Carmina Navia Velasco ist eine Vorkämpferin der Frauenbildung im Stadtteil
Nicht betteln, sondern fordern ist ein Motto von Carmiña Navia Velasco. Die streitbare Literaturprofessorin setzt sich für die Rechte der Frauen im patriarchalischen Kolumbien ein – nicht in der Politik, sondern in ihrem Stadtteil. Die Literatur- und Frauenclubs, die sie mit ins Leben gerufen hat, tragen Früchte.
von Knut Henkel
Mit einem breiten Lächeln erscheint María Asunción an der stählernen Gittertür des Kulturzentrums Meléndez. Schwungvoll öffnet die 62-jährige die lästige Gittertür, die vor Einbrechern und ungebetenen Gästen schützen soll, und gibt den Weg in das vor über 30 Jahren gegründete Kulturzentrum frei. "Carmiña und eine Handvoll christlicher Laien haben damals begonnen, mit den Leuten aus dem Stadtviertel zu arbeiten", erklärt die quirlige Frau und schiebt noch ein "vor allem mit den Frauen und Kindern" hinterher.
Carmiña Navia Velasco ist bis heute die Direktorin des Zentrums. Die 59-jährige Frau mit den dunkelblonden kurzen Haaren tritt ruhig und bedächtig auf. Nahezu ihre gesamte Freizeit verbringt sie im Zentrum Meléndez, das von "Brot für die Welt" unterstützt wird, und nutzt manchmal auch dessen umfangreiche Bibliothek.
Das Zentrum liegt im Süden Calis, in der Comuna 18. Zu dem relativ armen Distrikt gehören insgesamt 19 Stadtviertel, die so genannten barrios. Cali ist genau wie Kolumbiens Hauptstadt Bogotá und die zweitgrößte Metropole Medellín von einem Gürtel ständig wachsender Armenviertel umgeben. Von den 19 Vierteln der Comuna 18 sind eine gute Handvoll erst in den letzten 15 Jahren entstanden. In einem lebt Carmiña Navia Velasco – gleich um die Ecke vom wuchtigen Backsteinbau des Centro Cultural Popular Meléndez. "Als wir mit unserer Arbeit anfingen, stand oben auf dem Berg noch kein einziges Haus", erzählt die landesweit bekannte Feministin.
Heute kommen viele der Frauen, die in barrios wie Alto Jordán, Prados del Sur oder Polvorines leben, in den Literaturkurs für Frauen. "Einmal pro Woche lesen zwischen zwanzig und dreißig Frauen literarische Texte gemeinsam mit Carmiña", erklärt Schwester María Asunción, die von Beginn an im Zentrum mitarbeitet. Moderne Literatur von Frauen für Frauen wird gemeinsam gelesen, besprochen und ausgewertet. Schriften von Patricia Lara, Gloria Cuartas oder der nicaraguanischen Schriftstellerin Gioconda Belli stehen derzeit auf dem Programm. "Sie sind nicht nur schön zu lesen, sondern werden auch heiß diskutiert", freut sich Carmiña. Natürlich schlägt die Literaturprofessorin der Universität Cali die Texte vor, unter denen die Teilnehmerinnen auswählen. Oft sind es politische Texte, die sich aus der Perspektive von Frauen mit der Situation in Kolumbien auseinandersetzen.
Gloria Cuartas, die ehemalige Bürgermeisterin von Apartadó, zählt zu den progressiven Autorinnen, die schon das Kulturzentrum Meléndez besucht haben. Die Politikerin, die sich für Frieden und Selbstbestimmung einsetzt, gehört zu den Freundinnen von Carmiña. Gleiches gilt für die bekannte Journalistin Patricia Lara, die im letzten Jahr als Kandidatin für die Vizepräsidentschaft des linken Sammelbeckens Polo Democratico antrat (der rechtsgerichtete Präsident Uribe wurde jedoch wiedergewählt). In ihren Büchern schildert sie die Situation der Frauen im Krieg und wirbt für Verständigung und ein Ende der überaus brutal geführten Kämpfe in Kolumbien.
Dafür tritt auch Carmiña Navia ein. Doch im Mittelpunkt ihrer Arbeit steht weniger die Politik, eher die Vermittlung von Werten wie Solidarität sowie die Bildung. "Wir machen den Frauen hier das Angebot, dazuzulernen. Viele haben nur wenige Jahre die Schule besucht. Hier können sie neu starten, sich austauschen und etwas über ihre Rechte als Frauen lernen", sagt sie mit leiser Stimme. "Bildung ist das A und O, damit sich die Frauen ihrer Rechte bewusst werden."
Carmiña stammt aus bürgerlichen Verhältnissen; sie ist im gut situierten Norden Calis aufgewachsen. Ihr Vater, ein Anwalt, gehörte der konservativen Partei an, während ihre Mutter sich um die fünf Kinder kümmerte. Mit dieser traditionellen Rollenverteilung konnte ihre streitbare Tochter nichts anfangen. Carmiña trat dem katholischen Javeriana-Orden bei, der auf die Jesuiten- Mission zurückgeht und Schulen sowie die Universität in Bogotá unterhält. Carmiña gehört zur Javeriana-Frauengemeinschaft in Cali, lebt für die Wissenschaft und engagiert sich für die Rechte der Frau.
Das Centro Meléndez ist ein Refugium für Frauen und ihre Kinder, obgleich Männern der Zutritt nicht verwehrt wird. "Doch die kommen höchstens zur Rechtsberatung oder holen ihre Frauen ab", sagt María Asunción lachend. Die anderen Angebote, ob psychologische Beratung, Tanz-, Theater-, Lese- oder Bastelseminare, nehmen sie genauso wenig wahr wie die Bibelstunde. "Wir sind einem modernen christlichen Weltbild mit starken befreiungstheologischen Zügen verpflichtet", erklärt Schwester María Asunción. Dabei wird auch die Rolle der Frau in der Religion kritisch hinterfragt.
