Verdrängungseffekte
Als in den späten fünfziger Jahren der Nilbarsch im Victoriasee ausgesetzt wurde, versprach man sich nicht nur eine neue Nahrungsquelle für die Bevölkerung der umliegenden Städte und Dörfer, sondern einen Fisch für den Export. Bald fühlte sich der Nilbarsch dort so heimisch, dass er angestammte Spezies verdrängte. Und verdrängt werden auch die einheimischen Kleinfischer und Händler, denen die mit Entwicklungshilfe geförderten Großfischer die Luft abschneiden.
von Eirik G. Jansen
Fisch gehört nicht nur seit jeher auf den Speiseplan der Menschen, die Fischerei ist auch die Haupterwerbsquelle für all jene, die ihn fangen, verarbeiten und mit ihm handeln. Fischerei erzwang schon seit alters her Arbeitsteilung und Handel, weil die Ware verderblich ist und Überschüsse schnell verkauft werden mussten. Der Handelserlös wiederum ermöglichte den Kauf anderer Nahrungsmittel.
Längst ist der Handel dank Konservierung und Kühlketten nicht mehr lokal begrenzt. Weil heute die nördlichen Fischgründe zunehmend überfischt sind, weichen Flotten aus dem Norden in südliche Gewässer aus. Und weil auch der Fischverbrauch im Norden weiter steigt, wird der Bedarf durch umfangreiche Importe aus dem Süden gedeckt.
Auch der Victoriabarsch gehört zu den Fischen aus dem Süden, die in den Norden exportiert werden. Der Victoriasee in Ostafrika ist der zweitgrößte Süßwassersee der Welt und mit 69.000 Quadratkilometern etwa so groß wie Irland. Tansania (49 Prozent), Uganda (45 Prozent) und Kenia (6 Prozent) teilen sich den See. Bis zur Mitte der siebziger Jahre wurden die Fischgründe des Victoriasees nur von Kleinfischern ausgebeutet. Nach Schätzungen arbeiteten dort damals 50.000 Fischer mit ungefähr 12.000 Kanus. Der gesamte jährliche Fang der drei Länder betrug in den sechziger und siebziger Jahren ungefähr 100.000 Tonnen. Viele Menschen hatten eigene Kanus und Gerätschaften. Durch diese Dezentralisierung war das Einkommen aus dem See ziemlich gleichmäßig verteilt. Kleinunternehmer dominierten die Verarbeitung und den Handel fast vollständig. Die meisten waren Frauen aus Gemeinden rund um den See. Für die lokale Bevölkerung bedeutet Fisch die größte Quelle an tierischem Protein.
In den vierziger und fünfziger Jahren gab es klare Anzeichen dafür, dass der See überfischt worden war. Aus diesem Grund wurde in den späten fünfziger Jahren der Raubfisch Nilbarsch im See angesiedelt - der größte gefangene Fisch soll 2 Meter lang und 200 Kilogramm schwer gewesen sein.
Die schelle Vermehrung des Nilbarsches begann ungefähr 20 Jahre später. 1979 wurden einige tausend Tonnen im See gefangen, zehn Jahre später waren es bereits 350.000 Tonnen. Der Nilbarsch ernährt sich vorwiegend von einer kleinen Sardine, deren Population im See ab den sechziger bis zu den achtziger Jahren eine Biomasse von insgesamt einer Million Tonnen besaß. Einige hundert einheimische Arten dieser Sardine verschwanden und der Victoriasee wurde als einer der "extremsten Fälle von Massenaussterben" in diesem Jahrhundert angesehen.
Die Gesamtfangmenge aller Fischarten im Victoriasee stieg zwischen 1979 und 1989 von ungefähr 100.000 auf etwa 500.000 Tonnen und blieb seit jenem Jahr auf diesem Niveau. Während der achtziger Jahre machte die Fischerei im Victoriasee etwa ein Viertel der jährlichen Gesamtfangmenge der Binnenfischerei Afrikas aus. Als Antwort auf die gestiegenen Fangmengen während dieser Zeit wurden mehr Fischer angeworben. Die Anzahl der Kanus - in jedem Boot arbeiten zwei bis drei Personen - stieg zwischen 1983 und 2000 von ungefähr 12.000 auf 42.500. So bezogen mehr als 100.000 Männer ihren Lebensunterhalt aus dem Fischfang. Auf jeden Fischer kamen zwei bis drei Personen, die ihr Einkommen aus der Verarbeitung, dem Handel und anderen Aktivitäten im Zusammenhang mit dem Fischfang erwirtschafteten. Der Victoriasee bot also reichlich: Arbeit und Einkommen und Mengen an Fisch.
