrzehntelang haben Anthropologen von Neu Guinea bis Bolivien über "Cargo Cults" und "Warenfetischismus" geschrieben. Aber die Fähigkeit der heutigen Fischer, sich die japanische Kultur und den Platz von Thunfisch innerhalb dieser anspruchsvollen kulinarischen Tradition vorzustellen, wird laufend geformt und neu bestimmt durch einen Strom kultureller Bilder, die heute in allen Richtungen gleichzeitig um die Welt gehen und auf Flughäfen, Fischereihäfen, Bistros, Bodegas und Märkten überall aufeinanderstoßen. In dem neu verkabelten Kreislauf globaler kultureller und ökonomischer Beziehungen ist Japan der Mittelpunkt und die Atlantikküste, die Adria und die australische Küste sind alle entfernte Peripherien. Mehr auf den Kopf gestellt als es sich die Komponisten Gilbert und Sullivan in ihrem Fantasiegebilde von Japan je vorstellen konnten.
Japan wird im Westen allgemein mit der Vorstellung von der manchmal rätselhaften Supermacht verbunden, präzise und delikat in seinem kulinarischen Geschmack, feudal in seiner kulturellen Symbolik und unersättlich in seinem Appetit. Würde Japan nicht ein so prominenter Akteur in so vielen Bereichen des täglichen Lebens von Nordamerikanern oder Europäern sein, müssten sich die Fischer außerhalb von Bath oder in Seabrook, Barbate und der Adriaküste weniger Gedanken darüber machen, wie sie sich ihr Japan konstruieren. So wie die Dinge liegen, mühen sie sich ab mit ungewohnten Wechselkursen für ein kulturelles Kapital, das in ausländischer Währung gehandelt wird. Und sie machen sich bereit für die nächste Saison.
aus: der überblick 02/2004, Seite 21
AUTOR(EN):
Theodore Bestor:
Theodore C. Bestor ist Professor für Ethnologie und Japan-Studien an der Harvard-Universität in Massachusetts, USA. Seit den späten achtziger Jahren forscht er zur japanischen Fischindustrie. Sein Buch "Tsukiji: The Fish Market at the Center of the World" wird im Juni 2004 bei "University of California Press" erscheinen.
Dieser Text ist eine vom Autor neu bearbeitete Version eines Artikels, der in der Zeitschrift "Foreign Policy" (www.foreignpolicy.com) in der Ausgabe vom November/Dezember 2000 erschienen ist. Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Redaktion und der "Carnegie Endowment for International Peace".