Verständigungsschwierigkeiten zwischen Süd und Nord auf der ÖRK-Vollversammlung
Im Februar 2006 hielt der Ökumenische Rat der Kirchen (ÖRK) in Porto Alegre, Brasilien, seine 9. Vollversammlung unter dem Leitwort In deiner Gnade, Gott, verwandle die Welt ab. Doch es gab keine Einigkeit darüber, wie der Wandel der Weltwirtschaft angesichts der Globalisierung aussehen soll.
von Tim Kuschnerus
Bis auf den letzten Platz ist der Plenarsaal gefüllt. Zu Folkloremusik aus den Anden werden auf der Leinwand Bilder von asiatischen Textilarbeiterinnen, Obdachlosen in Nordamerika oder Armen in Osteuropa gezeigt. Es folgt eine Tanzperformance, die damit endet, dass Mickey Mouse den brasilianischen Landarbeitern ihr Tamburin entreißt und von der Bühne stürmt. Bischof Wolfgang Huber, der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), tritt ans Mikrofon und übernimmt die Moderation des Plenums zu Wirtschaftlicher Gerechtigkeit. Nach einleitenden Worten in Englisch fährt er in Deutsch fort: "Ich bin gestern darauf angesprochen worden, dass auf der Vollversammlung kaum Deutsch gesprochen wird." Unruhe macht sich im Plenum breit, ein Strom von Delegierten drängt zur Ausgabestelle für die Kopfhörer zur Simultanübersetzung.
Der Ratsvorsitzende der EKD steht an diesem Nachmittag vor einer schwierigen Aufgabe. Er muss ein Plenum moderieren, dessen Kernaussagen viele Delegierte nicht ohne weiteres zustimmen. Wolfgang Huber wendet sich gegen eine einseitige Bewertung der Globalisierung. "Wer die Zeichen der Zeit deuten will, muss beide Seiten sehen: die Chancen wie die Gefahren der gegenwärtigen Weltentwicklung." Heute sei es möglich, Hass weltweit zu organisieren und zu verbreiten. Der Konflikt um die Mohammed-Karikaturen sei das jüngste Beispiel dafür. Ebenso sei aber innerhalb weniger Stunden eine weltweite Hilfsaktion für die Opfer des Tsunami rund um den Indischen Ozean angelaufen. Insgesamt wachse die Weltwirtschaft und habe in einigen Teilen der Welt zur Verbesserung des Lebensstandards und zur Erhöhung der Lebenserwartung geführt. Gleichzeitig dauere die unmenschliche Armut, unter der mehr als eine Milliarde Menschen leiden, an. "Für alle Christen ist die zunehmende Armut in vielen Teilen der Welt ein Skandal." Hier könne der christliche Glaube nicht neutral bleiben. Wolfgang Huber stellt das Plenum schließlich unter die Leitfrage: "Gibt es eine Agape-Ökonomie? Gibt es eine Ökonomie der Liebe?" Er bezieht sich damit auf das Agape-Dokument, das vom ÖRK in den letzten sieben Jahren erarbeitet wurde (vergl. "der überblick" 4/2005). AGAPE, das griechische Wort für Liebe, steht dabei für eine "Alternative Globalisierung im Dienst der Menschen und der Erde". Dieser Prozess mündet nun in den Agape-Aufruf der Vollversammlung ein: "In deiner Gnade, Gott, verwandle die Welt."
"Oh Lord, won't you buy me a Mercedes Benz", mit diesem Liedtext von der berühmten amerikanischen Blues-Sängerin Janis Joplin beginnt Nancy Cardoso Pereira, ihren Vortrag. Nancy Pereira ist methodistische Pfarrerin in Porto Alegre und Professorin für Kirchengeschichte. Sie geißelt den Götzen Mammon und ruft zu einem prophetischen Zeugnis der Kirchen auf. "'Niemand kann zwei Herren dienen,' hat Jesus gesagt. Es ist entweder Gott oder Geld, Leben oder Tod'." Sie kritisiert auch die westliche Theologie: "Weltweit werden junge Theologen von einem dominanten nordamerikanischen und europäischen theologischen Modell zum Schweigen gebracht, das der guten Nachricht überdrüssig geworden ist."
