Marktwert abnehmend?
Das Bildungssystem ist, neben der Frauenförderung, eines der bevorzugten Aushängeschilder des tunesischen Staats. Aber Erfolgsrezepte - wie "höhere Abschlüsse schützen vor Arbeitslosigkeit" - lassen sich in einer globalisierten Welt nicht mehr ohne weiteres auf Länder wie Tunesien anwenden.
von Sonja Werdermann
Das Bildungssystem ist, neben der Frauenförderung, eines der bevorzugten Aushängeschilder des tunesischen Staats. Seit der Unabhängigkeit 1956 wurden kontinuierlich 15 bis 30 Prozent der Staatsausgaben für das Bildungswesen ausgegeben. Früh förderte der Staat die Breitenbildung und ermöglichte es durch ein Internatssystem auch einem Teil der Landbevölkerung, die Schule zu besuchen. Trotzdem kann in Tunesien noch immer etwa ein Drittel der Bevölkerung weder lesen noch schreiben, der Großteil davon Frauen und Menschen auf dem Land. Dies betrifft aber vor allem die älteren Generationen - denn heute liegen die Einschulungsquoten bei 98 bis 99 Prozent. Seit den achtziger Jahren sind auch die Einschreibungen an den Hochschulen in die Höhe geschnellt: Von den 20- bis 24-Jährigen studieren etwa 20 Prozent, knapp die Hälfte davon Frauen. So kann man sagen: Je jünger, desto besser ausgebildet. Zumindest mit rein quantitativen Maßstäben bewertet ist das tunesische Bildungssystem im Vergleich zu denen vieler anderer arabischer Staaten vorzeigbar.
Ein Hochschulabschluss galt in Tunesien lange Zeit als relativ sicheres Mittel des sozialen Aufstiegs. Als Tunesien unabhängig wurde, bemühte man sich, die französischen Beamten möglichst schnell durch tunesische zu ersetzen. Diese "Tunifizierung" des Staates bot vielen Einheimischen die Gelegenheit, sich durch einen Hochschulabschluss einen begehrten Arbeitsplatz in der Verwaltung zu sichern. Dementsprechend war auch das Hochschulsystem eher auf Massenausbildung ausgerichtet, denn auf die elitäre Qualifizierung für die Forschung. Die Wahl der Fächer orientierte sich dabei an den Anforderungen des öffentlichen Dienstes, nicht an denen der Wirtschaft: Besonders häufig wurden sozial- und geisteswissenschaftliche Studiengänge gewählt. Wichtiger als die Wahl des Studienfachs war es, überhaupt einen akademischen Titel zu erlangen und so am sozialen Aufstieg teilzuhaben.
Die Situation auf dem Arbeitsmarkt hat sich jedoch in den letzten Jahren verändert. Zum einen haben sich die Bedingungen innerhalb Tunesiens gewandelt: Längst sind die französischen Beamten durch tunesische ausgetauscht, die "Tunifizierung" des Staates ist vollzogen. Auch Strukturanpassungsprogramme trugen dazu bei, die Rolle des Staates als Arbeitgeber für Hochschulabsolventen zu schmälern.
Hinzu kommen veränderte internationale wirtschaftliche Rahmenbedingungen: Tunesien hat am 17. Juli 1995 als erstes Land das Assoziationsabkommen der Europäischen Union (EU) zur Schaffung einer euro-mediterranen Freihandelszone unterschrieben. Bis 2010 werden die Zölle auf europäische Importe schrittweise gesenkt, und die tunesischen Betriebe somit verstärkter Konkurrenz ausgesetzt. Tunesien erhofft sich, durch das Abkommen eine Erhöhung seiner Exporte in die EU zu erreichen. Viele tunesische und auch europäische Ökonomen sehen die Auswirkungen allerdings eher kritisch: Es wird befürchtet, dass durch das Abkommen lediglich die EU ihre Absatzmärkte vergrößern wird. Besonders Produkte aus Know-how-intensiven Branchen, wie chemische Erzeugnisse, Industrieausrüstung, Transportmittel, Metall- und Elektroindustrie werden nach Tunesien eingeführt. Ob aber die Maghreb-Länder in den Branchen, in denen sie einen Vorteil haben könnten, gleichermaßen von der Öffnung profitieren, ist fraglich. Schließlich ist die EU kaum bereit, bei landwirtschaftlichen Erzeugnissen, bei denen eine Liberalisierung den nordafrikanischen Staaten Vorteile bringen könnte, den Protektionismus aufzugeben.