Das ist ein Lieblingsthema der Direktorin Carmiña. Seit Jahren forscht sie zur Rolle der Geschlechter in Religion und Literatur der kolumbianischer Gesellschaft. Ein unbequemes Thema, wie sie schulterzuckend zugibt. "Ich habe viele Hürden überwinden müssen, allerdings weniger an der Universität und mehr in der Kirche", sagt die Nonne mit einem zurückhaltenden Lächeln. Der von Carmiña verfolgte "Ausbruch aus dem Gefängnis der Ungleichheit" ist ein Langzeitprojekt.
Mit der Gleichberechtigung ist es nicht weit her in Kolumbien. In den Bürgerkriegsregionen wird systematisch vergewaltigt, nur ein Bruchteil der Fälle wird angezeigt, berichten Menschenrechtsorganisationen . In den ländlichen Regionen gehen die Mädchen oft nur wenige Jahre zur Schule, so dass der Bildungsstand der Frauen im Schnitt niedriger ist. In den Großstädten schlägt sich das vor allem in den Flüchtlingsvierteln nieder. Schwangerschaften von Zwölfjährigen sind dort nicht selten. Gewalt in der Familie, Alkoholismus und auch Missbrauch sind klassische Probleme in den Armenvierteln. Viele der Frauen vom Centro Meléndez sind alleinerziehende Mütter, weil die Männer die Familie verlassen und sich oft wenig für die Kinder verantwortlich fühlen. Dieses Phänomen ist in allen Landesteilen Kolumbiens anzutreffen und eng mit dem machismo im Land verknüpft.
Dagegen kämpfen Carmiña Navia Velasco und die Frauen vom Centro Meléndez durchaus erfolgreich: In vielen barrios der Comuna 18 weht ein frischer Wind. "Männer, die ihre Frauen schlagen, sie als Besitz betrachten und kaum vor die Tür lassen, gibt es kaum mehr", sagt Concepción Sánchez. Die 64-jährige lebt seit 35 Jahren im Viertel und jeder in Alto Jordán kennt die resolute Frau. Gemeinsam mit ihren Freundinnen ist sie bei gewalttätigen Männern aufgetaucht und hat sie zur Rede gestellt. Die Einigkeit der Frauen hat Eindruck gemacht und neue Freiräume geschaffen. So treffen sich etwa zwei Dutzend Frauen jeden Mittwoch in dem kleinen Gemeindehaus von Alto Jordán. Sie lesen, tauschen sich aus, machen Handarbeiten, bereiten aber auch Protestmärsche zum internationalen Tag der Frau oder zum internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen vor. "Das Selbstwertgefühl vieler Frauen ist spürbar gestiegen", resümiert Daisis, die im Centro Meléndez "quasi aufgewachsen" ist und heute als Sekretärin arbeitet.
Carmiña nickt zustimmend. Die Saat ist aufgegangen. Doch es bleibt noch viel zu tun und so wirkt Carmiña bei der Organisation von Frauen mit ihren guten Kontakten immer wieder als Katalysator. Das Centro Meléndez hat etwa über Gloria Cuartas Kontakt zu mehreren Friedensgemeinden, die versuchen, sich durch strikte Neutralität dem Bürgerkrieg zu entziehen. Und natürlich sind die Frauen des Zentrums Teil der Frauenbewegung in Cali. Einige engagieren sich auch in der Ruta Pacifica, einer pazifistischen Frauenbewegung, die sich für eine friedliche Lösung des Bürgerkrieges in Kolumbien einsetzt. Der landesweiten Bewegung gehören 315 Frauenorganisationen an. Eine Reihe Frauen aus der Comuna 18 ist im letzten Jahr mit der Ruta Pacifica in den Chocó im Nordenwesten Kolumbiens gefahren, um in der von Angriffen der Paramiltärs geplagten Region Friedensgemeinden zu unterstützen.
"Die Frauen in Kolumbien organisieren sich mehr und mehr. Aber um in der Politik gehört zu werden, müssen sie nach wie vor hart kämpfen", sagt Carmiña. Man müsse nur die amtierende Regierung anschauen. "Frauen spielen da nur eine untergeordnete Rolle und die Geschlechterfrage wird unter Präsident Álvaro Uribe doch kaum mehr gestellt", kritisiert Carmiña und fährt sich mit der linken Hand durch die kurzen Haare. Ihre blauen Augen blitzen kämpferisch. Von der amtierenden Regierung hält die Professorin nichts.
Die Literaturprofessorin ist für ihre Arbeit in der Comuna 18 als "erfolgreiche Frau" ausgezeichnet worden. Wichtiger ist der streitbaren Feministin jedoch der Literaturpreis der Casa de las Americas in Havanna. Den hat sie 2004 für ihre literarische Arbeit über die Rolle der Frau zwischen Krieg und Frieden in Kolumbien erhalten. In das Buch flossen viele Erfahrungen ein, die sie im Centro Meléndez mit Frauen wie Concepción gemacht hatte. "Diese Frauen liefern immer neue Motivation für unsere Arbeit im Zentrum" , erklärt Carmiña. Dann steht sie auf, verabschiedet sich und geht durch die Schiebetür aus dem Büro in ihre angrenzende Privatwohnung. Der Literaturkurs am Abend muss noch vorbereitet werden.
aus: der überblick 01/2007, Seite 158
AUTOR(EN):
Knut Henkel
Knut Henkel ist freier Journalist in Hamburg
mit Schwerpunkt Lateinamerika.