"Es gibt Hunderte von Alternativen", betont der ugandische Ökonom Yash Tandon. Argentinien habe nur ein Viertel der Auslandsschulden bezahlt und konnte sich damit durchsetzen. Malaysia habe sich erfolgreich entwickelt, weil es sich vom Internationalen Währungsfonds (IWF), von der Weltbank und von neoliberalen Ökonomen abgegrenzt hat. Für Afrika könne eine Revolution nach der Art Boliviens ein Anfang sein, es müsse sich darüber hinaus aber noch weiter von der Globalisierung abkoppeln (active disengagement) und in Subregionen organisieren. Die neoliberale Hegemonie des Nordens könne überwunden werden, so das einhellige Votum der Redebeiträge. Beiträge aus dem Publikum sind in diesem Plenum zugelassen.
Unklar bleibt der Status des Agape-Aufrufes, der abschließend verlesen wird. Ist er nun vom Plenum angenommen und damit ein Dokument, dass den Segen der Vollversammlung hat? Der Agape-Aufruf reflektiert allerdings keineswegs die gesamte Breite der ökumenischen Diskussion. Insbesondere zum Handlungsfeld "Kirchen und die Macht des Imperiums", der eine einseitige Analyse der wirtschaftlichen Globalisierung impliziert, gibt es viel Widerspruch. Weil in diesem Plenum jegliche Diskussion über das Dokument und die implizierte Analyse ausgeschlossen ist, sind eine Reihe von Delegierten verärgert. Dennoch können die meisten den undifferenzierten Agape-Aufruf als einen "Schrei nach Gerechtigkeit" oder als einen Klageruf aus dem Süden interpretieren und als solchen akzeptieren.
Nur aufgrund von Protesten aus dem Norden wird zwei Tage später in einer Mittagspause eine zusätzliche Anhörung zum Thema angesetzt. So können doch noch im Plenarsaal, aber in Abwesenheit der meisten Delegierten, kritische Stimmen sowie Ärger über den Agape-Prozess laut werden. Stimmen aus dem Süden sind allerdings kaum zu hören und wenn, dann nur zur Verteidigung des Aufrufs. Allein eine Indonesierin äußert sich kritisch und verurteilt die weit verbreitete Korruption in ihrem Land: "Gott in Deiner Gnade verwandle die indonesische Wirtschaft." Der offizielle Teil der Vollversammlung ist zu diesem Thema kein Ort für einen Dialog zwischen dem Norden, Süden, Osten und Westen. Das Agape-Dokument stellt in seiner Einleitung einen intensiven Studienprozess fest, blendet aber offensichtlich bestimmte Positionen und Prozesse aus, wie zum Beispiel die der Konferenz Europäischer Kirchen (KEK) (vergl. "der überblick" 4/2005). Anfang Dezember 2005 hatten sich auf Einladung der KEK 40 Personen, zumeist Delegierte der 9. ÖRK-Vollversammlung, in Brüssel versammelt. Sie stellten zum Agape-Aufruf einerseits ein "hohes Maß an gemeinsamen Zielen, gemeinsamen und komplementären Strategien" fest. Ebenso wurde aber die Komplexität des Themas unterstrichen: Es bedürfe noch weiterer Arbeit, um die Aspekte von Globalisierung und ihrer Auswirkungen zu studieren und gangbare Alternativen zu finden.
Wenigstens in den Ecumenical Conversations, den täglichen ökumenischen Gesprächgruppen, und in einzelnen Workshops im multirão, wie das Veranstaltungszentrum für die gesamte Vollversammlung genannt wird, wird über die "Macht des Imperiums" gestritten. Aber solange dieser Diskurs nicht den Weg in die Konferenzdokumente findet, treten auch altgedienten ÖRK-Fürsprechern die Sorgenfalten auf die Stirn: Welche Zukunft wird dieser ÖRK haben, wenn er keine Plattform für einen aufrichtigen und inhaltlichen Austausch zwischen Nord- und Süd-Kirchen ist?
"Imagine the possibilities.... if all these organisations work together as one alliance" (Stellt dir vor, was für Möglichkeiten es gäbe, wenn alle diese Organisation zusammen in einer Allianz arbeiten würden) ist über der riesigen Weltkarte im Stand der Proposed Ecumenical Alliance for Development (PEAD) zu lesen. Die Karte zeigt im Norden Hilfswerke und im Süden und Osten kirchliche Partnerorganisationen und einige Nationale Kirchenräte. Direkt neben dem gemeinsamen Stand von "Brot für die Welt" und EED informiert Jill Hawkey in der großen Messehalle über die Möglichkeiten, die eine Ökumenische Entwicklungsallianz bieten könnte. Zusammen mit Linda Hartke, der Koordinatorin der Ecumenical Advocacy Alliance (EAA), ist Hawkey als Beraterin Mitglied der 18-köpfige Lenkungsgruppe von PEAD. Geduldig werden hier die Fragen von Delegierten und anderen Teilnehmer der Vollversammlung beantwortet. Viele hören zum ersten Mal von PEAD (vergl. "der überblick" 4/2005) und von den Erwartungen, welche die Hilfswerke mit dieser Initiative verbinden.