Im Zuge des schnellen Zuwachses des Nilbarschbestandes veränderte sich die Zusammensetzung der Fisch-Biomasse im See drastisch. Der Nilbarsch ernährt sich von den meisten Fischarten des Sees. Die einst sehr artenreichen Fischgründe des Victoriasees wurden in einen "Drei-Arten-Fischgrund" transformiert. Nilbarsch ist die dominante Art, aber etwa ein Drittel des Fanges besteht aus Dagaa (eine kleine Sardinenart), während verschiedene Untergruppen des Tilapia, vor allem der Nilbuntbarsch, etwa 10 Prozent ausmachen. Allein diese drei Arten haben während der neunziger Jahre ungefähr 98 Prozent des gesamten Fanges ausgemacht.
In der nur drei- bis vierjährigen Boomphase des Nilbarsches Mitte der achtziger Jahre konnte der ostafrikanische Markt ein fast dreimal höheres Angebot als jemals zuvor ohne große Auswirkungen auf die Preise aufnehmen. Das zeigt die Popularität des Nilbarsches und die große Nachfrage nach einem Speisefisch mittlerer Preisklasse in den drei Anrainerländern des Victoriasees. Es steht außer Zweifel, dass alte und neue Fischkonsumenten von den Veränderungen der reichen Fischgründe des Victoriasees während der achtziger Jahre profitierten - in vielen Teilen der drei Länder wurden große Mengen Fisch zu niedrigeren Preisen verfügbar.
Verbunden mit der rapiden Zunahme des Nilbarschbestandes fand ein anderer "revolutionärer" Wandel der Fischerei am Victoriasee statt. Dieser Wandel hängt mit der großen Nachfrage nach Nilbarsch in den Industrieländern zusammen. Heute gibt es rund um den See ungefähr 35 Fabriken, die den Nilbarsch verarbeiten und die Filets auf die Märkte in Übersee exportieren, vor allem in die Europäische Union, die USA, den Nahen Osten und nach Japan. Viele der Fabriken wurden von internationalen Entwicklungsbanken finanziert und erhielten Unterstützung von staatlichen Entwicklungshilfeagenturen der Industrieländer. Die meisten dieser Fabriken verfügen über technische Kapazitäten zur Verarbeitung weit größerer Mengen als die des angelieferten Nilbarsches.
Die verarbeitenden Fabriken rund um den Victoriasee konkurrieren daher miteinander um den Ankauf von ausreichenden Mengen Rohfisches. Durch den schärferen Wettbewerb um frischen Fisch akzeptieren die Betriebe immer geringere Gewichte, manchmal sogar unter einem Kilogramm - auch weil die europäischen Abnehmer sich von jüngeren Fischen einen geringeren Fettgehalt versprechen. In den neunziger Jahren wurden jedes Jahr mehrere hunderttausend Tonnen Nilbarsches filetiert.
Die einzigen Nilbarsche, die auf lokalen Märkten noch erhältlich sind, sind die Jungfische oder jene, die wegen schlechter Qualität von den Fabriken abgelehnt werden. Sogar die nach der Filetierung übriggebliebenen Gräten mit Restfleisch des Nilbarsches, die früher auf den lokalen Märkten verkauft wurden - für die armen Leute oft die einzige Möglichkeit, tierisches Eiweiß zu bekommen, - werden nun in Ostafrika größtenteils zu Fischmehl verarbeitet.
Auch Dagaa, der kleine Sardinenfisch, wurde zum Objekt regionaler und internationaler Kommerzialisierung. Spezielle Fabriken verarbeiten die Sardine zu Fischmehl, das in der Tierfutterindustrie verwendet wird. Mehr als die Hälfte des Dagaa wird so zu Fischmehl.
Die meisten Besitzer der exportorientierten Fischfabriken und Fischmehlfabriken hatten zuvor keine Verbindung zur Fischerei am Victoriasee. Die Fabriken gehören in erster Linie Europäern und in Ostafrika lebenden Asiaten, sei es mit oder ohne Staatsbürgerschaft von Kenia, Uganda oder Tansania. Diese nationalen und transnationalen Gesellschaften beherrschen heute den Markt und haben die Victoriasee-Fischerei hinsichtlich der Fang- und Verarbeitungsmethoden und des Marketings vollständig umgewandelt. "Der See gehört uns nicht mehr", beklagen sich die lokalen Fischer.
1995 finanzierte die Norwegian Agency for International Development Co-operation (NORAD) ein Projekt, mit dem die verschiedenen Auswirkungen der Integration der Victoriasee-Fischereien in den globalen Markt abgeschätzt werden sollten. Die Studie wurde von der internationalen Naturschutzorganisation The World Conservation Union (IUCN) durchgeführt. Die Auswirkungen auf drei Bereiche wurden untersucht: Sicherheit des Nahrungsangebots, Erwerbsquellen für die lokale Bevölkerung sowie nicht zukunftsfähige Praktiken des Fischfangs.