Wenn überhaupt, dann liegen die Chancen Tunesiens und der anderen Maghreb-Länder im niedrig qualifizierten, arbeitsintensiven Bereich, wo sie durch ihre geringen Lohnkosten Wettbewerbsvorteile haben könnten, wie in den Branchen Textilien und Schuhe. Doch für diese Branchen braucht man keinen Hochschulabschluss: Höhere Abschlüsse verteuern in diesem Fall die Produktion nur unnötig. Dass ein höherer Abschluss dem einzelnen wirtschaftliche Vorteile bringt, mag für Industrieländer zutreffen, nicht aber uneingeschränkt für Schwellen- und Entwicklungsländer.
Betrachtet man die Entwicklung der Arbeitslosenzahlen für Tunesien nach Alter aufgeschlüsselt, so wird klar, dass ein höherer Abschluss dort eben kein Garant für eine Anstellung ist. Es sind gerade die jüngeren, besser ausgebildeten Menschen, die in den letzten Jahren keine Arbeit fanden, und nicht die älteren, weniger gebildeten Arbeitskräfte, welche die Unternehmen weniger kosten.
In den Köpfen der Leute ist jedoch die Vorstellung, dass ein Studium der Türöffner für die Karriere sei, noch ziemlich fest verankert. Das liegt zum Teil auch daran, dass Akademikerarbeitslosigkeit in dem Land, in dem die Meinungsfreiheit ohnehin stark eingeschränkt ist, kaum ein öffentlich diskutiertes Thema ist. Für Abiturienten gilt eine Berufausbildung nach wie vor eher als Notlösung für Schulabbrecher und andere "Gescheiterte" denn als ernstzunehmende Alternative zum Studium.
Wirtschafts- und Bildungspolitik geraten somit zunehmend in einen Widerspruch. Langfristig stellt sich daher die Frage nach der Bedeutung der höheren Bildung: Will man Bildung als Selbstzweck konzipieren, oder als wirtschaftliche Investition in Humankapital? Welches Ziel strebt man mit weiterführender Bildung an? Ein idealistisches wie die Formung des Charakters oder wie einst die Legitimation des jungen Staates nach der Unabhängigkeit? Oder aber ein pragmatischeres wie die Vorbereitung auf den Beruf und die Erleichterung der wirtschaftlichen Eingliederung? Diese Fragen stellen sich, durch eine sich global verändernde Wirtschaftsstruktur, immer wieder neu.
Geht man davon aus, dass regionale Unterschiede in der Wirtschaftsstruktur in Zukunft eher zu- statt abnehmen werden, dann wird schnell klar, dass sich Erfolgsrezepte - wie "höhere Abschlüsse schützen vor Arbeitslosigkeit" - in einer globalisierten Welt nicht mehr ohne weiteres auf Länder in anderen Regionen übertragen lassen. Ginge man dabei nach rein wirtschaftlichen Gesichtspunkten, so würde für den Fall Tunesiens einiges für einen stärkeren Ausbau der Berufsausbildung, als für die Förderung der Hochschulbildung sprechen. Doch ein einseitig nach wirtschaftlichen Kriterien ausgerichtetes Bildungssystem bringt auch Gefahren mit sich.
aus: der überblick 01/2003, Seite 9
AUTOR(EN):
Sonja Werdermann:
Sonja Werdermann ist Hospitantin beim "überblick".