Auch bei den Ecumenical Conversations geht es um PEAD. Unter der Überschrift "Challenges to Diakonia today: Seeking an ecumenical response" wird in drei Arbeitsgruppensitzungen über biblisch-theologische Grundlagen des diakonischen Auftrags der Kirche diskutiert sowie über das Konzept von PEAD informiert und gestritten. Als Mitglied der PEAD-Lenkungsgruppe muss Baffour D. Amoa aus Ghana viele kritische Fragen beantworten. Ein Bischof aus Sri Lanka zum Beispiel hat Sorge, dass PEAD in einem multireligiösen Kontext die Kirchen vor Ort in Schwierigkeiten bringen könnte, wenn dem nationalen Kontext nicht ausreichend Rechnung getragen wird. Überhaupt fürchtet er eine Übermacht der Hilfswerke, von denen schließlich die Initiative ausgegangen sei, und betont: "Wir sind im ÖRK doch ein Rat von Kirchen."
Ein Kollege aus Tansania fragt nach dem Verhältnis von PEAD zu dem Nothilfe-Netzwerk ACT (Action by Churches Together), mit dem PEAD nicht nur eng kooperieren, sondern dessen Namen die Allianz auch gerne beerben möchte. Eliane Rolemberg von Coordenadoria Ecuménica de Serviço (CESE), einer brasilianischen EED-Partnerorganisation, unterstreicht dagegen die Chancen von PEAD: Endlich könne man die althergebrachten Geber-Empfänger-Beziehungen überwinden und eine Beteiligung an strategischen Entscheidungen und Planungen erreichen.
Bei einem Arbeitsessen, zu dem PEAD eingeladen hat, hinterfragt ein Teilnehmer aus Argentinien das Ziel, das sich die Hilfswerke von PEAD erhoffen, nämlich weltweit und besser sichtbar zu sein: "So eine Sichtbarkeit, wie sie World Vision hat, will meine Kirche nicht. Wir wollen keine Geschäfte mit der Bekämpfung von Armut machen." Karen Nazaryan aus Armenien ist eines der beiden orthodoxen Mitglieder der PEAD-Lenkungsgruppe. Ihm geht der Prozess zu langsam. Er spricht sich für ein Pilotvorhaben aus, das noch in diesem Jahr anlaufen sollte. Die Lenkungsgruppe erörtert derzeit einen Versuchslauf in Liberia. Nazaryan möchte hingegen, dass PEAD nicht nur in einem Land, sondern auch in einem Sektor und dann parallel in mehreren Regionen probeweise anläuft. "Von einem Pilotvorhaben zum Beispiel zu Gemeinwesen-Entwicklung und den dabei gesammelten Erfahrung würden alle Süd- und Ostpartner profitieren und nicht nur die Hilfswerke, die in Liberia aktiv sind." Augenzwinkernd macht ein Südafrikaner auf einen Nachteil aufmerksam, der sich für den Süden und Osten ergibt: "Wenn wir uns alle in PEAD zusammenschließen, können wir die Nordpartner nicht mehr gegeneinander ausspielen."
In den Plenarversammlungen kommt PEAD zwar nicht zur Sprache, jedoch im Abschlussbericht des Ausschusses für Programmrichtlinien. Dieser signalisiert grundsätzliche Zustimmung zum PEAD-Prozess und empfiehlt, dass der ÖRK die führende Rolle bei der Koordinierung fortsetzen möge.
Cornelia Füllkrug-Weitzel, Direktorin von Brot für die Welt, nahm in einem Interview am Rande der 9. Vollversammlung des Ökumenischen Rats der Kirchen (ÖRK) Stellung zu Plänen für eine Ökumenische Allianz für Entwicklung (PEAD), deren Lenkungsgruppe sie angehört.
Die Fragen stellte Tim Kuschnerus
der überblick: Wieso ist PEAD ein Thema auf der Vollversammlung?