Obwohl die Fischproduktion im Vergleich zu den siebziger Jahren um das Fünffache gestiegen ist, kommen große Teile des Fangs nicht mehr auf die lokalen Märkte. In Kenia, wo fast ein Drittel des Fisches aus dem See eingebracht wird, sank der Fischkonsum von fast sieben Kilogramm pro Person und Jahr in den frühen neunziger Jahren auf etwas mehr als fünf Kilogramm in den späten neunziger Jahren. Verschiedene offizielle Berichte zeigen, dass ausgerechnet in der Region um den Victoriasee herum der Proteinmangel größer ist als in anderen Teilen der Anrainerländer. Die Hälfte der Kinder am kenianischen Teil des Sees wird als unterernährt eingestuft. Ein Paradox, denn sie leben direkt neben der reichsten Quelle an tierischem Protein in Ostafrika.
Zwar hat die Exportindustrie Arbeitsplätze geschaffen, weil jede der Fabriken ungefähr 50 bis 200 Personen beschäftigt. Doch muss die Schaffung dieser Arbeitsplätze im Zusammenhang mit der Anzahl der verloren gegangenen Jobs gesehen werden. Das Forschungsprojekt der IUCN schätzt, dass für jeden im Exportsektor der Fischereien geschaffenen Arbeitsplatz sechs bis acht Arbeitsplätze im informellen Sektor der Fischerei verloren gingen.
An großen Fangplätzen waren in der Vergangenheit viele hundert Frauen mit dem Handel und der Verarbeitung von Fisch für die lokalen Märkte beschäftigt. Jetzt transportieren einige wenige Lastwagen mit Kühlanlagen den größten Teil des Fischs direkt zu den Exportfabriken, so dass viele ihre Jobs im Handel und der Verarbeitung für die lokalen Märkte verloren haben. Dieser Verlust an Arbeitsplätzen besonders für Frauen im informellen Sektor taucht in keiner Statistik auf.
Trotzdem hat jemand an den hohen Exporten verdient. Viele Fischer erzielen einen höheren Preis, wenn sie den Fisch statt an die lokalen Märkte für den Export an die Fabriken verkaufen. Vor allem aber verdienen die Agenten der Fabriken, die den Fisch von den lokalen Fischern aufkaufen, und die Fabrikbesitzer, die an die Exporteure verkaufen.
Die unbeschränkte Nachfrage nach Nilbarsch im Norden und die großen ungenutzten Kapazitäten zur Verarbeitung von Fisch in den Fabriken haben zum Raubbau am Nilbarsch geführt. Die Anzahl großer Nilbarsche, die gefangen werden, und die Fangmenge insgesamt gehen zurück, obwohl die Fischerei immer aufwändiger betrieben wird.
Aber weil der Nilbarsch überfischt wurde, haben sich einige der "verlorenen" einheimischen Fischarten des Sees wieder erholt. Das Fischmanagement wird künftig vor allem dafür sorgen müssen, dass die Nilbarschfischerei auf einem Niveau stattfindet, welches die dauerhafte Koexistenz des Nilbarsches mit anderen einheimischen Fischsorten erlaubt. Ferner muss entschieden werden, welcher Anteil des Fischfangs in den Export und die Verarbeitung zu Fischmehl geht und wie viel für den Konsum der Bevölkerung in den Anrainerstaaten reserviert bleiben soll. Eine sichere Nahrungsmittelversorgung und die Schaffung von Arbeitsplätzen im Fischereiwesen sind Ziele der Fischereipolitik aller Regierungen in Ostafrika. Ein anderes Ziel der Fischerei ist die Erwirtschaftung von Devisen durch den Fischexport.
Zweifellos geben die Regierungen dem letztgenannten Ziel Vorrang: In einer Zeit, in der die Freiheit der Märkte die Leitidee ist - unterstützt von der Welthandelsorganisation und der Weltbank -, sind die Regierungen in Ostafrika offensichtlich unwillig, in den Markt einzugreifen, um die Nahrungsmittelversorgung und Jobs für die lokale Bevölkerung zu sichern.
Literatur
Richard O. Abila und Eirik G. Jansen: From Global to Local Markets. The Fish Exporting and Fishmeal Industries of Lake Victoria. Structure, Strategies and Socio-economic Impacts in Kenya. IUCN, Nairobi 1997
John S. Balirwa et ad: Biodiversity and Fishery Sustainability in the Lake Victoria Basin: An Unexpected Marriage? In BioScience, Volume 53 Number 8, 2003
Eirik G. Jansen: Rich Fisheries - Poor Fisherfolk: The Effects of Trade and Aid in the Lake Victoria Fisheries. IUCN, Nairobi 1997
L. Kaufman: Catastrophic Changes in Species-rich Freshwater Ecosystems. The Lessons of Lake Victoria. In: BioScience Volume 42, Number 11, 1994
aus: der überblick 02/2004, Seite 34
AUTOR(EN):
Eirik G. Jansen:
Dr. Eirik G. Jansen hat von 1970 bis 1973 und zwischen 1995 und 1999 am Victoriasee Forschungen betrieben, zuletzt als technischer Berater für "The World Conservation Union". Seit 2003 ist er Mitarbeiter der norwegischen Botschaft in Dar es Salaam, Tansania.