Cornelia Füllkrug-Weitzel: Die ökumenische Familie steht vor der Aufgabe, die verschiedenen Kräfte effektiver zu bündeln und die kirchlichen Akteure zusammenzuführen, um in Zukunft einen wirkungsvolleren Beitrag für die diakonische und entwicklungsbezogene Arbeit auf Weltebene machen zu können. Wir hatten in den letzten Monaten einen umfangreichen Konsultationsprozess, aber es liegt noch viel Arbeit vor uns. Mit so vielen Kirchen und kirchlichen Organisationen in der Welt einen Dialog zu führen, braucht seine Zeit. Die Vollversammlung bietet dafür eine einzigartige Gelegenheit. Das gilt auch für den Austausch mit den Amerikanern, die im Moment noch skeptisch sind. Die Arbeitskultur der Werke in Nordamerika und in Europa ist sehr unterschiedlich, dem entspricht eine gewisse gegenseitige Fremdheit.
der überblick: Was sind die größten Schwierigkeiten, vor denen die PEAD-Lenkungsgruppe im Moment steht?
Füllkrug-Weitzel: Erstens müssen wir endlich die Vorurteile überwinden und klar machen, dass PEAD keine Initiative gegen den ÖRK, sondern eine Bewegung der Hilfswerke auf ihn hin ist, um Politiken und Strategien gemeinsam zu entwickeln. Das hat es in den letzten 10 bis 15 Jahren nicht gegeben, nachdem die entsprechende Struktur innerhalb des ÖRK, nämlich die Kommission für zwischenkirchliche Hilfe, Flüchtlings- und Weltdienst (CICARWS), aufgelöst worden ist. In der hatten die Werke mit dem ÖRK strategisch zusammengearbeitet. Erforderlich ist dazu zweitens aber, dass der ÖRK die entsprechenden Möglichkeiten für solche Zusammenarbeit schafft. Drittens sind viele Partner im Süden PEAD gegenüber noch skeptisch, weil es sich um eine Initiative handelt, die vom Norden ausgegangen ist. Offensichtlich prägen noch immer alte ideologische Denkmuster die Debatte zwischen den nördlichen Hilfswerken und den Kirchen im Süden. Daraus erwächst eine ideologische Rezeption der Wirklichkeit. Wir müssen die Partner im Süden überzeugen, dass ihnen PEAD sogar mehr Chancen eröffnen kann, als bilaterale Beziehungen. Wir wollen ein partnerschaftliches Dialogforum schaffen, auf dem Politiken und Strategien gemeinsam entwickelt werden, zum Beispiel für eine bestimmte Region oder für einen Sektor wie HIV/AIDS.
der überblick: Warum macht sich Brot für die Welt für PEAD stark?
Füllkrug-Weitzel: Es ist erfreulich, dass die Anliegen der Werke vom ÖRK jetzt nicht nur aufgenommen, sondern in sehr positiver Weise auch ernst genommen werden. Der Dialog zwischen ÖRK, Mitgliedskirchen und Partnerorganisationen, der so lange gestockt hatte, ist wieder in Gang gekommen. Die Alternative wären weiterhin getrennte Wege der Werke und Kirchen beispielsweise bei der Weiterentwicklung der Methoden und Strategien. Das wäre verheerend in Zeiten der Globalisierung, die es nicht mehr erlauben, in der Kategorie von einzelnen isolierten Hilfsprojekten zu denken. Nur durch langfristige und abgestimmte Strategien und Programme kann auf vielen Ebenen Einfluss auf gesellschaftliche und politische Prozesse genommen werden. Die Rahmenbedingungen für Entwicklung können so deutlich verbessert und die Wirkung vergrößert werden. Diese Chance, den Wirkungsgrad unserer Arbeit zu vergrößern, eröffnet sich uns gerade durch den PEAD-Prozess.
der überblick: Welche Vision haben Sie für die kommenden Jahre?
Füllkrug-Weitzel: Ich wünsche mir, dass bis zum Jahr 2008 sowohl der ÖRK als auch die Mitgliedskirchen ihre Vorurteile gegenüber den Hilfswerken überwunden haben. Ebenso haben die Hilfswerke die Anliegen der Kirchen nicht nur verstanden, sondern sie nehmen sie ernst. Alle Beteiligten haben sich verändert und sind zu einer gemeinsamen Vision für ökumenische Diakonie und Entwicklungszusammenarbeit gekommen.
aus: der überblick 01/2006, Seite 90
AUTOR(EN):
Tim Kuschnerus
Tim Kuschnerus
ist evangelischer Theologe und hat neun Jahre als Referent für Menschenrechte und Ökumene im Kirchenamt der EKD in Hannover gearbeitet. Seit 2001 ist er Leiter des Referats für Weltweite Programme, Osteuropa und Nahost im Evangelischen Entwicklungsdienst (EED).